Читать книгу Sie kannte ihn flüchtig - Sue Grafton - Страница 9
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Bis zu dem Termin in der Haftanstalt blieb mir noch eine Stunde Zeit. Ich nahm den Stadtplan zur Hand und fand das kleine schwarze Viereck mit dem Fähnchen, das Gelände der Central-Coast-Highschool. San Luis Obispo ist keine große Stadt, und die Schule lag nur knapp acht Blocks weit entfernt. Ein auf den Hauptstraßen aufgemalter durchgehender weißer Streifen kennzeichnete einen historischen Stadtrundgang, den ich mir für einen späteren Zeitpunkt in dieser Woche aufhob. Ich habe ein Faible für kalifornische Geschichte und war neugierig auf die Mission und die alten Lehmziegelbauten.
Ich fuhr zu dem Highschool-Gelände und versuchte mir vorzustellen, wie es hier ausgesehen haben mochte, als Jean Timberlake eingeschult worden war. Viele Gebäude stammten aus neuerer Zeit: dunkler, aschgrauer Schlackenstein und cremefarbener Beton, lang gezogene flache Dächer. Turnhalle und Cafeteria dagegen waren erkennbar älteren Datums, im spanischen Kolonialstil mit angegrautem Putz und roten Ziegeldächern. An dem Hang, an dem sich die Straße in einer Rechtsbiegung hinaufwand, standen Pavillons, die früher als Klassenzimmer gedient haben mochten und jetzt kommerziell, unter anderem vom Weight Watcher Klub, genutzt wurden. Die Anlage wirkte eher wie ein College. Sanfte, üppig grüne Hügel bildeten eine schöne Kulisse und eine heitere, freundliche Atmosphäre. Für Jugendliche in dieser Idylle muss die Ermordung der Siebzehnjährigen ein Schock gewesen sein.
Ich erinnerte mich an meine eigene Highschool-Zeit. Wie sensationslüstern wir gewesen waren, wie intensiv extrem emotional wir auf die unscheinbarsten Ereignisse reagiert hatten! Fantasien über den Tod befriedigten unsere Sehnsucht nach dramatischem Erleben, während unsere Alltagswirklichkeit gewöhnlich – glücklicherweise — in Bahnen verlief. Wir waren unglaublich jung und gesund rücksichtslos und erwarteten doch nie, unter den Folgen leiden zu müssen. Eine Konfrontation mit dem Tod, zufällig oder absichtlich, hätte uns in grenzenlose Verwirrung gestürzt. Liebesaffären waren der dramatische Stoff, mit dem wir umzugehen wussten. Unsere Egozentrik war so beherrschend, dass wir überhaupt nicht darauf vorbereitet waren, einen wirklichen Verlust zu verkraften. Mord wäre für uns unfassbar gewesen. Jean Timberlakes Tod war vermutlich für die, die sie gekannt hatten, noch immer ein beunruhigendes Gesprächsthema. Bailey Fowlers plötzliche Rückkehr würde alles wieder aufrühren: die Angst, die Wut, die nahezu unfassbaren Gefühle von Sinnlosigkeit und Entsetzen.
Einer Eingebung folgend, parkte ich den Wagen und suchte die Schulbibliothek auf. Sie glich auf frappierende Weise unserer alten Bibliothek in der Santa-Teresa-Highschool. Es war hell und luftig, der Geräuschpegel gedämpft, der beigefarbene Linoleumfußboden glänzte matt. Es roch nach Möbelpolitur, Zeichenpapier und Klebstoff.
Die Lesetische waren spärlich besetzt, und am Informationspult saß ein junges Mädchen mit krausem Haar und einem Rubin im Nasenflügel. Beim Durchstechen der Ohrläppchen musste sie in eine Art Rausch verfallen sein, beide Ohren waren bis obenhin vielfach durchlöchert, und statt des üblichen Ohrschmucks trug sie bevorzugt jene Gegenstände, die sich im Bodensatz von Küchenschubladen finden: Büroklammern, Schrauben, Sicherheitsnadeln, Schuhbänder, Flügelmuttern. Sie saß auf einem Hocker und hätte das Buch »The Rolling Stones« auf ihrem Schoß. Auf dem Cover sah Mick Jagger mindestens wie sechzig aus.
