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Als ich ins Büro zurückkehrte, stellte ich fest, dass Jill und Ida Ruth mir einen Zettel an die Tür gehängt hatten. »Kinsey: anbei eine genaue Aufstellung mit den Tagen, an denen Jeniffer zu spät gekommen ist, etwas vermasselt hat oder unentschuldigt ferngeblieben ist. Bitte schreib weitere Vorkommnisse hinzu, von denen du weißt, unterschreib das Ganze und leg es mir wieder hin. Wir halten es für das Beste, uns als gemeinsame Front zu präsentieren. Wir meinen es ernst! Ida Ruth.«

Ich warf die Liste in den Papierkorb und rief bei Crystal Purcell in ihrem Haus in Horton Ravine an. Die Haushälterin sagte mir, dass sie zum Strandhaus gefahren sei und das Wochenende dort verbringen wolle. Sie gab mir die Nummer, und ich wählte sie, sowie ich aufgelegt hatte. Ich hoffte, die Frau, die abnahm, würde Crystal sein, doch als ich sie namentlich zu sprechen verlangte, musste ich warten, bis sich eine zweite Frau meldete. »Hier ist Crystal«, sagte sie.

Ich stellte mich mit Namen und Beruf vor und hoffte, dass sie das Auftreten einer weiteren Person, die Nachforschungen anstellte, nicht verärgerte. Den Zeitungen zufolge hatte sie bereits den Ermittlern von der Polizei Santa Teresa und vom Sheriffbüro von Santa Teresa County Auskunft gegeben. Ich erklärte ihr, dass ich am Morgen mit Fiona gesprochen und sie mich gebeten hätte, Dr. Purcells Verschwinden zu untersuchen. »Ich weiß, dass Sie alles schon mehrmals schildern mussten, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich die Geschichte von Ihnen hören könnte, falls Sie es verkraften, sie noch einmal zu erzählen.«

Es entstand eine kurze Pause, in der ich hätte schwören können, dass sie ihre Zen-Tiefenatmung praktizierte. »Es fällt mir sehr schwer.«

»Das ist mir klar, und es tut mir Leid.«

»Wie bald?«

»Das überlasse ich Ihnen. Je früher, desto besser.«

Eine weitere Pause folgte. »Wie viel berechnen Sie ihr?«

»Fiona? Fünfzig die Stunde. Das liegt am unteren Ende der Skala. Ein Privatdetektiv aus der Großstadt bekommt das Doppelte.« Ich fragte mich kurz, warum ich glaubte, mich rechtfertigen zu müssen. Vielleicht würde sie lieber mit jemandem plaudern, dessen Dienste mehr wert waren.

»Kommen Sie um fünf Uhr vorbei. Ich wohne in der Paloma Lane.« Sie nannte mir die Hausnummer. »Wissen Sie, wo das ist?«

»Ich finde es schon. Ich werde versuchen, Sie nicht allzu lange aufzuhalten.«

»Nehmen Sie sich ruhig Zeit. Fiona bezahlt es ja.«

Um vier Uhr verließ ich das Büro und fuhr auf dem Weg zu Crystals Strandhaus an meiner Wohnung vorbei. Die zunehmende Wolkendecke hatte ein künstliches Zwielicht erzeugt, und der Geruch aufkommenden Regens durchdrang die Luft. Ich hatte im Obergeschoss Fenster offen gelassen und wollte die Wohnung vor dem drohenden Gewitter noch dicht machen. Ich parkte den Wagen vor der Tür, stieß das Tor mit seinem beruhigenden Jaulen und Quietschen auf und marschierte auf dem schmalen Betonweg um das Haupthaus herum.

Mein Domizil ist eine ehemalige Einzelgarage, die zu Wohnzwecken umgebaut worden ist. Es umfasst im Erdgeschoss ein kleines Wohnzimmer mit einer Bettcouch für Gäste im Erkerfenster, einen Einbauschreibtisch, eine Kochecke, eine aufeinander gestellte Kombination aus Waschmaschine und Trockner und ein Badezimmer. Im ersten Stock, der über eine enge Wendeltreppe erreichbar ist, habe ich einen Schlafraum mit einem großen, flachen Bett und ein zweites Badezimmer. Das Ganze ähnelt einem kleinen, aber robusten seetüchtigen Boot, da außerdem ein Bullauge in der Eingangstür, mit Teakholz getäfelte Wände und unzählige Ecken und Winkel, Verschläge und Nischen dazugehören, wo ich meine wenigen Habseligkeiten unterbringen kann. Das Beste daran ist allerdings die gute Seele, die all das möglich macht: mein Vermieter Henry Pitts. Er ist sechsundachtzig Jahre alt, sieht gut aus, ist sparsam, energisch und tüchtig. Er hat den größten Teil seines Lebens als professioneller Bäcker verbracht und bringt es auch im Ruhestand nicht fertig, seine Begeisterung für Brote, Kuchen und Torten aufzugeben. Er erzeugt nicht nur Backwaren am laufenden Band, sondern beliefert auch die Mittags- und Abendeinladungen sämtlicher alter Damen in der Umgebung. Außerdem verkauft er seine frischen Brote und Brötchen an das rustikale Lokal an der Ecke, in dem er drei bis vier Mal die Woche isst.

