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Das Haus in der Old Reservoir Road schien im letzten Bauabschnitt zu stecken. Ich sah es, sowie ich um die Kurve bog, und erkannte das unfertige Gebäude anhand von Fiona Purcells Beschreibung auf den ersten Blick. Zu meiner Rechten konnte ich einen Teil des Stausees ausmachen, nach dem die Straße benannt war. Der Brunswick Lake erstreckt sich über den Grund einer geologischen Senke und ist ein von Quellen gespeistes Gewässer, das die Stadt jahrelang mit Trinkwasser versorgt hat. Im Jahre 1953 wurde ein zweites, größeres Auffangbecken gebaut, und heute ist der Brunswick Lake kaum mehr als ein unregelmäßiges blaues Fleckchen auf der Landkarte. Schwimmen und Bootfahren sind verboten, doch zu den entsprechenden Jahreszeiten rasten Wasserzugvögel, die auf dem Weg nach Süden sind, auf seiner stillen Oberfläche. Die umstehenden Hügel sind karge, sanfte Anhöhen und ziehen sich bis zu den Bergen hin, die die nördliche Grenze des Stadtgebiets von Santa Teresa bilden.

Ich parkte meinen VW auf dem gekiesten Bankett und überquerte die zweispurige Straße. Das steil ansteigende Grundstück war noch völlig ungestaltet und bestand ausschließlich aus nacktem Lehm und Steinbrocken, zwischen denen sich vereinzeltes Unkraut angesiedelt hatte. Unten an der Straße stand ein großer Abfallcontainer, der bis zum Rand mit Bauschutt angefüllt war. Ein kleiner Schilderwald im Vorgarten verkündete die Namen des Bauunternehmers, des Malerbetriebs und des Architekten, obwohl sich Mrs. Purcell am Telefon beeilt hatte, mir zu versichern, dass sie die Pläne selbst ausgearbeitet hätte. Der Entwurf – wenn Sie ihn denn so nennen wollen – wäre auch vom Verteidigungsministerium gutgeheißen worden: eine undurchdringliche Ansammlung von Betonschachteln, die sich trutzig und schmucklos unter der matten Novembersonne auf der Anhöhe stapelten. Die Fassade war so glatt wie bei einem Bunker, ein brutaler Kontrast zu den weitläufigen Wohnhäusern im spanischen Stil auf den umliegenden Grundstücken. Irgendwo hinter dem Haus musste es eine Zufahrt geben, die zu Garagen und Stellplätzen führte, doch ich entschied mich für die Stufen, die in den kahlen Hügel gebaut worden waren. Um sechs Uhr war ich meine fünf Kilometer gejoggt, aber ich hatte mein freitagmorgendliches Krafttraining ausfallen lassen, um diesen frühen Termin einzuhalten. Jetzt war es gerade acht Uhr, und ich merkte, wie lahm ich mich die Treppen hinaufschleppte.

Hinter mir hörte ich einen Hund bellen. Sein tiefes, kehliges Kläffen hallte durch das enge Tal. Offenbar war er aufgeregt. Eine Frau rief: »Trudy! Truuudy!«, während der Hund weiter bellte. Sie pfiff durchdringend, und ein junger Schäferhund kam über den Hügel getollt und raste mit vollem Tempo auf mich zu. Ich blieb stehen und wappnete mich gegen einen Ansturm matschiger Pfoten, doch in der allerletzten Sekunde erklang das Pfeifen erneut, und der Hund jagte davon. Ich stieg weiter Fionas breite Betonstufen hinauf, die zweimal die Richtung wechselten, bevor ich auf der obersten Terrasse mit ihrem Portikus aus glattem Kalkstein anlangte, der dem Vordereingang Schatten spendete. Mittlerweile brannte es mir in den Schenkeln, ich schnaufte und keuchte, und mein Herz machte Ratatatatat wie ein Maschinengewehr. Ich hätte schwören können, dass die Luft hier oben weniger Sauerstoff enthielt, aber in Wirklichkeit hatte ich nur eine Höhe von zwei Stockwerken erklommen und wusste, dass ich mich vermutlich nicht mehr als hundert oder hundertzwanzig Meter über Meereshöhe befand. Ich drehte mich um und tat so, als bewunderte ich die Aussicht, während ich um Atem rang.

Von diesem luftigen Punkt aus konnte ich das breite, schimmernde Band des Pazifiks sehen, das sich in etwa acht Kilometer Entfernung an die Küste heftete. Der Tag war so klar, dass ich fast die Bergketten auf den vierzig Kilometer weit vorgelagerten Inseln abzählen konnte. Hinter mir spähten Wolken über die Berggipfel, eine schnell dahinziehende dunkelgraue Decke, die ein Gewitter ankündigte. San Francisco, sechshundert Kilometer weiter nördlich gelegen, bekam dessen Auswirkungen bereits zu spüren.

Als ich endlich auf die Klingel drückte, atmete ich wieder normal und hatte mir die Angelegenheit, die ich hier besprechen wollte, noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Fiona Purcells Exmann, Dr. Dowan Purcell, wurde seit neun Wochen vermisst. Sie hatte mir durch Boten einen dicken, gelben Umschlag mit Zeitungsausschnitten überbringen lassen, in denen es um sein Verschwinden ging. Ich setzte mich in mein Büro, den Drehstuhl zurückgekippt und die Füße in den Sauconys auf die Schreibtischkante gestützt, um die Artikel zu studieren, die sie mir geschickt hatte. Sie hatte sie chronologisch sortiert, aber sonst auf jeden Kommentar verzichtet. Ich hatte die Geschichte in den Lokalzeitungen verfolgt, aber nie damit gerechnet, selbst mit dem Fall zu tun zu bekommen. Ich fand es hilfreich, alles noch einmal in dieser gebündelten Form vor mir zu sehen.

