Читать книгу Sie kannte ihn flüchtig - Sue Grafton - Страница 10

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6

Um eine weitere Informationslücke zu füllen, fuhr ich die einzige Tankstelle von Floral Beach an und bat den Tankwart, den Tank aufzufüllen. Während sich der Junge daranmachte, meine Windschutzscheibe zu säubern, nahm ich mein Portemonnaie und ging in den Verkaufsraum hinüber. Es gab nur einen Automaten mit einem mickrigen Angebot. Der Raum hinter der Theke war leer. Dafür entdeckte ich jemanden in der Werkstatt. Hinter einem aufgebockten Ford-Fiesta war ein Mann dabei, die Radmuttern am rechten Hinterreifen zu lösen.

»Können Sie mir Geld wechseln für den Automaten?«

»Sicher doch.«

Er legte sein Werkzeug beiseite und wischte sich mit einem Lappen die Hände ab. Über der Brusttasche seines Overalls war der Name »Tap« aufgestickt. Ich folgte ihm zurück in den Verkaufsraum. Er bewegte sich in einer Dunstwolke von Schweiß und Motoröl, eine Mischung, die einen leicht schwindlig machte. Er war drahtig und klein, breitschultrig mit schmalen Hüften, der Typ, unter dessen Hemd sich üppige Tätowierungen zu verbergen pflegen. Sein dunkles, lockiges Haar fiel in einer Tolle über die Stirn und war seitlich mit Pomade nach hinten gekämmt. Er sah aus wie vierzig, mit einem immer noch jungenhaften Gesicht und einigen ledernen Fältchen um die Augen herum.

Ich gab ihm zwei Eindollarnoten. »Kennen Sie sich beim VW aus?«

Zum ersten Mal sah er mich direkt an. Er hatte braune glanzlose Augen. Ich vermutete, dass ich nur mit einem Reparaturproblem Interesse bei ihm zu wecken vermochte. Sein Blick schweifte flüchtig zu den Zapfsäulen draußen hinüber, wo der Junge gerade mit meinem Wagen fertig war. »Haben Sie Probleme?«

»Ich höre bei hundert immer so einen komischen hohen Ton. Klingt merkwürdig.«

»Mit der Sardinenbüchse können Sie hundert fahren?«

Ein Autowitz, dachte ich. Er grinste und öffnete mit einem Tastendruck die Kasse.

Ich lächelte. »Tja, hin und wieder schon.«

»Versuchen Sie’s mal bei Gunter in San Luis. Der macht das schon.« Damit ließ er acht Münzen in meine Handfläche gleiten.

»Danke.«

Er ging in die Werkstatt zurück, und ich steckte das Wechselgeld ein. Wenigstens wusste ich jetzt, wer Tap Granger war. Ich bezahlte draußen die Benzinrechnung und fuhr die zwei Blocks weiter zum Motel.

An diesem Nachmittag sollte ich Royce nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er hatte sich schon früh hingelegt und Ann gebeten, mir auszurichten, dass er mich am nächsten Morgen sprechen wolle. Ich unterhielt mich noch kurz mit ihrer Mutter, berichtete ihr von Baileys gegenwärtiger Verfassung, und ging dann in mein Zimmer hinauf. Ich hatte mir unterwegs, in San Luis, eine Flasche Weißwein besorgt, die ich in dem kleinen Kühlschrank deponierte. Meine Reisetasche fand ich noch so im Schrank, wie ich sie dort zurückgelassen hatte. Auf Reisen lebe ich aus dem Koffer und hole nur bei Bedarf Zahnbürste, Haarshampoo und saubere Kleidung aus dem Gepäck. Dadurch bleiben meine jeweiligen Unterkünfte ziemlich kahl und unpersönlich ordentlich, was eine gewisse asketische Ader bei mir befriedigt. Das Zimmer in der Ocean Street war geräumig, der Schlafbereich nur durch eine Sichtblende vom Wohn- und Essraum mit Kochnische getrennt. Zusammen mit dem Badezimmer und dem Schrankraum war es sogar größer als mein (ehemaliges) Apartment zu Hause.

