Читать книгу Sie kannte ihn flüchtig - Sue Grafton - Страница 8
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Gegen halb zwei hatte ich die knapp fünfzehn Kilometer nach San Luis Obispo zurückgelegt und kurvte nun kreuz und quer durch die Stadtmitte, um mich zu orientieren und mir einen Eindruck von dem Ort zu verschaffen. Gepflegte Geschäftshäuser zwischen zwei und vier Stockwerken hoch. Ein Stadtkern von musealem Charakter mit Häusern im spanischen und viktorianischen Stil. Die Gebäude waren sorgfältig renoviert, die Fassaden der Geschäfte in hübschen dunklen Farbtönen getüncht, viele hatten gewölbte Markisen über den Schaufenstern. Die Geschäfte schienen vor allem aus Modeboutiquen und schicken Restaurants zu bestehen. Die Straßen wurden von australischen Sapindabäumen gesäumt, in deren Ästen mit den frisch grünen Blattknospen italienische Lichterketten hingen. Jedes andere Unternehmen, das nicht unmittelbar dem Tourismus diente, schien auf die Bedürfnisse und den Geschmack der Studenten des Polytechnikums abgestellt, die überall das Stadtbild prägten.
Bailey Fowlers neuer Anwalt war ein Mann namens Jack Clemson, er hatte seine Kanzlei in der unmittelbaren Umgebung des Gerichtsgebäudes. Ich parkte meinen Wagen und schloss ihn ab. Clemsons Kanzlei befand sich in einem kleinen braunen Fachwerkhaus mit spitzem Giebel und einer schmalen Holzveranda im Pergolastil. Ein weißer Lattenzaun umgab das Grundstück, in dem Geranienbüsche blühten. Dem Schild am Gartentor nach zu schließen, war Jack Clemson der einzige Mieter.
Ich stieg die Holzstufen zur Veranda hinauf und betrat die Diele, die als Empfangsraum diente. Das rhythmische Klickgeräusch einer alten Wanduhr war das einzige Lebenszeichen hier. Die Wände waren mit Bücherregalen vollgestellt. Ich sah einen Schreibtisch aus massiver Eiche, einen Schreibmaschinentisch mit Drehstuhl und einen Kopierapparat, aber keine Sekretärin. Der Bildschirm des Computers war dunkel, und auf der Schreibtischplatte lagen wohl geordnet juristische Schriftsätze und Unterschriftsmappen. Einer der Knöpfe am Telefonapparat leuchtete, und in der Luft hing frischer Zigarettenrauch, der aus dem rückwärtigen Teil des Hauses zu kommen schien. Ansonsten wirkte das Gebäude völlig verlassen.
Ich setzte mich in eine alte Kirchenbank. Im Fach für die Gesangbücher steckten Jahrbücher der juristischen Fakultät der Columbia-Universität, in denen ich gelangweilt zu blättern begann. Dann hörte ich Schritte. Clemson tauchte auf.
»Miss Millhone? Ich bin Jack Clemson. Freut mich, Sie kennen zu lernen. Entschuldigen Sie den Empfang. Aber meine Sekretärin ist krank, und die Aushilfe ist beim Essen. Kommen Sie mit nach hinten.«
Wir schüttelten uns die Hand, und ich folgte ihm. Clemson war circa fünfzig Jahre alt und korpulent, einer jener Männer, die von Geburt an rundlich sind. Klein, vierschrötig, mit breiten Schultern und einer Halbglatze. Er hatte ein volles Kindergesicht mit spärlichen Brauen und einer sanft geschwungenen Allerweltsnase mit roten Druckstellen auf dem Nasenrücken. Die Hornbrille hatte er über die Stirn ins Haar geschoben, sodass dahinter einige Strähnen steil in die Höhe standen. Er hatte den Hemdkragen aufgeknöpft, die Krawatte gelockert. Zum Rasieren war die Zeit offenbar zu knapp gewesen, und er kratzte sich prüfend am Kinn, als wolle er feststellen, um wie viel seine Bartstoppeln gewachsen waren. Er trug einen gut geschnittenen, nur leicht verknitterten tabakbraunen Anzug.
Sein Büro nahm den gesamten rückwärtigen Teil des Hauses ein, eine Glastür führte auf eine sonnige Terrasse. Auf zwei Lederstühlen, die offensichtlich für Besucher vorgesehen waren, stapelten sich Kanzleiakten. Clemson legte einen Stoß Akten auf den Fußboden und machte mir ein Zeichen, mich zu setzen, während er hinter seinen Schreibtisch ging. Dabei fiel sein Blick in einen Spiegel links an der Wand, und er griff sich unwillkürlich erneut an die Bartstoppeln. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, zog einen elektrischen Rasierapparat aus einer Schublade und begann sich zu rasieren. Der Apparat summte wie ein Flugzeug aus der Ferne.