Mir fiel auf, dass der Tenor der Berichterstattung im Lauf von neun Wochen nach den ersten zweiundsiebzig Stunden der Verblüffung in tagelange, fieberhafte Spekulationen übergegangen war und schließlich auf Dauer die Form angenommen hatte, die den aktuellen Stand der Ermittlungen wiedergab. Nichts Neues war ans Licht gekommen – nicht dass es je viel zu berichten gegeben hätte. Aus Mangel an aktuellen Informationen hatte das Interesse der Öffentlichkeit massiv abgenommen, und die Aufmerksamkeit, die die Medien der Angelegenheit widmeten, war so knapp und kühl geworden wie die kurzen Novembertage. Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir uns nur begrenzte Zeit mit den Rätseln des Lebens beschäftigen können, bevor wir das Interesse verlieren und uns etwas anderem zuwenden. Dr. Purcell wurde seit Freitag, den 12. September, vermisst, und die langen Kolumnen, in denen anfangs über sein Verschwinden berichtet wurde, waren nun gelegentlichen Erwähnungen mit fast gebetsmühlenhaftem Ton gewichen. Die Einzelheiten wurden wiederholt, doch die Neugier hatte sich aufregenderen Ereignissen zugewandt.

Dr. Purcell war neunundsechzig Jahre alt und hatte seit 1944 als Hausarzt in Santa Teresa praktiziert. Die letzten fünfzehn Jahre hatte er sich auf Geriatrie spezialisiert. 1981 war er in den Ruhestand gegangen. Sechs Monate später war er als Verwaltungsleiter eines Pflegeheims namens Pacific Meadows zugelassen worden, das zwei Geschäftsleuten gehörte. An dem fraglichen Freitagabend hatte er Überstunden gemacht und war in seinem Büro geblieben, um Unterlagen durchzusehen, die mit dem Betrieb des Pflegeheims zusammenhingen. Laut Zeugenaussagen war es schon fast neun Uhr gewesen, als er kurz an der Rezeption stehen geblieben war und den Dienst habenden Schwestern eine gute Nacht gewünscht hatte. Zu dieser Stunde befanden sich die Heimbewohner bereits in ihren Zimmern und hatten die Türen zu den nur noch matt erleuchteten, menschenleeren Fluren geschlossen. Dr. Purcell hatte ein Weilchen mit einer alten Dame geredet, die in ihrem Rollstuhl in der Halle saß. Nach kurzem Geplauder, das ihrer Aussage nach kaum eine Minute gedauert hatte, war der Doktor durch die Vordertür in die Nacht hinausgegangen. Er holte seinen Wagen von seinem persönlichen Stellplatz an der Nordseite des Gebäudekomplexes, verließ das Gelände und fuhr in das schwarze Nichts, aus dem er nie wieder aufgetaucht war. Die Polizei von Santa Teresa und der Sheriff von Santa Teresa County hatten unzählige Stunden auf den Fall verwendet, und ich konnte keinen Weg nennen, der von den örtlichen Polizeibehörden noch nicht beschritten worden wäre.

Ich klingelte erneut. Fiona Purcell hatte mir erklärt, dass sie kurz vor der Abreise nach San Francisco stand, wo sie sich fünf Tage aufhalten wollte, um Möbel und Antiquitäten für einen Klienten ihres Innenarchitekturbüros auszusuchen. Den Unterlagen zufolge waren Fiona und der Doktor seit fünf Jahren geschieden. Ich fragte mich beiläufig, warum sie diejenige gewesen war, die mich angerufen hatte, und nicht seine derzeitige Frau Crystal.

Ich sah, wie in einer der beiden Glasscheiben, die den Eingang flankierten, ein Gesicht auftauchte. Fiona, mit einem doppelreihigen Nadelstreifenkostüm mit breitem Revers bereits reisefertig gekleidet, öffnete die Tür. Sie streckte mir eine Hand entgegen. »Ms. Millhone? Fiona Purcell. Tut mir Leid, dass Sie warten mussten. Ich war im hinteren Teil des Hauses. Bitte kommen Sie herein.«

»Danke. Sie können mich Kinsey nennen, wenn Sie wollen. Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte ich.

Wir schüttelten uns die Hände, und ich betrat die Diele. Ihr Händedruck war lasch, was mich an Leuten, die sonst zupackend und geschäftsmäßig auftreten, stets verblüfft. Ich schätzte sie auf Ende sechzig, also fast so alt wie Dr. Purcell selbst. Sie trug die Haare dunkelbraun gefärbt und seitlich gescheitelt. Bauschig gefönte Ponyfransen und Büschel künstlich erzeugter Locken wurden von strassbesetzten Kämmen aus dem Gesicht gehalten, ein Stil, wie ihn glamouröse Filmstars der vierziger Jahre pflegten. Fast erwartete ich schon einen Auftritt von John Agar oder Fred MacMurray – irgendeines armen, arglosen Mannes, der dieser Amazone mit ihren massiven Schulterpolstern zum Opfer fallen würde. »Wir können uns im Wohnzimmer unterhalten«, sagte sie. »Bitte entschuldigen Sie die Unordnung.«

In der Diele war bis an die hohe Decke ein Gerüst aufgebaut worden. Lose Abdecktücher schützten die Treppe und den breiten Flur, der in den hinteren Teil des Hauses führte. Auf einer Seite der Treppe stand ein Konsoltischchen mit einer stromlinienförmigen Chromlampe. Momentan schienen wir beide allein im Haus zu sein.

»Ihr Flug geht um zehn?«, fragte ich.