Am oberen Ende der Einfahrt konnte ich Henrys Garagentür offen stehen sehen. Allerdings waren beide Fahrzeuge da. Als ich im Innenhof um die Ecke bog, entdeckte ich ihn, wie er vor seinem Schlafzimmer auf der Leiter stand und gerade das letzte Sturmfenster befestigte. Er trug Shorts und ein ärmelloses T-Shirt. Seine langen Beine wirkten knorrig, und seine Bräune war nun, da der »Winter« ins Land zog, fast verblichen. Die Temperaturen in Santa Teresa fallen nie weit unter zehn Grad, aber er stammt ursprünglich aus Michigan, und auch wenn er schon seit über vierzig Jahren in Südkalifornien lebt, schreibt ihm sein nie erloschener Respekt vor den Jahreszeiten das Anbringen von Fliegengittern im Spätfrühling und von Sturmfenstern im Spätherbst vor. Das Wetter selbst kümmert ihn nicht.

Im Innenhof lagen immer noch Putzutensilien herum: der Gartenschlauch, Klumpen zerknüllten Zeitungspapiers, eine Drahtbürste, ein Eimer Essigwasser und mehrere Schwämme, die vom Ruß ganz grau waren. Henry winkte von seinem Hochstand herunter, stieg dann graziös die Leiter herab und pfiff dabei unmelodisch vor sich hin. Ich half ihm schnell beim Aufräumen, indem ich das Schmutzwasser in die Büsche goss, während er den Schlauch in einem Terrakottatopf zusammenrollte. »Du kommst aber früh«, bemerkte er.

»Ich dachte mir, ich mache lieber die Fenster zu, bevor es regnet, vorausgesetzt es regnet überhaupt«, erwiderte ich. Henry hatte schon oft beklagt, dass dem kalifornischen Wetter das Tosen und die Theatralik eines ordentlichen Gewitters im Mittleren Westen fehlten. Häufig bleibt der prognostizierte Regen ganz aus oder kommt in einer Form, die kaum genügt, um die Straßen zu benetzen. Nur ganz selten dürfen wir Donner und Blitz in voller Schönheit erleben, so wie Henry es aus seinen jungen Jahren in Michigan kennt und liebt.

»Warum hast du denn nicht angerufen? Den Weg hätte ich dir ersparen können. Wirf die Bürste in den Eimer. Ich nehme ihn dann mit rein, wenn ich ins Haus gehe.«

»Es lag auf meinem Weg. Ich habe um fünf Uhr einen Termin in der Paloma Lane, daher war ich ohnehin in diese Richtung unterwegs. Und mir ist jede Ausrede recht, um aus dem Büro zu flüchten. Für meinen Geschmack läuft dort zu viel Firlefanz ab.«

»Wie läuft’s mit der Suche nach neuen Räumen?«

Ich machte eine abwägende Handbewegung, um ihm zu bedeuten, dass es nicht gut aussah. »Es wird sich schon was ergeben. Immerhin habe ich inzwischen eine neue Klientin. Zumindest bin ich mir zu neunundneunzig Prozent sicher.«

»Warum der Vorbehalt?«

»Vielleicht spielt die schlechte Stimmung im Büro mit hinein. Ich bin an dem Fall interessiert, weiß aber nicht genau, ob ich da etwas bewirken kann. Es geht um diesen Arzt, der vermisst wird.«

»Ich kann mich erinnern, dass ich davon gelesen habe. Fehlt immer noch jede Spur von ihm?«

»Allerdings. Seine Exfrau meint, die Cops würden sich nicht genug anstrengen. Offen gestanden wirkt sie auf mich wie der Typ, der andere Leute gerne nach seiner Pfeife tanzen lässt, was ich widerlich finde.«

»Du schaffst es schon.« Mit diesen Worten kehrte er zu seiner Leiter zurück, klappte sie zusammen und trug sie durch den Innenhof hinüber zur Garage. Ich sah ihm zu, wie er sich um sein 1932er Chevy Coupe schlängelte und die Leiter an die Wand hängte. Seine Garage ist mit gelochten Brettern getäfelt, auf denen der Platz für jedes Teil ordentlich mit Farbe umrissen ist. »Hast du Zeit für eine Tasse Tee?«, fragte er und kam über den Innenhof auf mich zu.

