Читать книгу Was geschah mit Marion? - Suca Elles - Страница 8

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Der Mann mit den langen grauen Haaren stutzte, als er das Bündel halb im Wasser liegen sah. Dass es sich nicht um Altkleider handelte, war ihm sofort klar. Langsam näherte er sich, kniete nieder und legte seine zitternden Finger an die Halsschlagader der Frau. Nur ganz schwach vernahm er ein unregelmäßiges Pochen. Er stand auf und sah sich um. In der Nähe der beiden alten Container, die er und zwei andere Nichtsesshafte bewohnen, sah er eine Gestalt am Boden sitzen und rauchen. Er stieß einen gellenden Pfiff aus, worauf die Person sich erhob und zu ihm herübersah. Er winkte. Langsam setzte sich der Mann in Bewegung. Auch er hatte ungepflegte lange graue Haare, die er zu einem Knoten am Hinterkopf festgesteckt hatte. Als er auf Rufweite herangekommen war, sagte der erste Mann:

„Hier liegt eine Frau, mehr tot als lebendig. Wir müssen Sie zu unseren „Villen“ bringen. „ Such Strandgut, das mindestens einen Meter lang ist, und komm so schnell wie möglich zurück, hörst du?“

„Ja, Doc“ sagte der andere Mann.

„Nun mach schon, Otto, wenn sie hier stirbt, haben wir die Bullen am Hals. Willst du das?“

„Nee, schon gut“.

Otto rannte am Ufer entlang und bückte sich mehrmals, ohne aber das Gewünschte zu finden. Der, den er Doc genannt hatte, fühlte die Haut an den Armen der Frau. „Unterkühlt“ murmelte er. Er betastete die Gliedmaßen, konnte aber keinen Bruch feststellen. Zuletzt sah er sich den Schädel an. Dort fanden sich zwei riesige Hämatome, die Schwellung reichte bis zur Stirn und um die Augen herum. „Brillenhämatom“ murmelte er.

Er suchte mit den Augen nach Otto und sah, dass der sich bereits auf dem Rückweg befand. Und zwei lange Äste hinter sich herzog.

Geschickt fertigte „Doc“ aus seinem Mantel und den beiden Ästen eine Behelfstrage. Vorsichtig bettete er die Frau darauf, und gemeinsam zogen sie die Verletzte zu den Containern. Dort angekommen legte er die Frau auf seine Matratze und wickelte sie in alle verfügbaren Kleidungsstücke und in die alte Decke, die er als Schutz gegen die Winterkälte besaß. Dann entfachte er draußen ein Feuer, kochte Wasser aus dem Fluss ab und fügte eine Hand voll Kräuter, die er im Marschland gefunden hatte, hinzu. Löffelweise flößte er der Frau die Flüssigkeit ein. Er massierte ihre Handgelenke, prüfte immer wieder ihre Lider, bis sie plötzlich von einem Hustenreiz geschüttelt wurde. Sie verzog dabei schmerzhaft das Gesicht. Eine Weile später, Doc hatte ihr fast eine ganze Tasse des Gebräus eingeflößt, begannen ihre Lider zu zittern. Sie öffnete die Augen, konnte ihren Blick jedoch nicht fokussieren. Dies geschah in der nächsten halben Stunde noch öfter. Doc überprüfte immer wieder den Puls.

Als von draußen Stimmen zu ihm drangen, ging er vor die Tür. Dort standen Otto und sein Mitbewohner, der von Allen Zorro genannt wurde, wegen seines schwarzen Hutes, des schwarzen Halstuchs und einer ebensolchen Weste. Auf seinem Rücken hing seine Gitarre.

„Stimmt es, Doc, du hast ne Frau gefunden?“ fragte er

Doc nickte. „Ob sie durchkommt, kann ich noch nicht sagen, aber sie hat zumindest schon ein paarmal die Augen geöffnet.“

„Kann ich sie mal sehen?“ fragte Zorro.

Doc öffnete die Tür für Zorro, und dieser kniete sich vor das Lager und betrachtete das Gesicht der Frau eingehend.

„Nie gesehen“ sagte er. „Weder aufm Strich noch auf der Rolle…und wat jetz?“

„Wir müssen abwarten“ sagte Doc. „Mehr kann ich momentan nicht tun.“

„Ich hau mich hin, war die ganze Nacht auf den Beinen“ sagte Zorro und verschwand im anderen Container, vor dem Otto mit einer angebrochenen Flasche Fusel saß.

„Komm rüber Doc, frühstücken“ rief er, aber zu seinem Erstaunen schüttelte Doc den Kopf.

„Jetzt nicht“ sagte er und machte noch einmal sein Kräutergebräu, das er diesmal auch selbst trank. Er suchte nach etwas Essbarem und fand einen Kanten Brot, der zwar hart, aber eingeweicht in den „Tee“ durchaus genießbar war, und den ersten Hunger stillte.

In einer Ecke des Containers kramte er in einer fadenscheinigen Tasche nach ein wenig Bargeld und Tabak. Dabei fand er eine noch fast volle Flasche Wein.

Im Gegensatz zu seinen beiden „Kumpels“ trank er keinen Schnaps. Und immer nur gerade so viel, dass es zum Vergessen reichte, nicht aber zu einem totalen blackout führte. Er wusste, dass er eines Tages die Kontrolle über den Alkohol verlieren würde, aber noch war es nicht so weit….