Ich durchsuchte die Küchenschubladen, bis ich einen Korkenzieher gefunden hatte, schenkte mir ein Glas Wein ein und trat damit auf den Balkon. Im schwindenden Licht der Dämmerung war das Wasser des Pazifiks leuchtend blau, ein lebhafter Kontrast zum düsteren Lavendel der Küstenlinie. Der Sonnenuntergang bot ein Lichterspiel aus dunklem Pink und Lachsrotschattierungen, die sich allmählich in Anilinrot und Indigoblau übergehend, wie mit einem Dimmer zurückgedreht, über den Horizont senkten.

Gegen sechs Uhr klopfte es an meine Tür. Ich hatte gerade zwanzig Minuten lang die Informationen, die ich zusammengetragen hatte, in die Schreibmaschine getippt und war an einem toten Punkt angelangt. Ich klappte die Sichtblende über die Maschine und ging zur Tür.

Im Korridor stand Ann. »Ich wollte nur fragen, wann Sie zu Abend essen möchten.«

»Wann Sie wollen. Wie halten Sie’s denn normalerweise?«

»Danach brauchen wir uns nicht zu richten. Mutter habe ich schon ziemlich früh versorgt. Sie muss sich strikt an ihren Essensplan halten. Und Pop wird, wenn überhaupt, erst spät etwas wollen. Für uns habe ich gebackene Seezunge. Das ist eine Sache von Minuten. Hoffentlich mögen Sie Fisch?«

»Gern. Klingt großartig. Darf ich Sie zu einem Glas Wein als Aperitif einladen?«

Ann zögerte. »Ja, das wäre nett«, antwortete sie schließlich. »Wie geht es Bailey? Alles in Ordnung?«

»Na, glücklich ist er gerade nicht, aber das lässt sich vorerst nicht ändern. Sind Sie noch nicht bei ihm gewesen?«

»Ich will morgen zu ihm ... falls man mich vorlässt.«

»Lassen Sie das durch Clemson arrangieren. Es dürfte nicht schwierig sein. Die offizielle Anklageerhebung findet morgen früh um halb neun statt.«

»Das schaffe ich nicht. Mutter hat um neun einen Termin beim Arzt. Da komme ich nicht mehr rechtzeitig zurück. Aber Pop will sicher dabei sein, wenn’s ihm einigermaßen geht. Würden Sie ihn mitnehmen?«

»Natürlich. Kein Problem.«

Ich schenkte ihr ein Glas ein und füllte mir nach. Sie setzte sich auf die Couch, während ich mich wieder am Küchentisch niederließ, wo meine Schreibmaschine stand. Ann schien sich nicht wohl zu fühlen in ihrer Haut, sie nippte mit heruntergezogenen Mundwinkeln am Wein, als werde sie gezwungen, ein Glas Rizinusöl zu trinken.

» Chardonnay scheint nicht gerade Ihre Lieblingssorte zu sein.«

Sie lächelte entschuldigend. »Ich trinke selten Alkohol. Bailey ist der einzige aus der Familie, der dem je was abgewinnen konnte.«

Ich hatte angenommen, selbst die Initiative ergreifen zu müssen, wenn ich weitere Informationen aus ihr herausbekommen wollte, doch sie überraschte mich jetzt mit einer freiwilligen Kurzfassung der Familiengeschichte. Die Fowlers hätten für Alkohol nie etwas übrig gehabt. Sie führte das auf die Zuckerkrankheit der Mutter zurück. Mir schien das eher an der muffigen religiös-fundamentalistischen Einstellung zu liegen, die in diesem Haus herrschte.