Ich sah auf die Uhr. »Jetzt nicht. Wir sehen uns später bei Rosie.«

»Ich werde eher gegen sieben als gegen sechs dort sein. Sie kommt jetzt ohnehin gleich zu mir, und ich muss vorher noch spülen. Sie hat mich um Hilfe gebeten, aber sie will nicht verraten, wobei.«

»Oh-oh.«

Er winkte ab. »Wahrscheinlich ist es etwas ganz Einfaches. Das macht mir überhaupt nichts aus. Wenn sie kommt, solange ich verschwunden bin, sag ihr, dass ich gleich wieder da bin, sowie ich mich gewaschen habe.«

Henry ging durch die Hintertür in die Küche, wo ich ihn durchs Fenster sehen konnte, wie er an der Spüle stand und seine Hände schrubbte. Er schmunzelte, als er meinen Blick auffing, und begann erneut, vor sich hin zu pfeifen.

Ich drehte mich um, als ich das Tor quietschen hörte. Kurz darauf erschien Rosie mit einer braunen Papiertüte in der Hand. Ihr gehört das ungarische Lokal, in dem Henrys älterer Bruder William jetzt Geschäftsführer ist. William und Rosie haben letztes Jahr an Thanksgiving geheiratet und leben in einer Wohnung über dem Lokal, das einen halben Block entfernt liegt. William ist siebenundachtzig Jahre alt, und obwohl Rosie vor nicht allzu langer Zeit geschworen hat, Mitte sechzig zu sein, gibt sie jetzt zu, dass sie über siebzig ist, auch wenn sie nicht genau sagt, um wie viel. Sie ist klein und großbusig und hat eine kokette Kappe roter Haare, die im Ton von Floridaorangen gefärbt sind.

Wie üblich trug Rosie ein Sackkleid, diesmal mit einem wilden Muster in Orange und Gold. Ihr Rock bauschte sich wie ein Segel im auffrischenden Wind. Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie mich sah. »Kinsey, alles gut. Hier ist für Henry«, sagte sie und ließ mich in die Tüte spähen.

Ich erwartete schon fast, junge Kätzchen zu erblicken als ich mich darüber beugte. »Was ist denn das? Ist das Abfall?«

Rosie verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und wich meinem Blick aus, eine Strategie, die sie einsetzt, wenn sie ein schlechtes Gewissen hat, ihr mulmig ist oder sie einen rücksichtslos zu manipulieren versucht. »Sind von mein Schwester Klotilde Arztrechnungen für Klinik und nachher. Henry wird erklären. Ich rein gar nix davon kapiere.« Rosie ist ohne weiteres im Stande, grammatikalisch korrekt zu sprechen. Sie macht nur dann ein Gemetzel aus Wortschatz und Satzbau, wenn sie hilflos wirken und einen auf diese Art dazu verleiten will, ihr einen wahnwitzigen Gefallen zu tun. Das trifft vor allem dann zu, wenn sie mit ihren Steuern kämpft, was ihr Henry die letzten sechs Jahre ohne zu murren abgenommen hat. Jetzt sagte sie verschmitzt: »Du helfen, hoffe ich. Er soll nicht alleine machen. Ist ungerecht.«

»Warum kann William nicht mithelfen? Ich habe keinen blassen Schimmer von dem Zeug.«

»Klotilde war Henry lieber.«

»Aber sie ist tot«, wandte ich ein.

»Bevor sie tot, ihr war lieber«, erklärte Rosie und lächelte scheu, als wäre damit die Sache besiegelt.