»Hallo.«
Sie sah mich ausdruckslos an.
»Können Sie mir helfen? Ich bin eine ehemalige Schülerin und habe mein Jahrbuch verlegt. Hier werden doch sicher Kopien aufbewahrt. Ich möchte gern was nachschlagen.«
»Unterm Fenster. Erstes und zweites Regal.«
Ich holte die Bände von drei Jahrgängen heraus und trug sie zu einem Tisch am Ende einer freistehenden Regalreihe. Es klingelte, und aus dem Korridor drangen die Pausengeräusche, Stimmen, das Schlagen von Schranktüren, Lachen, das von den Wänden widerhallte, der muffige Geruch von Turnsocken.
Ich verfolgte die Spur von Jean Timberlakes Bild durch die Jahre zurück. In ihrer Highschool-Zeit, als die kalifornische Jugend gegen den Vietnamkrieg protestierte, Haschisch rauchte und ihr Heil im Landleben suchte, steckten die Mädchen von der Central-Coast-Highschool ihr Haar zu glänzenden Turmfrisuren auf, umrandeten die Konturen ihrer Augen mit schwarzem Eyeliner und malten ihre Lippen weiß an. Die Schülerinnen der Unterstufe trugen weiße Blusen und toupiertes Haar, das mit viel Spray in Form gehalten wurde. Die Jungen hatten feucht glänzende Bürstenschnitte und Zahnklammern. Sie konnten damals nicht ahnen, wie schnell sie sich für Koteletten, Bärte, ausgestellte Hosen und bunte Hemden erwärmen würden.
Jean sah nicht so aus, als habe sie mit den anderen etwas gemein. Sie lächelte nirgends auf den wenigen Gruppenaufnahmen, auf denen ich sie entdeckte, und hatte auch sonst nichts von der kecken Unschuld der Debbies und Tammies jener Zeit. Jeans Augen waren umflort, ihr Blick wie abwesend, in die Ferne gerichtet, und das kaum wahrnehmbare Lächeln in ihren Mundwinkeln drückte stille Amüsiertheit aus, die nach all den Jahren noch deutlich erkennbar war. Das Namensregister der Oberklassen wies sie weder als Mitglied eines Clubs noch eines Schülerkomitees aus. Es waren keine schulischen Auszeichnungen und Ämter unter ihrem Namen verzeichnet, und auch an außerlehrplanmäβigen Aktivitäten hatte sie sich nicht beteiligt. Ich blätterte mehrere Momentaufnahmen zu verschiedenen Schulereignissen durch und fand nirgends ihr Konterfei. Falls sie Football- oder Baseballspiele besucht hatte, musste sie sich stets außerhalb des Kamerablickwinkels aufgehalten haben. Auch an der Theateraufführung der Oberklasse hatte sie nicht teilgenommen. Die Bilder vom Highschool-Ball zeigten fast ausschließlich die »Queen« Barbie Knox und ihren Hofstaat aus turmfrisierten, weißlippigen Prinzessinnen. Jean Timberlake war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Ich notierte mir die Namen ihrer auffälligeren Klassenkameraden, fast alles Jungen. Ich nahm an, dass die Mädchen, falls sie noch in der Gegend lebten, unter dem Namen ihrer Männer im Telefonbuch stehen würden, die ich anderswo herausfinden müsste.
