Читать книгу Was geschah mit Marion? - Suca Elles - Страница 6
ОглавлениеKai saß noch nicht lange in seinem Büro, als Enno, der Personalchef, den Kopf durch die Tür steckte.
„Da ist eine Frau, fast noch ein Mädchen, die mit dir sprechen will“ sagte er. „Hast du Zeit?“
Kai nickte. „Wer ist es denn?“ fragte er „Jemand vom Personal?“
„Nein, niemand von uns, aber sie hat explizit nach dir gefragt.“
„Schick sie herein“ sagte Kai.
Wenig später klopfte es zaghaft an der Tür, und eine Frau betrat das Büro. Sie schien sehr jung, möglicherweise noch nicht einmal volljährig zu sein.
Kai ging ihr entgegen und reichte ihr die Hand. „Kai Lichterfeld“ stellte er sich vor. „Rena Somsen“ antwortete sie und ergriff seine Hand mit festem Druck.
„Was kann ich für Sie tun? Herr Speltmann sagte, Sie wollten zu mir. Kennen wir uns denn?“
Rena schüttelte den Kopf. „Nein, mich kennen Sie nicht, aber meine Mutter. Sie haben ihr vor ein paar Jahren sehr geholfen und jetzt brauche ich Ihre Hilfe.“
Kai überlegte kurz dann sagte er: „Möglicherweise liegt hier ein Missverständnis vor. Ich kenne niemanden, der Somsen heißt.“
„Oh, Entschuldigung. Meine Mutter heißt Berkhof“ sagte Rena.
Kai nickte. „Frau Berkhof kenne ich natürlich“ Er lächelte Rena an. „Nehmen Sie doch Platz. Möchten sie Kaffee oder Wasser?“
Nachdem Kai der jungen Frau den gewünschten Kaffee serviert hatte, sah er sie aufmunternd an: „Also, was kann ich für Sie tun?“
„Meine Mutter ist verschwunden“ platzte Rena heraus. „Seit vorgestern Abend. Ich mache mir Sorgen“.
„Erzählen Sie bitte der Reihe nach“ bat er. Rena nickte und fuhr fort:
„Ich studiere in Bochum, verbringe aber die Semesterferien immer bei meiner Mutter. Weil ich am Freitag noch eine Klausur abgeben musste, bin ich erst am Samstag mit dem Zug gefahren. Meine Mutter wollte mich eigentlich am Bahnhof abholen, war aber nicht da, als ich ankam. Daraufhin habe ich sie auf dem Handy angerufen, aber nur die Mailbox erreicht. Ich habe noch ein Weilchen gewartet und bin dann mit dem Bus nach Hause gefahren. In der Wohnung war sie auch nicht. Ich habe den ganzen Abend gewartet und bin dann auf der Couch eingeschlafen. Am nächsten Morgen, also gestern, habe ich ihre Freundinnen, soweit sie mir bekannt sind, angerufen. Aber keine konnte mir sagen, wo sie ist. Meine Mutter geht schon einmal spontan aus, sie feiert halt gern. Aber für gewöhnlich ruft sie mich entweder an, oder sie legt einen Zettel auf den Tisch. Ich habe dann Angst bekommen, und am Mittag bin ich zur Polizei gegangen. Dort hat man mir gesagt, dass ich erst nach 48 Stunden eine Vermisstenanzeige aufgeben kann. Na, und dann fiel mir ein, dass sie oft von Ihnen gesprochen hat…und ich dachte..“ Sie stockte. „Vielleicht können Sie mir helfen, sie zu finden?“
Kai sah Rena an. Vor seinem inneren Auge formte sich ein Bild. Eine Enddreißigerin, attraktiv, schlank, mit dunklen Haaren und Brauen. Unter dem rechten Auge ein Veilchen, das Jochbein geschwollen, eine bereits geklammerte Platzwunde über der Braue und eine geschwollene Oberlippe, so kam sie vor einigen Jahren in sein Büro. Ihr damaliger Ehemann, der unter Alkoholeinfluss gewalttätig wurde, war der Verursacher der Verletzungen gewesen.
„Ich bin Psychologe und kein Detektiv“, sagte Kai. „Aber ich kenne ein paar Leute, die Ihnen vielleicht helfen können. Fahren Sie jetzt bitte wieder nach Hause. Geben Sie mir ihre Handy-Nummer, damit ich Sie erreichen kann, falls ich etwas in Erfahrung bringe. Und hier ist meine Karte, falls Sie mich erreichen wollen“, und nach kurze Pause fügte er hinzu: „Egal um welche Uhrzeit.“
„Und was geschieht jetzt?“ fragte Rena.
„Ich führe einige Telefonate. Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen. Vermutlich gibt es für die Abwesenheit Ihrer Mutter ein harmlose Erklärung.“ Er nickte Rena freundlich zu und reichte ihr die Hand zum Abschied.