»Keine Sorge. Ich brauche nur acht Minuten zum Flughafen. Wir haben mindestens eine Stunde Zeit. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Ich trinke meinen hier drin.«

»Nein danke. Ich habe heute Morgen zwei Tassen getrunken, und das ist im Allgemeinen mein Limit.«

Fiona wandte sich nach rechts, und ich folgte ihr über einen breiten Streifen nackten Zement hinweg. »Wann werden denn die Fußböden gelegt?«

»Das sind die Fußböden.«

Ich machte »Ah« und nahm mir vor, nicht mehr nach Dingen zu fragen, die meinen Horizont bei weitem überstiegen.

Im Inneren des Hauses herrschte der kühle, leicht feuchte Geruch nach Gips und frischer Farbe. Sämtliche Wände in Sichtweite waren strahlend weiß, die Fenster hoch und schmucklos, ohne Vorhänge oder Gardinen. Ein heimlicher Blick nach hinten ließ mich in einen auf der anderen Seite des Eingangs gelegenen, unmöblierten Raum spähen, der vermutlich das Esszimmer war und in den rhombenförmig das klare Morgenlicht einfiel. Der Widerhall unserer Schritte klang wie eine kleine Parade.

Im Wohnzimmer angelangt, wies Fiona auf einen von zwei wuchtigen, überdimensionalen Sesseln, die passend zu dem grauen Zementfußboden mit einem neutralen Stoff bezogen waren. Auf dem Boden lag ein großer Teppich mit einem dicht gewebten Gittermuster aus schwarzen Linien auf grauem Grund. Ich setzte mich gleichzeitig mit ihr und sah ihr zu, wie sie den Raum mit dem geübten Blick der Ästhetin musterte. Das Mobiliar war eindrucksvoll : helles Holz, Stahlrohr, klare geometrische Formen. Ein riesiger, runder Spiegel, der in einer verchromten Sichel ruhte, hing über dem Kamin. Auf dem Couchtisch aus facettiertem Glas stand auf einem Silbertablett eine hohe Kaffeekanne aus Silber und Elfenbein mit dazu passendem Milchkännchen und Zuckerdose. Sie schenkte sich Kaffee nach. »Sind Sie ein Fan von Art Déco?«

»Ich weiß nicht viel darüber.«

»Ich sammle schon seit Jahren. Der Teppich ist ein Da Silva Bruhns. Und das hat Wolfgang Tumpel entworfen, falls Ihnen der Name etwas sagt«, sagte sie und nickte zu dem Kaffeeservice hin.

»Schön«, murmelte ich, ohne eine Ahnung zu haben.

»Die meisten dieser Stücke sind einzigartig und wurden von Kunsthandwerkern entworfen, die zu ihrer Zeit Meister waren. Ich könnte die Namen jetzt herunterrasseln, aber ich bezweifle, dass sie Ihnen viel sagen würden, wenn Sie mit der Epoche nicht vertraut sind. Ich habe das hier als Schaukasten für meine Sammlung gebaut, aber sowie das Haus fertig ist, werde ich es vermutlich verkaufen und weiterziehen. Ich bin von Natur aus ungeduldig und viel zu unruhig, um lange hier zu bleiben.« Sie hatte ausgeprägte Gesichtszüge, schmale, bogenförmige Brauen und dunkel verschmierte Augen, unter deren inneren Winkeln sich deutliche Müdigkeitsmale abzeichneten. Sie trank einen Schluck Kaffee und nahm sich dann eine Zigarette aus einer Packung auf dem Tisch. Das Feuerzeug, das sie benutzte, war eines dieser zierlichen goldenen Modelle und gab kaum ein Geräusch von sich, als sie den Deckel aufklappte und am Zündrädchen drehte. Sie behielt das Feuerzeug in der Hand und zog tief an ihrer Zigarette, zweifellos ein Genuss für sie. Sie wandte den Kopf zur Decke und blies den Rauch in einem Strom aus. Ich konnte auf dem Nachhauseweg meinen Blazer ja ohne weiteres in die Reinigung bringen.

»Ich glaube, ich habe das nicht erwähnt, als wir uns neulich unterhalten haben«, sagte sie, »aber Dana Glazer hat mir empfohlen, mich an Sie zu wenden. Als Sie sie kannten, muss sie noch Dana Jaffe geheißen haben.«

»Tatsächlich. Woher kennen Sie sie?«

»Ich helfe ihr, ihr Haus neu einzurichten. Sie ist jetzt mit Joel Glazer verheiratet, einem von Dows Arbeitgebern. Seine erste Frau ist gestorben. Kennen Sie Joel? Er ist Teilhaber einer Firma namens Century Comprehensive, der unter anderem eine Kette von Pflegeheimen gehört.«

»Den Namen Glazer kenne ich aus der Presse, aber persönlich begegnet bin ich ihm nie«, sagte ich. Langsam begriff ich den Zweck ihres Anrufs, auch wenn ich immer noch nicht wusste, wie ich ihr helfen konnte. Dana Jaffes erster Mann Wendell war 1979 verschwunden, allerdings unter ganz anderen Umständen, als sie in diesem Fall vorlagen. Wendell Jaffe war ein aus eigener Kraft nach oben gekommener Immobilienmagnat, der sich mit einer Haftstrafe konfrontiert sah, nachdem ein betrügerisches Investmentsystem, das er ausgetüftelt hatte, aufzufliegen und seine Machenschaften ans Licht zu bringen drohte. Er täuschte seinen eigenen Tod vor, tauchte aber, kurz nachdem seine »Witwe« eine halbe Million Dollar von der Lebensversicherung kassiert hatte, quicklebendig wieder auf. Der »Pseudoselbstmord« war sein Versuch, einer unvermeidlichen Verurteilung wegen schweren Betrugs zu entgehen. Er hätte es fast geschafft, doch dann wurde er von einem früheren Bekannten in Mexiko gesehen, und ich war von der Versicherung auf ihn angesetzt worden, die ihr Geld zurückhaben wollte. Ich fragte mich, ob Fiona auch den Verdacht hegte, dass ihr Exmann eine krumme Tour abgezogen hatte.