Schuldirektor war damals ein Mann namens Dwight Shales gewesen, dessen Foto auf einer der ersten Seiten eines Jahrbuches abgebildet war. Den Schulrat und seine beiden Vertreter hatte der Fotograf einzeln hinter ihren Schreibtischen mit amtlichen Papieren in der Hand aufgenommen. Manchmal tauchte auf den Bildern auch eine weibliche oder männliche Bürokraft aus dem Sekretariat auf, die dem betreffenden Herrn interessiert und keck über die Schulter blickte. Die Lehrer waren vor Landkarten, Werkgeräten, Schulbüchern oder mit Kreide beschriebenen Wandtafeln aufgenommen. Ich notierte mir die Namen einiger Fachlehrer für den Fall, dass ich zu einem späteren Zeitpunkt Lust verspüren sollte, mit ihnen zu sprechen. Die junge Ann Fowler entdeckte ich auf einem Bild der vier Schulpsychologen mit der Unterschrift: »Diese Berater haben uns unter Aufwendung von viel Zeit, Wissen und Ermutigung bei der Zusammenstellung unseres Stundenplans für das nächste Jahr geholfen oder uns mit Rat und Tat bei der Entscheidung für einen Beruf oder der Wahl eines Colleges zur Seite gestanden.« Mir fiel auf, dass Ann damals hübscher ausgesehen hatte; auf dem Foto wirkte sie längst nicht so müde und frustriert wie heute.
Ich steckte meine Notizen ein und stellte die Bücher in die Regale zurück. Dann ging ich den Korridor entlang am Krankenzimmer und dem Büro des Hausmeisters vorbei. Direktorat und Sekretariat befanden sich in der Nähe des Haupteingangs. Nach dem Namensschild an der Tür zu schließen, war Shales noch immer Direktor der Schule. Ich erkundigte mich bei seiner Sekretärin, ob ich ihn sprechen könne, und wurde nach kurzem Warten in sein Büro geführt. Meine Visitenkarte lag in der Mitte der Löschblattunterlage auf seinem Schreibtisch.
Shales war Mitte fünfzig, mittelgroß, schlank und sportlich, mit einem kantigen Gesicht. Sein einst blondes Haar war offenbar vorzeitig ergraut und länger als in den sechziger Jahren. Er strahlte Autorität aus, und seine haselnussbraunen Augen blickten wachsam wie die eines Polizisten. Sein Blick hatte etwas Abschätzendes, so als blätterte er im Geiste die Schülerakten der vergangenen Jahre auf der Suche nach meinem Strafregister durch. Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen stieg, und fragte mich, ob er wohl intuitiv erkannte, welch schwierige Schülerin ich in meiner Highschool-Zeit gewesen war.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Royce Fowler aus Floral Beach hat mich engagiert, um den Mord an einer Ihrer ehemaligen Schülerinnen, Jean Timberlake, zu untersuchen.« Ich hatte erwartet, dass er sich an das Mädchen sofort erinnern würde, doch er sah mich nur weiterhin betont unbeteiligt an. Er konnte unmöglich wissen, dass ich damals Haschisch geraucht hatte.
»Sie erinnern sich doch sicher an sie«, fuhr ich fort.
»Natürlich. Ich versuche mich nur gerade zu erinnern, ob wir ihre Akten noch aufgehoben haben.«
»Ich komme gerade von einer Unterredung mit Baileys Anwalt. Falls Sie eine Vollmacht brauchen ...«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nicht nötig. Ich kenne Jack Clemson, und ich kenne die Familie. Ich muss die Sache natürlich mit der Schulbehörde klären, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man Ihnen da Schwierigkeiten machen würde ... Vorausgesetzt, wir finden die Akten. Die Frage ist schlicht, was wir noch haben. Immerhin ist das alles über fünfzehn Jahre her.«
»Siebzehn«, verbesserte ich ihn. »Können Sie persönlich sich denn noch an das Mädchen erinnern?«
»Lassen Sie mich die Angelegenheit erst auf dem Amtsweg klären, dann melde ich mich bei Ihnen. Sind Sie von hier?«
»Aus Santa Teresa. Aber ich wohne zur Zeit im Ocean Street Motel in Floral Beach. Ich kann Ihnen meine Telefonnummer geben ...«
»Die habe ich. Ich rufe Sie an, sobald ich mehr weiß. Das wird ein paar Tage dauern. Ich tue, was ich kann, aber garantieren möchte ich für nichts.«
»Das verstehe ich«, sagte ich.
»Gut. Wenn möglich, helfen wir immer gern.« Sein Händedruck war fest und energisch.