»Ich habe in einer halben Stunde einen Gerichtstermin. Tut mir Leid, dass ich heute Nachmittag nicht länger für Sie Zeit habe.«
»Macht nichts«, erwiderte ich. »Wann wird Bailey hierher verlegt?«
»Eigentlich müsste er schon da sein. Unser Deputy ist heute Morgen runtergefahren, um ihn zu holen. Ich habe für Viertel nach drei eine Sprecherlaubnis für Sie erwirkt. Heute ist zwar kein Publikumsverkehr, aber Quintana hat eine Ausnahme gemacht. Es ist übrigens sein Fall. Damals war Quintana noch ein blutiger Anfänger.«
»Wann erfolgt offiziell die Anklageerhebung?«
»Um halb neun Uhr morgen früh. Wenn Sie dabei sein wollen, kommen Sie doch hierher, dann gehen wir gemeinsam zum Gericht rüber. Dabei könnten wir unsere Informationen austauschen.«
»Prima. Ich werde da sein.«
Clemson machte sich eine Notiz in seinem Tischkalender. » Gehen Sie heute Nachmittag noch mal in die Ocean Street?«
»Natürlich.«
Er legte den Rasierapparat zurück und machte die Schublade zu. Dann griff er nach einem Schriftstück, faltete es und steckte es in einen Umschlag, auf den er Royces Namen schrieb. »Sagen Sie Royce, er braucht es nur noch zu unterschreiben«, erklärte er.
Ich steckte das Kuvert in meine Handtasche.
»Wie viel Hintergrundinformationen haben Sie über den Fall?«
»Nicht viel.«
Er zündete sich eine Zigarette an und hustete hinter vorgehaltener Hand, was ihn zu ärgerlichem Kopfschütteln veranlasste. »Ich habe mich heute Vormittag ausführlich mit Clifford Lehto unterhalten. Das ist der Pflichtverteidiger, der mit Fowlers Fall befasst war. Er hat sich mittlerweile zur Ruhe gesetzt. Netter Mann. Hat sich einen Weinberg in der näheren Umgebung gekauft. Angeblich hat er Chardonnay- und Pinot-Noir-Trauben. So ein Leben würde mir offen gestanden auch zusagen. Jedenfalls hat er für mich die alten Akten durchgesehen und mir die Protokolle beschafft.«
»Aha. Und was steht da drin? Weshalb hat sich der Staatsanwalt auf diesen Kompromiss eingelassen?«
Clemson machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie hatten nur Indizienbeweise. George De Witt war der Staatsanwalt. Hatten Sie je mit ihm zu tun? Nein, vermutlich nicht. Das muss lange vor Ihrer Zeit gewesen sein. Mittlerweile ist er ein ranghoher Richter. Ich meide ihn wie die Pest.«
» Von ihm gehört habe ich schon. Hat er nicht politische Ambitionen?«
»Ob’s ihm was nützt, steht auf einem anderen Blatt. Aber man weiß nie, wie er bei einer Verhandlung entscheidet. Er ist zwar nicht unfair, aber unberechenbar. Das ist die Hölle. George war eine blendende Erscheinung. Ein Karrierist. Er hat es gehasst, in einem publicityträchtigen Fall Kompromisse machen zu müssen, doch er war kein Idiot. Nach allem, was man so erfährt, muss der Timberlake-Mord, oberflächlich betrachtet, eindeutig gewesen sein, aber die nötigen Beweise fehlten. Fowler ist in der Stadt als Rumtreiber bekannt gewesen. Sein alter Herr hatte ihn rausgeworfen ...«
»Augenblick!«, unterbrach ich ihn. »War das, bevor er das erste Mal ins Gefängnis musste oder danach? Ich dachte, er sei wegen bewaffneten Raubüberfalls verurteilt worden, aber auch darüber hat mir noch niemand was erzählt.«
»Fragen Sie ruhig. Dann will ich mal ein bisschen weiter ausholen. Also, das war zwei, drei Jahre vorher. Irgendwo habe ich die exakten Daten, aber die sind nicht wichtig. Fowler und ein Bursche namens Tap Granger haben sich so ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Fowler die Highschool verlassen hat, zusammengetan. Bailey war ein hübscher Junge und nicht dumm, aber er wusste nichts damit anzufangen. Sie kennen den Typ vermutlich. Es war fast vorprogrammiert, dass er auf die schiefe Bahn geraten musste. Laut Lehto haben Bailey und Tap einen ziemlichen Drogenkonsum gehabt. Sie mussten den Dealer in der Stadt bezahlen, also haben sie angefangen, Tankstellen zu überfallen. Alles amateurhafter Kleinkram. Die beiden Idioten haben sich Strumpfmasken über die Köpfe gezogen und es auf die Profitour versucht. Natürlich sind sie prompt erwischt worden. Rupert Russel hat den Fall damals als Pflichtanwalt vertreten und alles getan, was er konnte.«
»Warum ein Pflichtanwalt? Galt Bailey als mittellos?«
»Sozusagen. Er jedenfalls hatte kein Geld für einen Anwalt, und sein Vater hat sich geweigert, die Kosten zu übernehmen.« Clemson zog an seiner Zigarette.