Ann erzählte weiter, dass Royce in Tennessee geboren und aufgewachsen war. Das düstere schottische Erbe habe ihn zu einem schweigsamen, verschlossenen Jungen gemacht. Auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Krise in den zwanziger Jahren war er gerade neunzehn Jahre alt. Er hatte gehört, dass es auf den Ölfeldern Kaliforniens Arbeit gebe, denn südlich von Los Angeles wuchsen die Bohrtürme wie Pilze aus dem Boden. Und er machte sich auf den Weg nach Westen. Oribelle hatte er unterwegs kennen gelernt, als er in einer Baptistenkirche in Fayetteville, Arkansas, ein billiges Abendessen erhielt. Sie war damals achtzehn und krank und hatte sich bereits mit einem Leben in Abhängigkeit von Insulin und der Kirche abgefunden. Sie arbeitete im Futtermittelhandel ihres Vaters, und ihre größte Freude war die alljährliche Reise zum Maultiermarkt in Fort Smith.

Royce war an jenem Mittwochabend in der Kirche erschienen, nachdem er auf der Suche nach einer warmen Mahlzeit von seinem Reisegefährt, einem Güterzug, abgesprungen war. Ann sagte, Ori erzähle noch heute von ihrer ersten Begegnung, als er breitschultrig und mit strohfarbenem Haar im Kirchenportal gestanden hatte. Er war in der Schlange der Wartenden an der Essensausgabe vorbeigezogen und hatte sich Berge von Makkaroni mit Käse, Oris Spezialität, auf den Teller gehäuft. Ori hatte ihn angesprochen, und gegen Ende des Abends kannte sie seine Lebensgeschichte und lud ihn nach Hause ein. Er schlief im Schuppen und nahm an den Mahlzeiten der Familie teil. Er blieb zwei Wochen, und Oribelle litt während dieser Zeit an solch fiebrigen Hormonschüben, dass sie zweimal kurz vor dem Zuckerkoma stand und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Ihre Eltern nahmen das als Beweis für den bösen Einfluss, den Royce auf die Tochter ausübte. Sie redeten lange und eingehend auf sie ein, von ihm zu lassen, doch nichts konnte sie umstimmen. Sie wollte Royce heiraten. Als sich der Vater entschieden gegen die Verbindung stellte, nahm sie all das Geld, das für ihre Sekretärinnenausbildung auf die Seite gelegt worden war, und brannte mit ihm durch. Das war im Jahr 1932.

»Ich kann mir die beiden kaum als leidenschaftlich verliebtes. Paar vorstellen«, bemerkte ich.

Ann lächelte. »Ich auch nicht. Ich muss Ihnen Fotos zeigen. Sie ist ein schönes Mädchen gewesen. Natürlich bin ich erst sechs Jahre später ... 1938 ... geboren, und Bailey kam fünf Jahre nach mir. Falls sie je so was wie Leidenschaft füreinander empfunden haben, war zu dieser Zeit schon Schluss damit. Trotzdem verbindet sie noch immer viel. Komischerweise waren wir alle davon überzeugt, dass sie lange vor ihm sterben würde ... und jetzt wird es wohl umgekehrt sein.«

»Was fehlt ihm denn eigentlich?«

»Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Ärzte geben ihm noch ein halbes Jahr.«

»Und das weiß er?«

»O ja. Deshalb ist er ja so glücklich, dass Bailey plötzlich wieder aufgetaucht ist. Er redet von gebrochenem Herzen, aber das ist Unsinn.«

»Und was ist mit Ihnen? Wie stehen Sie dazu?«

»Ich bin eigentlich erleichtert. Selbst wenn er wieder ins Gefängnis muss, habe ich doch jemanden, der mir hilft, die kommenden sechs Monate zu überstehen. Seit Bailey untergetaucht war, hatte ich die ganze Verantwortung für die Eltern.«

»Und wie hat Ihre Mutter das alles aufgenommen?«

»Es macht sie kaputt. Durch die Zuckerkrankheit ist ihre Gesundheit sehr labil. Jede Aufregung bringt sie aus dem Gleichgewicht. Der Stress. Ich schätze, er macht uns allen zu schaffen ... mich eingeschlossen. Seit ich weiß, dass Pop sterben wird ...«