Sie stellte ihre Kaffeetasse ab. »Haben Sie die Zeitungsartikel bekommen?«

»Der Bote hat sie mir gestern ins Büro gebracht. Ich habe sie gestern Abend durchgelesen und dann noch einmal heute Morgen. Die Polizei hat gründlich gearbeitet –«

»Oder möchte uns das zumindest weismachen.«

»Sie sind nicht zufrieden mit ihren Fortschritten?«

»Fortschritte! Was denn für Fortschritte? Dowan ist immer noch verschwunden. Ich sage Ihnen, was sie zu Wege gebracht haben: null Komma nichts. Ja, sicher, sie tun, was vordergründig von ihnen erwartet wird – geben öffentliche Kommentare ab und äußern Besorgnis -, aber das ist doch alles Schall und Rauch und bedeutet überhaupt nichts.«

Mir widerstrebte ihre Einstellung, doch ich beschloss, noch nicht gleich zu protestieren. Ich finde die Cops sagenhaft, aber warum sollte ich mich deswegen mit Fiona anlegen? Sie wollte mich engagieren, und ich war hier, um festzustellen, was ich beitragen konnte. »Was ist der letzte Stand der Dinge?«, fragte ich.

»Kein Mensch hat einen Mucks von ihm gehört, zumindest soweit ich weiß.« Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette und streifte dann die Asche in einem schweren Aschenbecher aus Kristall ab. Ihr Lippenstift war dunkel und hatte sich in den haarfeinen Falten über ihrer Oberlippe abgesetzt. Sie hatte einen deutlichen Halbmond an der Kaffeetasse und einen ganzen Ring am Filter ihrer Zigarette hinterlassen. Ihr Schmuck war klobig: große silberne Ohrclips und ein dazu passendes Armband. Zwar war die Wirkung elegant, aber alles an ihr erinnerte an Immobiliengeschäfte und klassische Bekleidungsläden. Ich malte mir aus, dass ich, wenn ich mich näher zu ihr beugen würde, den Geruch von Mottenkugeln und Zedernholzschränken wahrnehmen würde, vermischt mit Düften aus den vierziger Jahren, Shalimar und Old Golds. In manchen Momenten strahlte sie atemberaubende, grelle Schlaglichter einer Schönheit aus, die sie mit ihrem Styling nach Kräften unterstrich. Sie senkte den Blick. »Sie wissen natürlich, dass wir geschieden sind.«

»In einem der Artikel, die Sie mir geschickt haben, war die Rede davon. Was ist mit seiner jetzigen Frau?«

»Ich habe während dieser ganzen Tortur nur ein einziges Mal mit Crystal gesprochen. Sie hat sich die größte Mühe gegeben, mich auszugrenzen. Meine Töchter halten mich auf dem Laufenden, und sie halten engen Kontakt zu ihr. Ohne die beiden hätte ich noch weniger Informationen als so, was weiß Gott nicht viel ist.«

»Sie haben zwei Töchter?«

»Stimmt. Blanche, die jüngere, und ihr Mann wohnen nur vier Straßen entfernt. Melanie, die ältere, lebt in San Francisco. Ich fahre bis Dienstag nächster Woche zu ihr.«

»Haben Sie Enkel?«

»Mel war nie verheiratet. Und Blanche erwartet in etwa drei Wochen ihr fünftes Kind.«

»Wow.«

Fiona lächelte säuerlich. »Mutterschaft ist eben ihre Art, einem richtigen Job aus dem Weg zu gehen.«

»Ein ›richtiger‹ Job kommt mir leichter vor. Ich könnte das nicht, was sie macht.«

»Sie schafft es selbst kaum. Zum Glück haben die Kinder ein überaus kompetentes Kindermädchen.«

»Wie kommen Ihre Töchter mit Crystal aus?« »Gut, glaube ich. Aber was bleibt ihnen schließlich für eine Wahl? Wenn sie nicht nach ihrer Pfeife tanzen, sorgt sie dafür, dass sie weder ihren Vater noch ihren Halbbruder je wiedersehen. Wissen Sie, dass Dow und Crystal einen Sohn haben? Er heißt Griffith und ist gerade zwei geworden.«

»Ich erinnere mich, dass von dem Jungen gesprochen wurde. Darf ich Sie Fiona nennen?«

Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette und legte sie in die Mulde des vor ihr stehenden Aschenbechers. »Mrs. Purcell wäre mir lieber, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Beim Sprechen quoll ihr Rauch aus dem Mund, den sie nachdenklich zu mustern schien.

»Ja, gut. Haben Sie eigentlich eine Theorie, was das Verschwinden Ihres Exmannes betrifft?«

»Sie sind eine der wenigen, die sich überhaupt die Mühe machen, zu fragen. Offenbar zählt meine Meinung nicht. Ich vermute, dass er in Europa oder Südamerika ist und den richtigen Augenblick dafür abwartet, wieder nach Hause zu kommen. Crystal glaubt, er sei tot – das habe ich wenigstens gehört.«

»So abwegig ist das nicht. Den Zeitungen zufolge hat es auf seinen Kreditkartenkonten keine Bewegungen gegeben. Weder er noch sein Wagen sind irgendwo gesehen worden.«

»Tja, das stimmt nicht ganz. Es gab mehrere Meldungen. Angeblich wurde er an so weit entfernten Orten wie New Orleans und Seattle gesehen. Man hat ihn beobachtet, wie er am JFK-Flughafen in ein Flugzeug gestiegen ist, und dann wieder südlich von San Diego, auf dem Weg nach Mexiko.«