Gegen Viertel nach drei Uhr nachmittags verließ ich die Stadt in nördlicher Richtung auf dem Highway I zum Polizeipräsidium von San Luis Obispo, wo auch das Gefängnis untergebracht ist. Drumherum erstreckt sich freies Land mit vereinzelten felsigen Erhebungen. Hügel, die aussehen wie weiche Schaumgummibuckel, samtig überzogen in unterschiedlichen Grünschattierungen. Gegenüber dem Polizeipräsidium auf der anderen Straßenseite liegt das Männergefängnis von Kalifornien, wo Bailey zum Zeitpunkt seiner Flucht einsaß. Ich dachte amüsiert daran, dass in all den Werbeprospekten, die die Vorzüge eines Aufenthalts in San Luis Obispo preisen, die sechstausend Gefangenen unter den Einwohnern mit keinem Wort erwähnt werden.
Ich stellte den Wagen auf einem der Besucherparkplätze vor der Haftanstalt ab. Das Gebäude sah neu aus, es ähnelte in Architektur und Baumaterial den Neubauten der Highschool, von der ich gerade gekommen war. Ich betrat die Eingangshalle und folgte der Beschilderung rechts durch einen kurzen Korridor zur Anmeldung und Information. Dem Polizeibeamten hinter dem gläsernen Schalter gab ich meine Personalien an. Im Hintergrund erkannte ich weitere uniformierte Anstaltsbeamte und den Computerterminal. Links sah ich aus den Augenwinkeln flüchtig den getarnten Eingang zu der Garage, wo die Gefangenentransporte angeliefert wurden.
Während man Bailey holte, wurde ich in eine der gläsernen Besuchszellen geführt. Ein Informationsblatt an der Wand besagte, dass jeweils nur ein Besucher zum Gefangenen vorgelassen werden konnte, man auf Kinder zu achten habe und dass rüdes und respektloses Benehmen gegenüber dem Anstaltspersonal nicht geduldet wurde.
Gedämpft drang das Klappen von Türen zu mir herüber. Dann erschien Bailey Fowler, seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den Beamten, der die Kabine aufschloss, in der er während unserer Unterredung sitzen würde. Uns trennte eine Glaswand, sodass wir uns über die Telefonhörer auf seiner und meiner Seite verständigen mussten. Fowler sah mich ohne jedes Zeichen von Neugier an und setzte sich. Seine Haltung war irgendwie unterwürfig, und ich stellte fest, dass ich mich für ihn schämte. Er trug ein weites orangerotes Baumwollhemd über einer dunkelgrauen Baumwollhose. Das Foto in der Zeitung hatte ihn im Anzug und mit Krawatte gezeigt. Seine ungewohnte Kleidung schien ihn ebenso zu verunsichern wie sein Status als Gefängnisinsasse. Fowler sah ausgesprochen gut aus, er hatte ernste blaue Augen, hohe Backenknochen, einen vollen Mund und dunkelblondes Haar, das einen Schnitt gebrauchen konnte. Er rutschte auf dem harten braunen Stuhl hin und her, hielt die Knie mit den Händen umklammert und verzog keine Miene.
Ich griff nach dem Telefonhörer, wartete kurz, bis auch er seinen Hörer zur Hand genommen hatte, und sagte: »Ich bin Kinsey Millhone.«
»Kenne ich Sie?«
Unsere Stimmen hatten einen seltsamen Klang; ein wenig zittrig und viel zu nah.
»Ich bin Privatdetektivin. Ihr Vater hat mich engagiert. Ich komme gerade von Ihrem Anwalt. Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«
»Ja, mehrmals am Telefon. Er soll heute Nachmittag kurz vorbeikommen.« Seine Stimme war ebenso emotionslos wie sein Blick.