»Sie haben mal erwähnt, dass Sie sich vorübergehend von Ihrem Job haben beurlauben lassen.«

»Es blieb mir nichts anderes übrig. Irgendjemand muss rund um die Uhr hier anwesend sein. Und da wir uns eine Pflegerin nicht leisten können, muss ich eben herhalten.«

»Das ist hart für Sie.«

»Es gibt Leute, denen es schlechter geht.«

Ich wechselte das Thema. »Haben Sie einen Verdacht, wer Jean Timberlake wirklich umgebracht haben könnte?«

Ann schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich wüsste es. Sie war Schülerin an meiner Highschool und Baileys Freundin.«

»Ist sie viel hier gewesen?«

»Ziemlich. Das wurde erst nach Baileys Entlassung aus der Haft weniger.«

»Und Sie sind überzeugt, dass er mit dem Mord nichts zu tun hat?«

»Ich weiß langsam nicht mehr, was ich glauben soll«, erwiderte sie müde. »Ich will nicht glauben, dass er’s gewesen ist. Andererseits finde ich den Gedanken, dass der Killer noch immer frei rumläuft, nicht gerade angenehm.«

»Dem gefällt das sicher auch nicht ... dass Bailey wieder in Haft ist. Da muss sich jemand all die Jahre verdammt sicher gefühlt haben. Und sobald der Fall wieder neu aufgerollt wird, kann niemand sagen, wie’s ausgeht.«

»Da haben Sie Recht. Ich möchte nicht in seinen Schuhen stecken.« Sie rieb sich die Arme, als fröre sie, und lachte nervös über sich selbst. »Ich muss jetzt wieder runter und nach Mütter sehen. Vorhin hat sie geschlafen, aber sie wacht meist nach kurzer Zeit wieder auf. Und sobald sie die Augen aufschlägt, muss ich parat sein.«

»Ich mache mich nur ein bisschen frisch, dann komme ich nach.« Ich ging zur Tür. Dabei fiel mein Blick auf meine Handtasche und das Kuvert, das Clemson mir mitgegeben hatte. »Halt! Das ist für Ihren Vater. Jack Clemson hat mich gebeten, es ihm zu geben.« Ich reichte es ihr.

Sie sah mich lächelnd an. »Danke für den Wein. Hoffentlich habe ich Sie mit den Familiengeschichten nicht gelangweilt.«

»Ganz und gar nicht. Was ist übrigens mit Jean Timberlakes Mutter? Ist sie schwer zu finden?«

»Wer, Shana? Versuchen Sie’s in der Pool Hall. Dort ist sie fast jeden Abend. Tap Granger auch.«

Nach dem Abendessen holte ich kurz eine Jacke aus meinem Zimmer und lief die Hintertreppe hinunter.

Es war eine kalte Nacht, und die Brise, die vom Meer her wehte, war feucht und schmeckte nach Salz. Der Weg bis zu Pearls Billardsalon, zwei Blocks entfernt, war hell erleuchtet. Ganz Floral Beach schien in das orangerote Licht der Natriumdampflampen getaucht, die die Ocean Street säumten. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und das Meer war eine pechschwarze Fläche. Nur der äußere Saum der Brandungswellen, die gegen den Strand schlugen, fing einen schwachen Widerschein der Straßenbeleuchtung ein und glühte golden. Nebel zog auf, und die Luft hatte die gelblich dichte Konsistenz von Smog.

Als ich mich dem Billardsalon näherte, wurde die Stille plötzlich von den rauen Klängen von Countrymusic durchbrochen. Die Tür stand offen, und schon auf zwanzig Meter Entfernung stieg mir Zigarettenrauch in die Nase. Am Straßenrand vor dem Lokal zählte ich fünf Harley-Davidsons mit viel Chrom, schwarzen Ledersitzen und gekrümmten Auspuffrohren. Die Jungen an meiner Highschool hatten in einer pubertären Phase in der Unterstufe ausschließlich solche Maschinen gezeichnet: heiße Öfen und Rennautos, Panzer, Folterwerkzeug, Schusswaffen, Messer und Grausamkeiten aller Art. Eigentlich sollte man sich mal die Mühe machen, herauszufinden, was aus diesen Jungen geworden war.