»Hatte Bailey als Jugendlicher Probleme mit der Polizei?«
»Nein. Er war noch nicht vorbestraft. Vermutlich hat er geglaubt, mit einem blauen Auge davonzukommen. Natürlich lautete die Anklage auf bewaffneten Raubüberfall, aber Tap hatte die Waffe, und ich schätze, Bailey hat angenommen, dass er damit aus dem Schneider war. Sein Pech, dass die Gesetze unseres Staates das anders sehen. Als sie ihm dann einen Kompromiss vorgeschlagen haben, hat er jedenfalls abgelehnt und auf unschuldig plädiert und sich einen Prozess eingehandelt. Ich brauche wohl gar nicht erst zu sagen, dass die Geschworenen ihn schuldig gesprochen haben, und der vorsitzende Richter ist bei der Bemessung des Strafmaßes nicht gerade zimperlich gewesen. Damals konnte man für bewaffneten Raubüberfall ein bis zehn Jahre kriegen. Es war einer Kommission überlassen, das exakte Entlassungsdatum festzulegen und die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen. Damals hatten wir sehr liberale Kommissionen. Und wir hatten eine liberalere Regierung in Kalifornien! Die Kommissionsmitglieder wurden vom Gouverneur ernannt, und Pat Brown junior ... na, lassen wir das Thema. Tatsache ist, dass die Burschen ein bis zehn Jahre kriegten, aber nach zwei Jahren wieder draußen waren. Alle schreien Zeter und Mordio, weil niemand mehr neun oder zehn Jahre abbrummen musste bei einem Strafmaß von einem bis zehn Jahren. Bailey musste nur achtzehn Monate absitzen.«
»Und wo? Hier?«
»Ne. Drunten in Chino, im Luftkurort unter den Gefängnissen. Im August wurde er entlassen. Er ist nach Floral Beach zurückgekommen und hat hier ziemlich glücklos versucht, Arbeit zu finden. Ziemlich bald war er wieder in der Drogenszene, nur hat er diesmal nicht nur Marihuana, sondern auch Kokain, Beruhigungs- und Aufputschmittel ... na, die ganze Palette, genommen.«
»Und Jean? Was hat sie in dieser Zeit gemacht?«
»Sie war im letzten Jahr auf der Central-Coast-Highschool. Ich weiß nicht, ob man Ihnen schon von dem Mädchen erzählt hat.«
»Gar nichts.«
»Sie war ein uneheliches Kind. Ihre Mutter lebt noch immer in Floral Beach. Vielleicht sprechen Sie ja mal mit ihr. Sie hatte einen Ruf als Frau mit reichlich Männerbekanntschaften, die Mutter. Jean war ihr einziges Kind. Ein intelligentes Mädchen, aber ich vermute, dass sie ’ne Menge Probleme hatte. Aber wer hat die nicht?« Er zog an seiner Zigarette.