Doc, dessen eigentlichen Namen niemand zu kennen schien, war vor mehr als einem Jahr in Hamburg gestrandet. Dort hatte er Otto gefunden, der in einer Hintergasse auf Sankt Pauli zusammengeschlagen worden war. Er hatte ihn versorgt und sehr schnell festgestellt, dass Ottos geistige Fähigkeiten begrenzt waren. Ohne eine Ausbildung und mit nur wenigen Jahren Schulbildung, hatte Otto eine Zeit lang für einen Hungerlohn im Hafen gearbeitet. Dann, als er lieber trank, als aß, verlor er auch diesen Job und war zum Stadtstreicher geworden. Irgendwann hatte er sich mit den falschen Leuten angelegt, und die hatten ihm eine ordentliche Abreibung verpasst.

Da für Otto das Pflaster auf Sankt Pauli zu heiß wurde, und Doc vom Nachtleben, das geprägt war von Alkohol, Sex und Gewalt, die Nase voll hatte, zogen beide Richtung Wedel. Dort fanden Sie eines Tages an der Grenze zum Marschland zwei angeschwemmte Container, voll mit alten Kleidern. Auf Docs Initiative hin sortierten sie aus, was sie selbst brauchen oder verscherbeln konnten, säuberten die Container so gut es ging und richteten sich „wohnlich“ ein. Von einem seine Streifzüge nach Pfandflaschen brachte Otto Zorro mit, der als Straßenmusikant sein Dasein fristete. Er bewohnte eine schäbige Kammer in einem schäbigen Haus, in dem es nach altem Fett, ungewaschenen Körpern und noch Ekligerem roch. Er erkaufte sich ein gelegentliches Wohnrecht im Container durch den Fusel, den er Otto mitbrachte und vermietete seine Bleibe gegen Vorkasse stundenweise an Leute mit dem entsprechenden Bedarf. Über seine privaten Verhältnisse hatte Zorro nie gesprochen, genauso wenig wie Doc, doch jeder wusste vom anderen, dass er eine gewisse Bildung besaß. Sie vertrugen sich und lebten ihr eigenes Leben.

Als wertvollsten Schatz besaßen die drei ein altes Fahrrad, das eines Tages angeschwemmt worden war. Sie richteten es so weit her, dass man darauf fahren konnte, und jeder nahm es, wenn er schnell nach Wedel oder zur Bahnlinie musste.

Doc rief nach Otto, sah aber ein, dass er ihn nicht damit betrauen konnte, auf die Frau aufzupassen, da Ottos Alkoholpegel schon am oberen Rand dümpelte. Er verschloss den Container, schwang er sich aufs Rad und fuhr nach Wedel.

Am äußeren jenseitigen Stadtrand, abseits von der Straße, stand ein kleines Häuschen. Davor stieg er ab, holte den Schlüssel aus einem Blumentopf, der unter dem Gesträuch vor dem Haus versteckt war, und betrat das Haus. In der Wohnstube lag Elisabeth auf dem Sofa und schlief. Doc beugte sich über sie und fühlte ihren Puls. Dann ging er in die Küche, blickte in den alten Kühlschrank, dessen Kühlung laut und deutlich schnurrte. Mit dem, was er sah, war er zufrieden. Auf der Spüle stand ein benutzter Teller. Gut so. Er lief die Treppe hoch, wo sich neben einem Schlafzimmer, das früher vom Sohn der alten Dame bewohnt worden war, noch ein weiterer Raum, in dem ein paar alte Möbel standen, befand. Unter der Kommode zog er eine Kiste hervor und öffnete sie. Aus dem Umschlag, der sich darin befand, nahm er ein paar Geldscheine. Dann verstaute er alles wieder und ging nach unten. Er verschloss die Tür sorgfältig und versteckte den Schlüssel an seinem Platz. Dann fuhr er zurück nach Wedel. Vor der Apotheke hielt er an und trat ein.

Die Apothekerin lachte ihn an. „Na was brauchen wir denn heute?“ fragte sie.

Doc sagte es ihr und sie stutzte. „Betreuen Sie noch mehr Leute? Für die alte Elisabeth ist das doch wohl nicht?“

Er schüttelte mit dem Kopf. „Richtig, ich kümmere mich noch um ein paar Leute mehr.“

Die Frau packte die gewünschten Sachen in eine Tüte und sagte: „Ich habe ihnen noch ein Paket Monatsbinden mit hinein getan. Die sind heute so gut wie gar nicht mehr gefragt.“ Doc bedankte sich und fragte: „Kann ich die Sachen noch kurz bei Ihnen lassen, ich muss noch in den Supermarkt.“

„Klar, kaufen Sie in Ruhe ein, ich bin noch bis halb Eins hier.“

Im Supermarkt wählte Doc bedächtig einige Lebensmittel aus und blieb vor dem Weinregal stehen. Seine bevorzugte Marke stand ganz unten. Er überlegte. Dann drehte er sich um, ohne eine Flasche genommen zu haben, und ging zur Kasse.

In der „Villa“ war bei seiner Rückkehr alles unverändert. Er verstaute seine Einkäufe und sah nach Otto, der eingerollt wie eine Katze vor dem anderen Container schlief, aus dem laute Schnarchlaute drangen.

Er kochte wieder Wasser ab und tat in einen Blechbecher, dessen Emailschicht abgeblättert war, und der jede Menge Beulen aufwies, etwas von dem Pulverkaffee, den er gekauft hatte. Dann setzte er sich auf die Schwelle seines Containers und dachte nach.

Was geschah mit Marion?

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