Ich sparte mir weitere Einwände. Schließlich war es Henrys Entscheidung, obwohl es mich massiv ärgerte, dass sie ihn ausnutzte. Die betreffende Klotilde war Rosies stets missgelaunte ältere Schwester gewesen. Ich hatte es nie geschafft, ihren ungarischen Nachnamen auszusprechen, der von Konsonanten und seltsamen Zeichen durchsetzt war. Sie hatte jahrelang an einer unklaren degenerativen Krankheit gelitten. Seit sie Mitte fünfzig war, hatte sie im Rollstuhl gesessen, geplagt von unzähligen weiteren Leiden, die Unmengen von Medikamenten und Krankenhausaufenthalten notwendig gemacht hatten. Schließlich hatte man ihr mit Mitte siebzig empfohlen, sich ein künstliches Hüftgelenk einsetzen zu lassen. Das war im April gewesen, vor gut sieben Monaten. Obwohl die Operation erfolgreich verlaufen war, war Klotilde über die Anforderungen der Rekonvaleszenz außer sich gewesen. Sie hatte alle Versuche abgelehnt, sie auf die Beine zu stellen, die Nahrung und die Benutzung einer Bettpfanne verweigert, Katheter und Ernährungsschläuche herausgezogen, ihre Pillen nach den Schwestern geworfen und die Physiotherapie sabotiert. Nach den üblichen fünf Tagen im Krankenhaus brachte man sie in ein Pflegeheim, wo sie im Laufe der folgenden Wochen zu verfallen begann. Schließlich starb sie an Lungenentzündung, Schluckbeschwerden, Mangelernährung und Nierenversagen. Rosie war nicht unbedingt am Boden zerstört gewesen, als sie »dahinschied«. »Hätte schon längst scheiden sollen«, erklärte sie. »Sie ist Nervensäge. So geht, wenn man sich nicht benimmt. Sie hätte tun sollen, was Doktor sagt. Hätte nie nicht Hilfe ablehnen sollen, wenn er besser weiß. Jetzt ich habe das und weiß nicht, was damit machen. Hier du nehmen.«

Nach Gewicht und Masse der Tüte zu urteilen, hatte sie ihrerseits eine Widerstandshaltung aufgebaut und die Unterlagen zu Bergen anwachsen lassen. Es würde Henry Wochen kosten, alles zu sortieren. Er kam aus seiner Hintertür und ging über den Innenhof auf uns zu, mittlerweile mit einem Flanellhemd und langen Hosen bekleidet.

»Ich muss mich beeilen«, sagte ich und stellte die Tüte auf den Boden.

Henry äugte hinein. »Ist das Abfall?«

Als ich meine Wohnung betrat, schleppte er die Tüte schon auf seine Küchentür zu und nickte mitfühlend, während Rosie zu einer ausführlichen Schilderung ihrer Notlage ansetzte.

Ich ließ meine Umhängetasche auf einen Küchenhocker fallen und drehte dann die Runde durch die Wohnung, um die Fenster zu schließen und zu sichern. Ich schaltete ein paar Lampen ein, damit mein Zuhause freundlich wirkte, wenn ich wiederkam. Anschließend ging ich nach oben und schlüpfte in einen frischen weißen Rollkragenpullover, den ich zu den Jeans trug. Ich zog meinen grauen Tweed-Blazer über, tauschte die Turnschuhe gegen schwarze Stiefel ein und musterte mich im Badezimmerspiegel. Die Wirkung war genau die erwartete: ein Tweed-Blazer mit Jeans. Ist für mich in Ordnung, dachte ich.

Die Paloma Lane ist eine schattige, zweispurige Straße, die zwischen dem Highway 101 und dem Pazifik verläuft und sich das Stückchen unregelmäßiges Gelände mit der Southern Pacific Railroad teilt. Trotz der Nähe zu den Güter- und Personenzügen, die zweimal täglich vorbeidonnern, werden manche Häuser dort zu Millionenbeträgen gehandelt, je nachdem, über wie viele Längenmeter das Anwesen an den Strand grenzt. Der Stil der Häuser variiert zwischen Pseudo-Cape-Cod über Pseudo-Tudor bis hin zu pseudo-mediterran und modern. Alle liegen so weit von der Bahnlinie entfernt wie möglich und so nah am Strand, wie es die Bauvorschriften des Bezirks gestatten. Crystal Purcells Grundstück war eines der wenigen ohne elektronisches Tor. Am Haus links neben ihrem hing ein diskretes »Zu verkaufen«-Schild, über dem ein Transparent mit der Aufschrift »PREIS REDUZIERT« klebte.

Crystals Haus füllte das schmale Grundstück aus. Der Bau aus Glas und Zedernholz war schätzungsweise zwölf Meter breit und umfasste drei Stockwerke, wobei jede Etage strategisch so ausgerichtet war, dass man die Nachbarhäuser nicht sah. Zur Linken schützte ein offener Carport ein silbernes Audi-Cabrio und einen neuen weißen Volvo mit einem persönlichen Nummernschild, das die Aufschrift CRYSTAL trug. Die letzte Lücke war leer. Vermutlich hatte dort Dow Purcell immer seinen Mercedes abgestellt. Zur Rechten war auf einer gekiesten Fläche, wo ich meinen leicht zerbeulten 1974er VW geparkt hatte, Platz für weitere drei Autos.