»Elvis wird auch immer wieder gesehen. Das heißt aber nicht, dass er lebt und wohlauf ist.«

»Stimmt. Andererseits hat aber jemand, auf den Dows Beschreibung passt, versucht, nach Kanada einzureisen, ist aber davongegangen, als ihn der Zollbeamte nach seinem Pass gefragt hat. Der fehlt übrigens.«

»Wirklich. Das ist ja interessant. Das haben die Zeitungen nicht erwähnt. Ich nehme an, die Polizei hat das verfolgt?«

»Man kann es nur hoffen«, meinte sie. Ihr Tonfall hatte etwas Hohles. Wenn sie nur mich überzeugen könnte, dann würden sich ihre Aussagen vielleicht als wahr entpuppen.

»Sie sind sich sicher, dass er noch lebt?«

»Ich kann mir nichts anderes denken. Der Mann hat keine Feinde, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er das Opfer einer ›Bluttat‹ geworden sein soll«, sagte sie und malte mit den Fingern die Anführungszeichen in die Luft. »Die Vorstellung ist absurd.«

»Weshalb?«

»Dow kann bestens auf sich selbst aufpassen, jedenfalls in physischer Hinsicht. Was er allerdings nicht beherrscht, ist, sich den Problemen in seinem Leben zu stellen. Er ist passiv. Anstatt zu kämpfen oder zu flüchten, legt er sich hin und stellt sich gewissermaßen tot. Er würde alles Mögliche anstellen, um sich nicht mit Konflikten abzugeben, vor allem solchen mit Frauen. Das geht bis zu seiner Mutter zurück, aber das ist eine ganz andere Geschichte.«

»Hat er schon mal so etwas getan?«

»Offen gestanden, ja. Das habe ich auch dem Kriminalbeamten zu erklären versucht. Vergebens, wie ich hinzufügen möchte. Dowan hat das schon zweimal gemacht. Das erste Mal waren Melanie und Blanche – lassen Sie mich nachdenken – schätzungsweise erst sechs und drei. Dowan blieb drei Wochen lang verschwunden. Er ist ohne ein Wort abgehauen und mehr oder weniger genauso wiedergekommen.«

»Wo war er gewesen?«

»Ich habe keine Ahnung. Beim zweiten Mal war es so ähnlich. Es war Jahre später, kurz bevor wir uns endgültig getrennt haben. Am einen Tag war er noch da und am Nächsten verschwunden. Ein paar Wochen später kam er ohne ein Wort der Erklärung oder der Entschuldigung zurück. Natürlich habe ich vermutet, dass sein jüngstes Verschwinden eine Wiederholung war.«

»Was hat sein Verschwinden bei den früheren Gelegenheiten ausgelöst?«

Sie machte eine vage Geste, während der Rauch von der Spitze ihrer Zigarette aufstieg. »Ich schätze, wir hatten Probleme. Die hatten wir meistens. Auf jeden Fall sagte Dow immer wieder, er bräuchte Zeit, um seinen Kopf klar zu kriegen – was auch immer das heißen sollte. Eines Tages kurz darauf kam er einfach nicht nach Hause. Er hatte all seine Termine abgesagt, gesellschaftliche Verpflichtungen eingeschlossen, und zwar ohne mir oder sonst jemandem ein Wort zu sagen. Das Erste, was mir auffiel, war, dass er nicht zum Abendessen kam. Beim zweiten Mal war es genauso, nur dass ich nicht mehr vor Sorge außer mir war.«

»Also hat er sich beide Male ganz ähnlich verhalten wie dieses Mal?«

»Genau. Beim ersten Mal habe ich Stunden gebraucht, bevor ich begriff, dass er weg war. Als Arzt wurde er natürlich oft aufgehalten. Gegen Mitternacht war ich wie rasend – fast hysterisch. Ich dachte, ich würde wahnsinnig.«

»Sie haben die Polizei angerufen?«

»Ich habe jeden angerufen, der mir eingefallen ist. Dann ist am nächsten Morgen eine Nachricht mit der Post gekommen. Er schrieb, er käme irgendwann wieder nach Hause, was er ja auch getan hat. Ich war natürlich wütend, aber er wirkte völlig ungerührt. Blöd wie ich bin, habe ich ihm verziehen, und wir haben weitergemacht wie zuvor. Die Ehe lief gut – aus meiner Sicht jedenfalls gut genug. Ich dachte, er sei glücklich – bis zu dieser Geschichte mit Crystal. Womöglich hat er schon jahrelang mit ihr herumgemacht.«

»Warum sind Sie geblieben?«

»In meinen Augen war er ein guter Ehemann. So naiv war ich. Er neigte zwar zur Distanziertheit, aber das nahm ich ihm nicht übel, jedenfalls nicht bewusst. Vielleicht habe ich einen gewissen Groll empfunden, aber das gestand ich mir nicht ein. Rückblickend ist mir klar, dass es viele Arten gibt, auf die ein Mann verschwinden kann.«

»Zum Beispiel?«

Sie zuckte die Achseln und drückte ihre Zigarette aus. »Fernsehen, Schlaf, Alkohol, Bücher, Aufputsch- oder Beruhigungsmittel. Ich spreche ganz allgemein, aber Sie wissen, worauf ich hinauswill.«

»Und in seinem Fall?«

»Dow hat sich in seiner Arbeit vergraben. Ging in aller Herrgottsfrühe hin und ist bis spät in die Nacht in seinem Büro geblieben. Was Sie über ihn wissen müssen, ist, dass er jemand ist, der Auseinandersetzungen meidet. Deshalb liebt er alte Leute – weil sie keine echten Anforderungen an ihn stellen. Dass er Arzt ist, verschafft ihm einen gewissen Status, was in seinen Augen grundsätzlich besser ist, als jemandem Rede und Antwort stehen zu müssen wie jeder normale Sterbliche.«