Als er wieder allein in seinem Büro war, trommelte er mit den Fingern auf die Tischplatte. Dies tat er immer, wenn er nachdachte. Dann rief er Enno an.
„Sag mal, ist euch aufgefallen, dass Frau Berkhof heute nicht da ist?“
„Wieso fragst du?“ Kai fiel ein, dass Enno die Zusammenhänge nicht wissen konnte und sagte: „Erzähl ich dir später. Wie ist es nun? Hat jemand ihr Fehlen bemerkt?“
Enno tippte auf seinem PC herum. „Ne“ sagte er dann, „kann keiner bemerkt haben, sie hat nämlich ab heute Urlaub.“
„Danke“ antwortete Kai „bis später“.
Von seinem privaten Handy aus wählte er eine Nummer. Eine Männerstimme meldete sich:
„Was gibt’s? Ich bin gerade an einem Tatort. Ist es wichtig?“
„Sag mir nicht, ihr habt eine Frauenleiche gefunden!“
„Doch…. wie kommst du darauf?“
„Ca. 172 groß, schlank, dunkelhaarig?“
„Falsch! Kleiner, dicker, hell.“
„Ok. Ruf mich zurück, sobald du kannst. Ich brauche deine Hilfe“
„Mach ich…und warte nicht mit dem Essen auf mich. Wird spät heute.“
Die Verbindung war unterbrochen.
Kai arbeitete seit 8 Jahren als Betriebspsychologe in dem Konzern und hatte darüber hinaus die soziale Verantwortung für die über 800 Angestellten und Arbeiter. Von Drogenmissbrauch über häusliche Gewalt, ungewollte Schwangerschaften, Trunkenheit am Arbeitsplatz, Nervenzusammenbrüchen bis hin zu Burnouts, alles fiel in seinen Verantwortungsbereich. Daneben war er bei Einstellungsgespräche gefragt, führte Entspannungsseminare durch und vermittelte bei Bedarf das Personal an Sportvereine oder Fitnesseinrichtungen.
Als nächstes rief Kai eine Dienststelle der Schutzpolizei an. Nachdem er weiter verbunden worden war, meldete sich eine Frau. Bevor sie noch ihr „was kann ich für Sie tun?“ aussprechen konnte, hatte er sie bereits unterbrochen: „Sina, hier ist Kai. Kannst du mir einen Gefallen tun und feststellen, ob in den letzten 36 Stunden eine Frau, Ende dreißig, dunkelhaarig, schlank und mittelgroß in eines der Krankenhäuser eingeliefert wurde, vermutlich ohne Bewusstsein oder nicht in der Lage ihr Handy oder ein Telefon zu bedienen. Eigentlich wollte ich deinen Bruder mit dieser Aufgabe betrauen, aber der hält sich gerade an einem Tatort auf und hat keine Zeit.“
„Haben wir eine Vermisstenmeldung vorliegen?“
„Nein, die 48 Stunden sind noch nicht um.“
„Ich schaue, was ich tun kann“ sagte Sina ein wenig zögerlich. „Es dauert aber etwas. Ich rufe dich zurück. Soll ich auch im Gewahrsam nachfragen?“
„Ja, sicher ist sicher.“
„Ok. bis dann“.
Es war bereits Mittag, als Kais privates Handy läutete. „Jan Köller“ sagte die Stimme am anderen Ende. „Womit kann ich dem Herrn Psychologen behilflich sein?“
Kai ließ ein leises Lachen hören. „Lass doch bitte mal feststellen, wo sich ein gewisser Herr
Leonhard Berkhof derzeit aufhält. Seine Ex-Frau ist verschwunden, und ich möchte sichergehen, dass er nicht die Finger im Spiel hat.“
„Hast du jetzt den Beruf gewechselt? Seit wann kümmern sich Psychologen um vermisste Personen?“
„Sie ist eine meiner Klientinnen.“
„Ok, geht klar. Ich schicke dir die Nachricht auf dein Phone. Ciao.“
Kurz nach 14.00 Uhr meldete sich Sina wieder. „Negativ“ sagte sie. „Allerdings nur im Großraum Hamburg“.
„Ich weiß deine Hilfe zu schätzen. Vielen Dank!“
„Immer wieder gern“.
Eine halbe Stunde später piepste Kais Handy erneut. Eine Nachricht erschien: „LB sitzt seit 26 Tagen ein. Weitere 54 Tage wird sich dieser Zustand nicht ändern.“
Kai trommelte wieder auf die Tischplatte. Er würde noch einmal mit Rena sprechen müssen. Vielleicht fiel ihr noch etwas ein, wo er ansetzten konnte. Er wählte ihre Nummer und verabredete sich mit ihr um 16.00 Uhr in einem Café in der Nähe der Wohnung ihrer Mutter. Danach informierte er Enno, dass er außer Haus sei, stieg in sein Auto und fuhr los.