»Hat sie nicht für Royce Fowler gearbeitet?«
»Richtig. Als Bailey aus dem Gefängnis kam, hat sie sich wieder mit ihm eingelassen. Lehto sagt, Bailey habe behauptet, sie seien nur gute Freunde gewesen. Der Staatsanwalt ist der Überzeugung, dass die beiden ein Verhältnis hatten und Bailey das Mädchen in einem Anfall von Eifersucht umgebracht hat, als er herausbekam, dass sie was mit Tap hatte. Fowler leugnet das. Mit Granger hat sie nichts gehabt, sagt er, obwohl Tap Granger zwei Monate vor ihm entlassen worden war.«
»Was ist mit Granger? Gibt’s den hier denn noch?«
»O ja. Er betreibt die einzige Tankstelle in Floral Beach. Sie gehört ihm zwar nicht, aber er macht die Arbeit. Mehr kann er auch nicht. Eine Intelligenzbestie ist er gerade nicht, aber zuverlässig. Seine wilden Jahre sind vorbei.«
Ich machte mir sowohl über Granger als auch über die Timberlake ein paar Notizen. »Ich wollte Sie aber nicht unterbrechen. Sie hatten gerade von Baileys Beziehung zu dem Mädchen nach seinem Gefängnisaufenthalt gesprochen.«
»Also Bailey behauptet steif und fest, dass die Romanze vorbei gewesen sei. Er und das Mädchen seien nur noch befreundet gewesen, mehr nicht. Beide waren ja irgendwie Außenseiter ... er wegen seiner Vorstrafe, sie wegen ihrer unmoralischen Mutter. Davon abgesehen hatten die Timberlakes nie Geld. In Floral Beach wäre Jean demnach nie auf einen grünen Zweig gekommen. Ich weiß nicht, inwiefern Sie sich mit Kleinstädten wie Floral Beach auskennen. Rund elfhundert Einwohner, und die meisten leben schon seit Anno Tobak hier. Jedenfalls steckten Jean und Bailey zusammen wie früher. Er sagt allerdings, sie habe einen neuen Liebhaber gehabt, sich auf eine Affäre eingelassen, über die nichts aus ihr herauszukriegen war. Angeblich hat er nie erfahren, wer der andere Mann gewesen ist.
In der Mordnacht jedenfalls waren die beiden auf einer Sauftour durch circa sechs Bars in San Luis und zwei in Pismo. Gegen Mitternacht sind sie zurückgekommen und haben mit dem Wagen drunten am Strand gehalten. Bailey behauptet, es sei kurz vor zehn gewesen, aber ein Zeuge will die beiden gegen Mitternacht. dort gesehen haben. Jean war ziemlich aufgebracht. Sie hatten Alkohol und ein paar Joints dabei. Es kam zum Streit, und Baileys Version ist, er habe sie einfach sitzen gelassen und sei davongetrabt. Das nächste, woran er sich erinnere, sei, dass er in seinem Zimmer in der Ocean Street liegt, und es ist Morgen. Am Strand wimmelte es von Kindern, die dort Müll aufsammeln im Rahmen irgendeines kirchlichen Programms. Bailey ist hundeelend, er hat einen solchen Kater, dass er sich die Seele aus dem Leib kotzt. Jean liegt unten am Strand, unterhalb der Treppe. Erst als der Säuberungstrupp näher rückt, merkt man, dass sie tot ist — erwürgt mit einem Gürtel, der Bailey gehört, wie sich herausstellt.«
»Trotzdem könnte es praktisch jeder gewesen sein.«
»Sicher. Aber Bailey war natürlich der Hauptverdächtige. Und vielleicht hätten sie es ihm auch beweisen können, aber De Witt war auf dem Karrieretrip und wollte das Risiko einer Niederlage vor Gericht nicht eingehen. Lehto hat die Chance für eine Einigung mit der Staatsanwaltschaft erkannt, und da Bailey ein gebranntes Kind war, war er einverstanden. Damals beim Überfall auf die Tankstelle war er schuldig gewesen, und er war in einem Prozess verurteilt worden. Diesmal behauptete er zwar unschuldig zu sein, doch die Aussichten in einem Prozess behagten ihm nicht, und deshalb hat er sich lieber auf den Handel mit dem Staatsanwalt eingelassen und auf Totschlag plädiert. Einfach so.« Clemson schnalzte mit den Fingern. Es klang, als bräche ein hohler Stock entzwei.