»Wie lange waren Sie verheiratet?«

»Fast vierzig Jahre. Wir haben uns in Syracuse kennen gelernt. Ich habe im Hauptfach Kunstgeschichte studiert, und er hatte gerade mit dem Vorstudium für Medizin begonnen. Kurz nachdem wir unsere Abschlüsse gemacht hatten, haben wir geheiratet. Dow ist dann zum Medizinstudium auf die Penn State gegangen und hat dort auch sein Praktikum und seine Assistenzzeit absolviert. Da hatten wir die Mädchen schon. Ich bin bei ihnen zu Hause geblieben, bis sie beide in der Schule waren, und dann habe ich weiterstudiert und meinen Magister in Innenarchitektur gemacht. Ich habe das Haus entworfen, das wir kurz darauf in Horton Ravine gebaut haben. Natürlich hatten wir einen Architekten, der sich um die praktische Seite gekümmert hat.«

»Das Haus gehört ihm immer noch?«

»Ja, obwohl es Crystal nicht gefällt, soweit ich gehört habe.«

»Sie haben bei der Scheidungsvereinbarung keinen Anspruch auf das Haus erhoben?«

»Ich konnte mir Hypothek und Unterhalt nicht leisten. Wenn Sie ihn von der Scheidung reden hören, wurde er geschröpft – aber das ist einzig und allein seine Sicht der Dinge. Glauben Sie mir, er ist besser weggekommen. Vermutlich hat er jemanden bestochen - den Richter oder meinen Anwalt. Sie wissen ja, wie Männer zusammenhalten, wenn es um den allmächtigen Dollar geht.«

Mir fiel auf, dass sie sich eifrig darum bemühte, meine Wahrnehmung zu beeinflussen und Punkte für ihr Lager einzuheimsen. Geschiedene versuchen irgendwie immer, sich die Sympathie ihres Gegenübers zu sichern, indem sie sich ins bestmögliche Licht rücken. In diesem Fall kam mir das merkwürdig vor, da der Anlass für meinen Besuch doch darin bestand, dass sie entschied, ob sie mich für die Suche nach ihm brauchen konnte. War sie immer noch in diesen Mann verliebt? »Es muss schwer gewesen sein, als Ihre Ehe zerbrach«, murmelte ich.

»Demütigend. Niederschmetternd. Es war dermaßen klischeehaft. Ein Arzt durchlebt die Midlife-Crisis und verlässt seine gleichaltrige Frau, um sich mit einer Hure einzulassen.«

Für die Zeitungen war es ein gefundenes Fressen gewesen, dass Crystal als Stripperin gearbeitet hatte. Trotzdem widerstrebte mir, dass Fiona das Wort »Hure« benutzte. Strippen als Broterwerb bedeutete nicht zwangsläufig eine Existenz als Prostituierte. Womöglich hatte Crystal sogar ihren Magister in psychiatrischer Sozialarbeit gemacht. »Wie hat er sie kennen gelernt?«

»Das müssten Sie sie fragen. Ehrlich gesagt hat Dow Gelüste nach ... mmm ... ausgefallenen Sexualpraktiken entwickelt. Mit dem Alter sank sein Hormonspiegel ab, oder seine Ängste nahmen zu. Vielleicht gingen seine Probleme auch auf seine Mutter zurück. Alles andere hängt ja auch mit seiner Beziehung zu ihr zusammen. Aus welchem Grund auch immer, als Dowan sechzig wurde, bekam er Schwierigkeiten. Er konnte nicht mehr ... na ja ... er konnte ohne Stimulation keinen Verkehr mehr haben. Pornografie, Sexartikel ...«

»Die Ihnen nicht gefielen.«

»Ich fand es ekelhaft. Ich kann Ihnen die Praktiken gar nicht nennen, die er ausprobieren wollte – unaussprechliche Handlungen, die ich absolut indiskutabel fand. Schließlich hörte er auf, mich zu bedrängen.«

»Weil er mit ihr etwas angefangen hatte?«

»Offensichtlich. Er hat es nie zugegeben, aber ich bin mir sicher, dass er sich umgesehen hat. Ich hatte mich schon gefragt, ob er sich eine suchen würde, die bereit wäre, sich seinen perversen Wünschen zu unterwerfen. Ich war jedenfalls nicht dazu bereit, und ich wusste, dass ich ihm das auch restlos klar gemacht hatte.«

Insgeheim lechzte ich nach einem Beispiel, doch ich hielt es für klüger, (ausnahmsweise) meine große Klappe zu halten. Manchmal ist es hinderlich zu wissen, was andere Leute in ihrem Privatleben treiben – oder sich zu treiben weigern. Wenn ich Gelegenheit hätte, den Doktor eines Tages kennen zu lernen, wollte ich nicht dadurch abgelenkt werden, dass ich ihn vor meinem geistigen Auge mit einer Bio-Karotte im Hintern herumhüpfen sah. »Haben Sie die Scheidung eingereicht oder er?«

»Er. Ich wurde davon völlig überrumpelt. Ich hatte angenommen, dass er seine Bedürfnisse außerhalb unserer Ehe erfüllt bekäme und seine Familie intakt hielte. Ich hätte nie gedacht, dass er in diesem Alter noch eine Scheidung anstrengen würde. Doch ich hätte es wissen sollen. Dowan ist schwach. Nicht dass irgendjemand gern seine eigenen Fehler zugibt, aber Dow ist es schon immer zuwider gewesen, wenn auch nur der Anschein eines Versagens ruchbar wurde.«