»Darf ich Sie Bailey nennen?«
»Selbstverständlich.«
»Hören Sie, die ganze Sache ist ziemlich verfahren, aber Clemson ist ein guter Mann. Er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um Sie hier rauszukriegen.«
Baileys Miene wurde düster. »Dann sollte er schnell was unternehmen.«
»Haben Sie Familie in Los Angeles? Frau und Kinder?«
»Warum?«
»Für den Fall, dass ich jemanden benachrichtigen soll.«
»Ich habe keine Familie. Holen Sie mich gefälligst hier nur raus, verdammt noch mal.«
»Ganz ruhig. Ich weiß, es ist hart.«
Er hob den Blick, sah flüchtig zur Seite, und Ärger blitzte in seinen Augen auf, bevor seine Miene plötzlich wieder ausdruckslos wurde. »Entschuldigen Sie.«
»Reden Sie mit mir. Wir haben vielleicht nicht mehr lange Zeit.«
»Worüber?«
»Über alles. Wann sind Sie hierher gekommen? Wie war die Fahrt?«
»Gut.«
»Wie sieht die Stadt aus? Hat sie sich sehr verändert?«
»Ich kann hier nicht höflich Konversation machen. Das dürfen Sie von mir nicht verlangen.«
»Seien Sie nicht störrisch. Dazu haben wir zu viel Arbeit vor uns.«
Er schwieg einen Augenblick und schien sichtlich mit sich zu kämpfen. Dann entschloss er sich, kommunikativ zu sein. »Jahrelang bin ich durch diesen Teil des Staates nicht mal mit dem Auto gefahren, aus Angst, dass man mich anhalten würde.« Am anderen Ende der Sprechleitung wurde es plötzlich still. Sein Blick war der eines Gehetzten, als sehnte er sich danach, zu reden, habe jedoch die Fähigkeit, sich verständlich zu machen, verloren.
»Noch sind Sie nicht tot.«
»Das sagen Sie.«
»Sie müssen gewusst haben, dass Ihnen das jeden Tag passieren konnte.«
Er neigte den Kopf zur Seite und begann ihn in einer Art Entspannungsübung kreisen zu lassen. »Als sie mich das erste Mal geschnappt haben, dachte ich, es sei aus. Mein Pech, dass sie hier einen Peter Lambert wegen Mordes suchen. Als sie mich wieder laufen ließen, habe ich an eine Chance geglaubt.«
»Es überrascht mich offen gestanden, dass Sie nicht gleich gestürmt sind.«
»Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan. Aber ich war zu lange frei gewesen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie mir auf die Schliche kommen würden. Ich dachte, die alte Geschichte würde niemanden mehr interessieren. Außerdem hatte ich einen Job. Ich konnte doch nicht alles hinschmeißen und davonlaufen.«
»Sie sind in der Konfektionsbranche, stimmt’s? Das steht in den Papieren aus L. A.«
»Ich habe für Needham gearbeitet. Letztes Jahr war ich einer der erfolgreichsten Verkäufer. Deshalb wurde ich befördert. Zum Bezirksleiter im Westen. Vermutlich hätte ich ablehnen müssen, aber ich hatte hart gearbeitet und war es leid, immer nein zu sagen. Das bedeutete natürlich, dass ich nach L. A. umziehen musste. Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass man mich nach all den Jahren finden würde.«
»Wie lange haben Sie für die Firma gearbeitet?«
»Zwölf Jahre.«
»Wie hat Ihr Arbeitgeber reagiert? Können Sie mit seiner Hilfe rechnen?«
»In der Firma waren alle großartig. Mein Chef will herkommen und für mich aussagen ... für meinen guten Leumund. Aber was soll das nützen? Ich komme mir wie ein Idiot vor. All die Jahre habe ich mir nichts zu Schulden kommen lassen. War der sprichwörtliche ideale Staatsbürger.«
»Aber das ist doch nur gut. Das bringt Sympathien. Und ändert vieles ...«
»Aber nicht die Tatsachen. Man türmt eben nicht ungestraft aus dem Gefängnis.«
»Lassen Sie das mal lieber Clemsons Sorge sein.«
»Bleibt mir wohl gar nichts anderes übrig«, murmelte er. »Und was sollen Sie dabei tun?«
»Herausfinden, wer Jean Timberlake wirklich umgebracht hat, damit Sie entlastet sind.«
»Da sehe ich schwarz.«
»Einen Versuch ist es wert. Haben Sie eine Idee, wer es gewesen sein könnte?«
»Nein.«
»Erzählen Sie mir von Jean.«
»Sie war ein nettes Mädchen. Wild, aber nicht schlecht. Ziemlich chaotisch.«
»Schwanger.«
»Ja, aber es war nicht mein Kind.«
»Da sind Sie sicher.« Es sollte wie eine Feststellung klingen, aber die leise Frage dahinter war nicht zu überhören.