Als Kai vor dem Café ankam, wartete Rena schon. Er hatte sich auf der Suche nach einem Parkplatz leicht verspätet. Sie gingen hinein und fanden abseits einen Zweiertisch. Nachdem die Kellnerin den Kaffee gebracht hatte, sagte Kai:
„Um eventuelle Rückschlüsse auf den Verbleib Ihrer Mutter ziehen zu können, muss ich jede Kleinigkeit wissen. Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen? Hat sie irgendetwas von einer neuen Bekanntschaft angedeutet? Sind Ihnen irgendwelchen Bemerkungen erinnerlich, die einen Hinweis geben könnten?“
Rena dachte angestrengt nach, was ihrem konzentrierten Gesichtsausdruck deutlich zu entnehmen war.
„Ich habe sie am letzten Mittwoch angerufen und ihr gesagt, mit welchem Zug ich am Samstag ankomme. Daraufhin hat sie mich gefragt, was ich mir denn zum Essen wünsche. Sie müsse ohnehin noch einkaufen gehen. Dies hat sie offensichtlich auch getan, denn der Kühlschrank ist voll.“
Nach einer Pause sprach Rena weiter. „Sie hat noch eine Frau erwähnt, die ihr einen kleinen Laden für ausgefallene Kleidung empfohlen hätte. Dorthin wollte sie mit mir gehen, um etwas für meinen Geburtstag im nächsten Monat zu kaufen. Sie nannte die Frau „Doro von der Eisbar“.“
„Gibt es einen Eissalon in der Nähe ihrer Wohnung?“
„Ja. Zwei Blocks weiter auf der linken Seite.“ Rena zeigte mit dem Arm in die entsprechende Richtung, und Kai machte sich Notizen auf seinem Phone.
„Gehen Sie bitte Ihre Ankunft noch einmal Schritt für Schritt in Gedanken durch.“
Rena lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Ich bin am Samstag um 17.12 Uhr angekommen, der Zug hatte eine Viertelstunde Verspätung. Ich habe dann etwa 20 Minuten gewartet und bin mit dem Bus nach Hause gefahren. Kurz nach 18.00 Uhr war ich dort.“
Sie machte eine Pause, öffnete kurz die Augen, nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und schloss wieder ihre Lider. Sie sprach langsam und bedächtig.
„Die Wohnung war aufgeräumt, es stand oder lag nichts herum. Die Spülmaschine war fertig, aber nicht ausgeräumt, Mamas Bett war gemacht, mein Bett frisch bezogen.“
Kai, der sich weiter Notizen machte, erinnerte sich, was Enno ihm auf Nachfragen bestätigt hatte, nämlich, dass Frau Berkhof am Freitag pünktlich den Betrieb verlassen hatte, wie aus der Zeiterfassung ersichtlich war.
„Weiter“.
„Ich habe mir ein Fertiggericht aus dem Tiefkühlschrank gemacht, habe Cola getrunken, Musik gehört und gewartet. Irgendwann nach 23.00 Uhr bin ich eingeschlafen.“
„Gut, was taten Sie am nächsten Morgen?“
„Als ich sah, dass Mama nicht da ist, habe ich erst schnell geduscht, mir andere Sachen angezogen und dann im Adressbuch neben dem Telefon meiner Mutter nach den Nummern ihrer Freundinnen gesucht. Ich habe alle drei nacheinander angerufen, aber keine wusste, wo sie sein könnte.
Kurz vor 12.00 bin ich dann zur Polizeidienststelle Mitte gefahren, um meine Mutter als vermisst zu melden, aber die wollten noch nichts tun, weil…“
Kai unterbrach sie. „Falls Ihre Mutter aber seit Freitagabend nicht mehr zu Hause war, wären die 48 Stunden jetzt um. Und Sie haben ja keinen Anhalt, dass sie erst am Samstag das Haus verlassen hat, nicht wahr?“
Rena nickte.
„Haben Sie zufällig ein Bild Ihrer Mutter dabei?“ fragte Kai.
Rena entnahm ihrer Tasche eine Fotografie, auf der sie mit Ihrer Mutter abgebildet war.
„Das ist aus dem letzten Urlaub“ sagte sie.
Kai fotografierte das Bild mit seinem Handy und reichte es ihr zurück.
„Ich bitte einen Freund, sich der Sache anzunehmen. Er ist Polizist.“
Er winkte der Kellnerin und bezahlte den Kaffee. Beim Verlassen des Cafés sagte Kai:
„Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich auf jeden Fall an.“
Rena nickte und gab ihm die Hand. „Ich bin Ihnen so dankbar für Ihre Hilfe“ sagte sie und ging in Richtung ihrer Wohnung davon, während Kai sich zum Parkplatz begab.