»Soll heißen?«

»Tja«, sagte sie und senkte die Augen. Ich beobachtete, wie sie den Blick über den Fußboden wandern ließ. »Ich hege den Verdacht, dass seine Beziehung zu Crystal nicht die Seelengemeinschaft ist, die er anderen gerne vorspielen möchte. Vor ein paar Monaten hat er erfahren, dass sie hinter seinem Rücken herumvögelt. Er würde lieber verschwinden als zugeben, dass er betrogen worden ist.«

»Hatte er eine Ahnung, wer es war?«

»Nein, aber er ging der Sache nach. Nach seinem Verschwinden hat mir Dana schließlich anvertraut, dass sie es die ganze Zeit gewusst hat. Der Typ ist Crystals persönlicher Trainer. Er heißt Clint Augustine.«

In meinem Kopf klingelte ein leises Glöckchen. Ich war mir sicher, dass ich den Namen schon einmal gehört hatte, wahrscheinlich in dem Fitness-Studio, wo ich trainiere.

»Sie glauben, er hat sich deswegen aus dem Staub gemacht?«

»Ja. Wir hatten am 10. September eine Unterhaltung – ein langes Gespräch. Das war zwei Tage, bevor er verschwunden ist. Er war entsetzlich unglücklich.«

»Hat er das gesagt?«

Ihr Zögern war unübersehbar, und sie musste mit sich ringen. »Nicht ausdrücklich, aber man ist nicht vierzig Jahre lang verheiratet, ohne zu lernen, zwischen den Zeilen zu lesen.«

»Was war der Anlass für diese Unterredung?«

»Er kam hierher.«

»Sie haben sich mit ihm getroffen«, stellte ich fest.

»Ja, schon. Auf seine Bitte hin«, erwiderte sie mit leicht abwehrendem Ton. »Dow liebt dieses Haus, genau wie das Haus in Horton Ravine. Er hat sich stets für meine Entwürfe interessiert, auch bevor unsere Beziehung sich gewandelt hatte. In letzter Zeit ist er abends öfter vorbeigekommen, um etwas mit mir zu trinken. An diesem Abend war er ganz erschöpft. Sein Gesicht war grau vor Sorge, und als ich ihn fragte, was los sei, sagte er, dass ihn der Arbeitsdruck wahnsinnig mache. Und Crystal war ihm keine Hilfe. Sie ist extrem narzisstisch, wie Sie noch feststellen werden, wenn Sie sie kennen lernen, wovon ich ausgehe.«

»Hat es Sie erstaunt, dass er sich Ihnen anvertraut hat – nach allem, was er Ihnen zugemutet hat?«

»Wen hat er denn sonst schon? Außerdem hat er im Grunde gar nicht über sie gesprochen, aber ich habe die Anspannung in seinen Augen gesehen. Er war in wenigen Monaten um gut zehn Jahre gealtert.«

»Sie behaupten, er hatte sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause Probleme?«

»Allerdings. Er hat sich zwar nicht klar geäußert, aber er hat nebenbei erwähnt, er müsse einfach mal raus. Das war das Erste, woran ich denken musste, als ich erfahren habe, dass er verschwunden ist.«

»Könnte das nicht Wunschdenken gewesen sein?«

»Schon möglich«, räumte sie ein. »Ich meine, er hat keine Flugtickets aus der Tasche gezogen, aber er kam mir verzweifelt vor.«

»Können Sie sich erinnern, ob er einen speziellen Ort erwähnt hat?«

Sie legte den Kopf schief. »Ich habe mir deswegen schon das Hirn zermartert, aber mir ist ehrlich nichts eingefallen. Es war eine beiläufige Bemerkung, und ich habe mir, bis das hier passiert ist, nicht viel dabei gedacht.«

»Ich nehme an, Sie haben der Polizei davon berichtet.«

Sie zögerte erneut. »Zuerst nicht. Ich hielt sein Verschwinden für freiwillig und dachte, er würde wieder nach Hause kommen, wenn es ihm passte. Ich wollte ihn nicht in eine peinliche Lage bringen. Es ist Crystals Spezialität, diese Tortur in ein Medienspektakel zu verwandeln.«

Ich merkte, wie der Groll in mir aufstieg. »Mrs. Purcell, er ist ein bekannter Arzt und wird in der ganzen Gemeinde respektiert und geliebt. Es ist logisch, dass sein Verschwinden die Aufmerksamkeit der Medien erregt. Wenn Sie der Meinung waren, er hätte sich nur aus einer Laune heraus abgesetzt, warum haben Sie es dann nicht gesagt?«

»Ich fand, er hatte ein Recht auf seine Intimsphäre«, entgegnete sie, und ihre Wangen röteten sich leicht.

»Was ist mit all der Zeit und dem Geld, das für die Ermittlungen aufgewendet wurde? Hat Sie das überhaupt nicht gekümmert?«

»Doch, natürlich. Deshalb habe ich mich ja an die Polizei gewandt«, erklärte sie. »Nach sechs Wochen begann ich mir Sorgen zu machen. Vermutlich habe ich einen Anruf oder einen Brief erwartet, irgendeinen Hinweis darauf, dass ihm nichts fehlte, egal wo er war. Jetzt, wo neun Wochen vergangen sind, fand ich, es sei an der Zeit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.«

»Was hat Sie zu dem Glauben veranlasst, dass er sich eher bei Ihnen melden würde als bei ihr?«