»Hatte er denn eine Chance, dass in einem Prozess die Anklage wegen Mordes fallen gelassen worden wäre?«
»Schwer zu sagen. Ein Prozess ist immer ein Glücksspiel. Man kann alles gewinnen oder alles verlieren. Der Fall hatte ’ne Menge Publicity. Die Stimmung in der Stadt war gegen Bailey. Baileys Vorleben spielte eine Rolle, es gab praktisch keinen anständigen Zeugen für seinen guten Leumund. Mit dem Kuhhandel war er eindeutig besser bedient. Damals vor zwanzig Jahren musste er mit der Todesstrafe rechnen, und damit spielt man nicht, wenn sich eine andere Möglichkeit bietet. Es war, wie gesagt, ein Glücksspiel.«
»Ich dachte, wenn die Anklage einmal auf Mord gelautet habe, könnte auch die Staatsanwaltschaft nicht ohne weiteres dahinter zurück.«
»Theoretisch nicht. Aber die Praxis sah anders aus. Es lag durchaus im Ermessen des Staatsanwalts, wie die Anklage im Endeffekt lautete. Lehto hat das Übliche getan, ist zu De Witt gegangen, hat gesagt: >Hör mal, George, ich habe Beweise, dass mein Klient zur Tatzeit unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen stand. Die Beweise haben sogar deine Leute gelieferte Er zog den Polizeibericht heraus. ›Da steht, dass der Beamte, der ihn verhaftet hat, aussagt, er sei benommen gewesen ...‹ Und so weiter, und so weiter. Clifford zog alle Register, und George geriet natürlich ins Schwitzen. Sein Ruf steht auf dem Spiel, und er will nicht mit einem Fall vor Gericht gehen, der nicht bombensicher für ihn ist. Von einem Staatsanwalt erwartet man eine neunzigprozentige ... wenn nicht sogar noch höhere Erfolgsquote.«
»Bailey hat also auf Totschlag plädiert, und der Richter hat ihm die Höchststrafe verpasst«, bemerkte ich.
»Ganz recht. Sie haben’s erfasst. Aber die Höchststrafe war sechs Jahre. Unter Anrechnung der Untersuchungshaft und mit guter Führung hätte er vermutlich nur die Hälfte absitzen müssen. Also was soll’s? Fowler war der Meinung, reingelegt worden zu sein, und hat nicht mal begriffen, welches Glück er hatte. Clifford Lehto hat verdammt gute Arbeit geleistet. Ich an seiner Stelle hätte nicht anders gehandelt.«
»Und wie soll’s jetzt weitergehen?«
Clemson zuckte mit den Schultern und machte seine Zigarette aus. »Das hängt davon ab, wie Bailey sich zu seiner Flucht aus der Haftanstalt äußert. Worauf wird er plädieren? Auf mildernde Umstände? Er kann immer behaupten, er habe sich von einem der Wärter bedroht gefühlt und um sein Leben gefürchtet. Allerdings erklärt das kaum, dass er all die Jahre untergetaucht ist. Bailey hätte sich schon in der ersten Runde einen gewitzten Anwalt nehmen sollen. Jetzt wird ihm das nicht mehr viel nützen. Natürlich werde ich mit Haken und Ösen für ihn kämpfen, aber welcher Richter lässt einen Burschen auf Kaution frei, der sechzehn Jahre auf der Flucht gewesen ist?«
»Und was erwarten Sie in der Zwischenzeit von mir?«
Clemson stand auf und begann die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch durchzuwühlen. »Ich habe meine Sekretärin gebeten, sämtliche Zeitungsausschnitte über den Mord von damals in einer Akte zu sammeln. Vielleicht interessieren Sie die Berichte ja. Lehto hat mir angeblich alle Unterlagen geschickt, die er besitzt: Polizeiberichte, Zeugenlisten. Reden Sie mit Bailey und kriegen Sie raus, was er noch ergänzend sagen kann. Sie wissen, worauf’s ankommt. Schnüffeln Sie rum, und finden Sie einen neuen Verdächtigen für mich. Vielleicht graben wir Beweise aus, die einen anderen belasten und Bailey entlasten. Anderenfalls stehen ihm noch etliche Jahre im Knast bevor; es sei denn, ich kann den Richter davon überzeugen, dass eine neuerliche Haftstrafe völliger Unsinn ist. Und genau das versuche ich natürlich. Bailey hat sich all die Jahre über nichts zu Schulden kommen lassen, und ich persönlich sehe keinen Sinn darin, ihn wieder einzusperren. Ah, hier ist es!«
Er zog eine Akte aus dem Stapel und reichte sie mir. Ich stand auf, wir schüttelten uns die Hand, und er geleitete mich in die vorderen Büroräume zurück. Die Aushilfssekretärin saß mittlerweile hinter ihrem Schreibtisch und versuchte den Anschein von Kompetenz zu verbreiten. Dabei wirkte sie sehr jung und unsicher und schien sich in der Welt der »Habeaskorpus« und anderer juristischer Finessen überhaupt nicht zu Hause zu fühlen.
»Herrje, eines hätte ich beinahe vergessen«, sagte Clemson unvermittelt, als wir schon an der Veranda standen.
»Den Grund dafür, dass Jean in jener Nacht so aufgebracht gewesen war: Sie war schwanger. Im zweiten Monat. Bailey schwört Stein und Bein, dass das Kind nicht von ihm war.«