Bailey ließ den Kopf für eine Weile sinken und wurde rot. »Damals habe ich ’ne Menge getrunken und Drogen genommen. Im Bett war ich eine Niete. Besonders nach meinem Aufenthalt in Chino. Aber das spielte auch keine Rolle. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie einen anderen.«
»Sie waren impotent?«
»Sagen wir, >vorübergehend nicht funktionstüchtige‹.«
»Nehmen Sie noch Drogen?«
»Nein, und ich habe seit fünfzehn Jahren nicht mehr getrunken. Alkohol löst die Zunge. Das konnte ich nicht riskieren.«
»Mit wem hatte Jean sich damals eingelassen? Haben Sie ’ne Ahnung?«
Er schüttelte erneut den Kopf. »Der Kerl war verheiratet.«
»Woher wissen Sie das?«
»So viel hat sie mir immerhin erzählt.«
»Und Sie haben es geglaubt?«
»Weshalb hätte sie lügen sollen? Er war ein Mann in angesehener Position, und Jean war minderjährig.«
»Der Typ hatte also eine Menge zu verlieren, falls die Sache herausgekommen wäre.«
»Nehme ich an. Und Jean hätte es kaum Spaß gemacht, ihm beichten zu müssen, dass sie’s verpatzt hatte. Sie hatte Angst.«
»Sie hätte abtreiben können.«
»Sicher ... wenn sie dazu noch Zeit gehabt hätte. Dass sie schwanger war, hat sie ja erst an jenem Tag erfahren.«
»Wer war ihr Arzt?«
»Einen Frauenarzt hatte sie damals noch gar nicht. Dr. Dunne war der Hausarzt, aber den Schwangerschaftstest hat sie in der Ambulanz einer Klinik unten in Lompoc machen lassen, wo man sie nicht kannte.«
»Verrückt! Ist sie denn so bekannt gewesen?«
»In Floral Beach sicher.«
»Was ist mit Tap? Könnte er der Vater gewesen sein?«
»Kaum. Jean fand ihn dämlich, und er mochte sie auch nicht. Außerdem war er nicht verheiratet, und selbst wenn’s sein Kind gewesen wäre, hätte ihn das doch kaum gejuckt.«
»Was gibt’s sonst noch? Je mehr ich weiß, desto besser.«
»Hm, keine Ahnung ... Jean war ein uneheliches Kind und hat immer versucht herauszubekommen, wer ihr Vater war. Die Mutter hat jede Auskunft verweigert, aber es kam jeden Monat Geld mit der Post. Jean nahm deshalb an, dass er irgendwo noch existieren musste.«
»Hat sie die Schecks je zu Gesicht bekommen?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er per Scheck gezahlt hat, aber irgendwie muss sie ihm trotzdem auf die Spur gekommen sein.«
»Ist sie im San Luis County geboren worden?«
Im Hintergrund klirrten Schlüssel, und wir drehten uns beide um. Der Vollzugsbeamte stand in der Tür. »Sprechzeit ist aus. Tut mir Leid, dass ich unterbrechen muss. Wenn Sie noch mehr zu besprechen haben, muss Mr. Clemson einen neuen Termin arrangieren.«
Bailey stand widerspruchslos auf, aber es war ihm anzumerken, dass er sich bereits wieder in sein Schneckenhaus zurückgezogen hatte. Welche Energien unser Gespräch auch immer freigesetzt haben mochte, sie waren bereits wieder verflogen. Der abgestumpfte Ausdruck war in sein Gesicht zurückgekehrt und ließ ihn nicht besonders intelligent aussehen.
»Wir sehen uns nach der offiziellen Anklageerhebung wieder«, sagte ich.
Zum Abschied blitzte Verzweiflung in Baileys Augen auf.
Nachdem er weggeführt worden war, blieb ich noch eine Weile sitzen und machte mir Notizen. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht selbstmordgefährdet war.