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Doc saß fast zwei Stunden lang regungslos und überlegte. Dann stand er auf und sah nach der Frau. Ihr Puls ging kräftiger als vorher, aber ihr Atem rasselte. „Lungenentzündung“ konstatierte er und gab eine entsprechende Menge Antibiotikum in das abgekochte Wasser. Vorsichtig flößte er es der Frau ein. Dann legte er sie wieder zurück. Er hatte einen Teil der Kleidungsstücke unter ihren Kopf und Rücken gepackt, damit sie besser Luft bekam. Letztendlich war das jedoch keine Lösung. Sie brauchte ein vernünftiges Lager, ein festes Dach über dem Kopf, und warme Mahlzeiten – und vor allen Dingen sauberes Wasser. Am einfachsten wäre es, sie bei Elisabeth unterzubringen, nur wie sollte er sie dahin transportieren? Wenn er einen Fahrradanhänger hätte…dachte er. Natürlich konnte er auch in Wedel fragen, ob jemand die Frau im Auto transportieren würde, aber es widerstrebte ihm, ihr Vorhandensein preiszugeben, so lange er die Umstände ihres Unfalls oder was immer es gewesen sein mochte, nicht kannte.

Langsam formte sich in seinem Kopf ein Plan, und als Zorro verschlafen aus dem Container kam, um am Ufer seine Notdurft zu verrichten, wusste er plötzlich, was er tun musste.

„Komm mal rüber“, rief er Zorro zu, als dieser sich wieder seinem Container zuwandte.

Zorro schlurfte heran. „Was is’n?“

„Ich schlage dir einen Deal vor: Du bekommst meinen Container, wenn du mir einen Fahrradanhänger besorgst.“

„Was hast’n vor?“

„Ich ziehe um.“

„Aha“.

Und nach einer längeren Pause. „Geht klar. Ich weck Otto. Was is’n sonst noch drin?“

„Kommt drauf an, wie schnell du wieder hier bist.“

Zorro lachte. „Hey, das is mal wieder was, das die grauen Zellen fordert. Ich hab auch schon nen Plan. Aber nen Zwanni musste schon noch drauflegen.“

„Wie schon gesagt, kommt darauf an, wie schnell ihr seid“.

Eine knappe Stunde später zogen beide in Richtung Landstraße. Irgendein Lastauto kam immer mal vorbei, das einen mit nach Hamburg nahm.

Doc nutzte die Zeit und packte alles, was er mitzunehmen gedachte, zusammen und verschnürte die beiden Bündel. Dann versorgte er die Frau erneut mit Medikamenten. Sie hatte Fieber, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er betrachtete sie eingehend. Sie war trotz ihrer Blessuren gepflegt, hatte kurze Fingernägel, glatt gezupfte Brauen, lackierte Fußnägel. Auch ihre Kleidung, die zwar arg ramponiert war, hatte eine gute Qualität. Nichts aus dem Billig-Shop.

„Wenn alles gut geht, bist du heute Abend schon, mit einem heißen Tee im Magen und nach einer gründlichen Wäsche in einem ordentlichen Badezimmer, in einem vernünftigen Bett,“ sagte er zu ihr, wohl wissend, dass sie keines seiner Worte hörte.

Als er sich vergewissert hatte, dass sie schlief und richtig gelagert war, bestieg er das Fahrrad und fuhr nach Wedel.

Elisabeth war wach, als er die Tür aufschloss.

„Klaus, bist du das?“ fragte sie.

Und er gab „ja, Mama“ zur Antwort.

Als er Elisabeth das erste Mal gesehen hatte, war sie nicht vollständig dement gewesen. Die Vergangenheit war in ihr noch sehr lebendig. So erzählte sie ihm, dass sie früher einen landwirtschaftlichen Betrieb hatten, den der Sohn aber nicht übernehmen wollte. Deshalb hatten ihr Mann und sie den Hof verkauft und sich in das Häuschen zurückgezogen, das zu besseren Zeiten von einem Landwirtschaftshelfer und seiner Frau bewohnt worden war. Ihr gemeinsamer Sohn Klaus hatte in einer Autowerkstatt eine Lehre gemacht und nach der Ausbildung eine Anstellung in einer größeren Werkstatt in Hamburg gefunden, die auch ein paar sehr reiche Kunden und deren Wagen betreute. Einer dieser Kunden hatte Klaus gefragt, ob er für ihn als Fahrer arbeiten wolle. Klaus hatte angenommen, und war nur noch selten bei seinen Eltern zu Besuch gewesen. In den 80er Jahren – an das genaue Datum – konnte er sich rückblickend nicht mehr erinnern – wurden Klaus und sein Arbeitgeber im Auto erschossen. Man sprach von Bandenkrieg, von Mafia, von Konkurrenten, aber gefunden hatte man den oder die Täter nie.

Knapp 10 Jahre später war auch Elisabeths Ehemann verstorben. Danach war sie allein in dem Häuschen geblieben. Sie bekam eine kleine Rente, die sie damals noch selbst abholen konnte. Seit ihr geistiger Zustand sich verschlechtert hatte, hatte Doc das übernommen, schrieb aber immer peinlich genau auf, was er für ihren Bedarf ausgab. Von ihrem Geld hatte er bisher für sich nichts angerührt, lediglich an den Lebensmitteln, die er für sie einkaufte, partizipierte er zuweilen.

Und im Laufe der Zeit hatte Elisabeth es sich in den Kopf gesetzt, dass er ihr Sohn Klaus sei. Sie war immer glücklich, wenn er kam, und Doc hatte nicht das Herz, ihr dieses bisschen Freude zu nehmen.

Sie saß auf der Couch und hatte sich wieder falsch angezogen. Er führte sie behutsam ins Badezimmer und sagte: „Mama, du musst heute baden, und deine Haare müssen wir auch waschen und schneiden.“

Sie sah ihn aus wässrigen Augen an: „Aber du musst mir helfen.“

Nach dem Bad und dem Haarschnitt, den er ihr, so gut es ihm möglich war, verpasst hatte, sagte er:

„Heute am späten Abend komme ich wieder hierher. Ich ziehe bei dir ein, dann bist du nicht so allein, und ich kann besser für dich sorgen. Ist dir das Recht?“

Sie nickte. „Du hast doch dein Zimmer oben, wieso willst du denn einziehen? Du wohnst doch hier.“

Er streichelte ihr über die Wange. „Ich koche dir Essen, danach gehe ich wieder. Aber ab morgen bin ich immer hier.“

Sie hatte ihn nicht mehr gehört. Ihr Geist war wieder auf Wanderschaft gegangen.

Was geschah mit Marion?

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