»Weil Crystal diejenige ist, der er zu entkommen versucht.«

»Und jetzt haben Sie Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.«

»Irgendwie schon. Deshalb habe ich ja letzte Woche beschlossen, mit diesem Kriminalbeamten zu sprechen. Odessa war höflich. Er hat sich Notizen gemacht, aber ich hatte den Eindruck, dass er mich nicht ernst genommen hat. Er meinte, er würde sich wieder bei mir melden, aber ich habe nichts mehr von ihm gehört. Die Polizei arbeitet natürlich an Dutzenden von anderen Fällen, was heißt, dass sie weder Zeit noch Leute haben, die sie für Dow abstellen können. Das habe ich auch zu Dana gesagt, und sie ist meiner Meinung. Deshalb hat sie mir Sie empfohlen.«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Selbst wenn wir eine Vereinbarung treffen, kann ich genauso wenig wie die Polizei vierundzwanzig Stunden am Tag auf diese Sache verwenden. Ich habe auch noch andere Klienten.«

»Ich habe nicht gesagt, dass Sie ausschließlich für mich arbeiten müssen.«

»Trotzdem bin ich nur eine Einzelperson. Sie wären mit einer großen Agentur aus Los Angeles besser bedient – einer mit vielen Ermittlern, die ins ganze Land ausschwärmen und die Sache richtig angehen können. Womöglich müssen Sie ihn am Ende noch in Übersee suchen.«

Sie winkte mit einer Handbewegung ab. »Ich will aber keine große Agentur aus Los Angeles. Ich will jemanden von hier, der bereit ist, mir persönlich Bericht zu erstatten.«

»Aber ich könnte lediglich das Gleiche noch mal machen, was die Polizei bereits getan hat.«

»Vielleicht haben Sie ja Ideen, auf die die Polizei noch nicht gekommen ist. Immerhin haben Sie Wendell Jaffe ausfindig gemacht, nachdem ihn jahrelang alle für tot gehalten hatten.«

»Ich habe ihn ausfindig gemacht, aber ich musste nicht bei Null anfangen. Jemand hatte ihn in Mexiko gesehen, und deshalb konnte der Fall schließlich gelöst werden.«

Ihr Gesichtsausdruck wurde distanziert. »Sie wollen mir also nicht helfen.«

»Das sage ich nicht. Ich erwähne nur die Fakten, und die sehen nicht besonders gut aus.«

»Aber was, wenn es einen Aspekt gibt, den die Polizei noch nicht bedacht hat?«

»Was, wenn nicht?« »Dann könnte ich mich zumindest mit dem zufrieden geben, was sie geleistet haben.«

Ich schwieg einen Augenblick und starrte auf den Fußboden. Tief in mir schrie eine kleine Stimme »Nein, nein, nein!«, während mein Mund sagte: »Einverstanden. Ich werde mein Möglichstes tun, aber ich kann Ihnen nichts versprechen.«

»Gut. Das ist wunderbar. Wir sprechen dann am Dienstag weiter. Notieren Sie sich einfach, wie viel Zeit Sie aufgewendet haben, und dann können Sie mir eine Rechnung schicken, wenn ich wieder hier bin.« Sie sah auf die Uhr und stand auf.

Ich erhob mich ebenfalls. »Ich brauche einen Vorschuss.«

»Einen Vorschuss?« Sie gab sich demonstrativ verblüfft, aber ich fragte mich, ob sie die Worte nur der Wirkung halber wiederholte. Bestimmt machte sie selbst ohne schriftliche Vereinbarung und ohne dass eine stattliche Summe den Besitzer wechselte auch keine Geschäfte. »An wie viel hatten Sie gedacht?«

»Ich berechne fünfzig die Stunde oder pauschal vierhundert am Tag, plus Spesen, also müssten fünfzehnhundert Dollar fürs Erste reichen. Wenn Sie mir Melanies Adresse geben, schicke ich Ihnen bis morgen einen Vertrag zur Unterschrift zu.« Natürlich hätte ich auch gleich einen mitbringen können, aber ich war mir nicht sicher gewesen, ob wir zu einer Einigung kommen würden.

Sie blinzelte und machte auf begriffsstutzig. »Tut mir Leid. Ich hatte mir nichts so Förmliches vorgestellt. Ist das in Ihrem Gewerbe so üblich?«

»Ja, allerdings.« Mir fiel auf, dass sie es nicht »Beruf« nannte, was vermuten ließ, dass sie mich mit Ladenhilfen, Schnellköchen und Laufburschen in einen Topf warf.

»Was, wenn Sie ihn nicht finden?« »Das ist ja genau der Punkt. Wenn ich nichts finde, kommen Sie vielleicht zu dem Schluss, dass ich den Stundenlohn nicht wert war. Wenn ich den Fall annehme, bleibe ich am Ball. Ich verfolge die Spuren bis zum bitteren Ende.«

»Das will ich hoffen«, sagte sie. Sie überlegte kurz und ging dann zu einer Kommode mit Ebenholz-Intarsien hinüber. Sie nahm ihr Scheckheft heraus, kehrte zu ihrem Sessel zurück und setzte sich. »Und den Scheck soll ich ausstellen auf ...?«

»Millhone Investigations.«

Ich sah zu, wie sie hastig einen Scheck ausfüllte und ihn herausriss, wobei sie ihre Gereiztheit kaum verbarg, als sie ihn mir reichte. Mir fiel auf, dass wir Bankgenossen waren und unser Konto bei derselben Filiale der Santa Teresa City Bank hatten. »Jetzt sind Sie verstimmt«, sagte ich.

»Ich gehe nach Vertrauen. Sie offenbar nicht.«

»Ich hab’s auf die harte Tour gelernt. Es ist nichts Persönliches.«

»Aha.«

Ich hielt ihr den Scheck hin. »Ich kann ihn auch gleich zurückgeben, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Finden Sie Dow Und ich erwarte einen lückenlosen Bericht, sobald ich wieder zurück bin.«

Tödliche Gier

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