Der Billardsalon war zwei Billardtische lang mit genügend Zwischenraum für schwierige Stöße. Beide Tische waren von den Motorradfreaks belagert: korpulente Männer Anfang vierzig mit Mongolenbärten und langem, im Nacken zusammengebundenem Haar. Es waren insgesamt fünf, eine ganze Familie von Raubrittern der Landstraße. Der Bartresen verlief über die gesamte Wandlänge zu meiner Linken, und auf den Hockern saßen die Bräute der Motorradfreaks zwischen ortsansässigem Publikum. Wände und Decke des Lokals waren mit einer Art Collage aus Bierdeckeln, Tabakwerbung, Autoaufklebern, Cartoons, Schnappschüssen und Barwitzen bepflastert. Ein Spruch erklärte die Zeit von sechs bis sieben zur » Glücklichen Stunde«, doch die darunter abgebildete Uhr zeigte zu jeder vollen Stunde nur die Zahl Fünf. Zum Totlachen! Bowling-Trophäen, Bierkrüge und Tüten mit Kartoffelchips füllten das Regal hinter der Theke. Pearls-Billardsalon-T-Shirts wurden für $ 6.99 zum Kauf angeboten. Von der Decke baumelte ein Motorradhandschuh an einer Schnur, und ein Miller-Lite-Spiegel war mit zwei Damenslips an der Wand befestigt. Der Geräuschpegel war so hoch, dass ein späterer Gehörtest angebracht schien.

Am Tresen war noch ein einziger Hocker frei. Ich setzte mich. Der Barkeeper war eine Frau Mitte sechzig, vermutlich die Pearl, nach der das Lokal benannt war, klein, füllig um die Hüften, grau meliertes, streng nach hinten gebürstetes, dauergewelltes Haar. Sie trug eine karierte Trevirahose und ein ärmelloses Oberteil, das ihre muskulösen Oberarme freiließ. Es schien nicht ausgeschlossen, dass sie kräftig genug war, gelegentlich einen Motorradfreak mit Schwung am Hosenboden aus dem Lokal zu befördern.

Ich bestellte Fassbier, das mir in einem Steinkrug serviert wurde. Da der ohrenbetäubende Lärm jede Unterhaltung unmöglich machte, hatte ich ausgiebig Zeit, mich im Lokal umzusehen. Ich schwenkte mit dem Hocker herum, bis ich mit dem Rücken zur Bar saß, beobachtete die Billardspieler und ließ den Blick gelegentlich zu meinen Nachbarn am Tresen schweifen. Ich war nicht sicher, wie ich mich verhalten sollte. Erst einmal wollte ich meinen Beruf und den Grund für meinen Aufenthalt in Floral Beach für mich behalten. Die Lokalzeitungen hatten in großer Aufmachung von Baileys Verhaftung berichtet, sodass ich nicht befürchten musste, Verdacht oder Misstrauen zu erregen, sobald ich das Thema anschnitt.

Neben dem Musikautomaten links von mir begannen zwei Frauen zu tanzen. Die Motorradbräute machten einige gehässige Bemerkungen, aber sonst schien sich niemand um die beiden zu kümmern. Zwei Hocker weiter saß eine Frau Mitte fünfzig. Sie musste Shana Timberlake sein, denn keine andere Frau im Lokal sah alt genug aus, um siebzehn Jahre zuvor eine Tochter im Teenageralter gehabt zu haben.

Gegen zehn Uhr schwärmten die Motorradfahrer aus dem Lokal. Kurz darauf entfernten sich die donnernden Maschinen auf der Straße. Die Musikbox schaltete gerade auf eine andere Musiknummer, sodass sich für einen Augenblick heilsame Stille im Lokal ausbreitete. »O Mann!«, sagte jemand, und alle lachten. Wir waren noch ungefähr zehn, die spannungsgeladene Atmosphäre verflog und wurde familiärer. Es war Dienstagabend, der Stammtischtag der Einheimischen. Harte Schnäpse wurden offenbar nicht ausgeschenkt, und der Wein, der hier getrunken wurde, stammte vermutlich aus einem Gefäß von der Größe eines Ölfasses und war von entsprechender Qualität.

Der Mann auf dem Hocker rechts neben mir war Anfang sechzig. Er war groß, mit einem Bierbauch vom Umfang eines Medizinballes und einem breiten Gesicht mit Doppelkinn. Selbst im Nacken, wo grau meliertes Haar über den Kragen hing, hatte sich ein Fettwulst gebildet. Es war mir nicht entgangen, dass er mich gelegentlich neugierig musterte. Das übrige Publikum am Tresen schien sich zu kennen, was ich aus den Gesprächen schloss, die sich hauptsächlich um Politik, Sport und einen gewissen Ace drehten, der am Vorabend ziemlich betrunken gewesen sein musste. Der schüchterne Ace, ein groß gewachsener, hagerer Mann in Jeans und passender Jacke und Baseballmütze, musste sich eine Menge Spott wegen seines Benehmens gegenüber der »guten alten Betty« gefallen lassen, die er offenbar mit nach Hause genommen hatte. Ace schien sich in den Vorwürfen über sein schlechtes Benehmen zu sonnen, und da Betty nicht anwesend war, um den Eindruck zu korrigieren, nahm jeder an, dass er mit ihr geschlafen hatte.

»Betty ist seine Exfrau«, sagte der Mann an meiner Seite zu mir, um mich in die Unterhaltung mit einzubeziehen. »Sie hat ihn schon viermal rausgeworfen, aber dann lässt sie sich doch immer wieder mit ihm ein. He, Daisy. Wir hier unten könnten auch mal ’n paar Erdnüsse brauchen.«

»Ich dachte, sie heißt Pearl«, bemerkte ich, um die Unterhaltung nicht abreißen zu lassen.

»Curtis Pearl bin ich«, erwiderte mein Nachbar. »Für meine Freunde nur Pearl.«

Daisy schaufelte mit einem Gefäß, das wie ein Fressnapf für Hunde aussah, Erdnüsse aus einem Eimer unter der Theke und knallte es auf den Tresen. Die Nüsse waren noch in der Schale, und der Abfall auf dem Fußboden machte deutlich, was man von uns erwartete. Pearl schob sich zu meiner Überraschung eine Nuss mit Schale in den Mund. »Hier wird alles verwertet«, erklärte er. »Das ist gesund. Mein Arzt plädiert für faserreiche Kost. Das macht satt und putzt durch, behauptet er.«

Ich zuckte mit den Schultern und tat es ihm gleich. Kein Zweifel, die Schale war außerordentlich faserreich und schmeckte nach Salz und dem bitteren inneren Häutchen der Nuss. Galt das hier als Körnerersatz, oder konnte man genauso gut Papier kauen?

Der Musikautomat sprang wieder an, diesmal mit einer sanften Stimme, wie eine Kreuzung aus Frank Sinatra und Della Reese. Die beiden Frauen am Ende der Bar begannen erneut zu tanzen. Beide waren dunkelhaarig und schlank, die eine größer als die andere. Pearl drehte sich um, um ihnen zuzusehen, und wandte sich dann wieder mir zu. »Stört Sie so was?«

»Nein, warum?«

»Es ist sowieso nicht das, was Sie vermuten«, fuhr er fort. »Die Größere tanzt gern, wenn sie deprimiert ist.«

»Und weshalb ist sie unglücklich?«

»Sie haben gerade den Kerl geschnappt, der vor Jahren ihre kleine Tochter umgebracht hat.«

Sie kannte ihn flüchtig

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