Die rückwärtige Fassade des Hauses war kahl, eine fensterlose Wand verwitternden Holzes. Auf beiden Seiten der Tür stand je eine Reihe zehn Meter hoher Fächerpalmen in gewaltigen schwarzen Töpfen. Ich trottete über den Kies zur Haustür und klingelte. Die Frau, die mir öffnete, hielt ein breites Martiniglas am Rand fest. »Sie müssen Kinsey sein«, sagte sie. »Ich bin Anica Blackburn. Die meisten sagen Nica. Möchten Sie nicht reinkommen? Crystal war gerade beim Joggen. Sie wird gleich unten sein. Ich habe ihr gesagt, dass ich Ihnen aufmache, bevor ich nach Hause fahre.« Ihr dunkles, kastanienbraunes Haar war glatt nach hinten gegelt, und die Strähnen sahen so nass aus, als käme sie frisch aus der Dusche. Irgendwie dünstete ihre nach handgemachter französischer Seife duftende Haut eine kaum merkliche feuchte Hitze aus. Ihr Körper war schlank und aufrecht. Sie trug eine schwarze Seidenbluse, frisch gebügelte Jeans und keine Schuhe. Ihre nackten Füße waren lang und elegant.

Ich trat in die Diele. Das Erdgeschoss wurde vom Eingang aus weiter und dehnte sich zu einem großen Raum aus, der die gesamte Breite des Hauses nutzte. Hohe Fenster gingen auf eine verwitterte Holzterrasse hinaus, auf der abgenutzte Segeltuchstühle standen, die zu einem Farbton irgendwo zwischen kitt und mausgrau verblichen waren. Die Böden waren aus blassem Holz und mit hellen Sisalteppichen bedeckt, die man vermutlich deshalb ausgewählt hatte, weil sie den Sand kaschierten, der vom Strand hereingetragen wurde. Alles andere in Sichtweite, von den Wänden über die Holzbalken bis zu den prallen Polstermöbeln mit ihren Bezügen aus zerknittertem Leinen, war so weiß wie Vollmilch.

Hinter der Terrasse folgte ein etwa zehn Meter breiter Streifen verkümmerten Grases. Dahinter lag im Licht des Spätnachmittags kalt und unbarmherzig der Ozean. Das Wasser war perlgrau und wurde am Horizont dunkler, wo sich Wasser und Wolkendecke trafen und zu einer düsteren Masse verschmolzen. Die Brandung schlug monoton an den Strand. Wellen liefen auf den Sand und versickerten, kamen heran, zögerten und wogten wieder zurück. Drinnen, irgendwo über mir, konnte ich erhitzte Stimmen hören.

»HALT BLOSS DIE KLAPPE! Das ist Schwachsinn. Du bist eine so fiese Nuss. ICH HASSE DICH ...«

Die Entgegnung war leise und gefasst, aber offenbar wirkungslos.

Als Antwort erfolgten gekreischte Schimpfworte. Eine Tür knallte einmal zu und wurde dann erneut mit solcher Wucht zugedonnert, dass die Fenster erbebten.

Ich warf Nica einen Blick zu. Sie wandte das Gesicht nach oben und betrachtete nachdenklich die Zimmerdecke. »Leila ist das Wochenende über zu Hause – Crystals Tochter. Sie ist vierzehn. Das ist erst das Vorgeplänkel. Glauben Sie mir, die Streitereien werden in den nächsten Stunden noch schlimmer. Bis Sonntag ist es zum totalen Krieg eskaliert, aber dann muss sie wieder ins Internat. Nächstes Wochenende fangen sie von vorne an, und so geht’s dahin.« Sie bedeutete mir, ihr zu folgen, ging in den groβen Raum und setzte sich aufs Sofa.

»Sie ist im Internat?«, fragte ich.

»Fitch Academy. In Malibu. Ich bin pädagogische Beraterin der Schule und sorge für die individuelle Beförderung hin und zurück. Gehört zwar nicht zu meinen Aufgaben, aber zufällig habe ich ein Haus zwei Türen weiter gemietet.« Sie hatte kräftige, geschwungene Brauen über dunklen Augen, hohe Wangenknochen mit vereinzelten Sommersprossen und einen blassen, breiten Mund, hinter dem sich makellos weiße Zähne zeigten. »Dieses spezielle Wortgefecht dreht sich darum, ob Leila bei ihrem Vater übernachtet. Vor vier Monaten war sie ganz wild auf ihn. Wenn sie das Wochenende nicht bei ihm verbringen durfte, bedachte sie jeden in ihrer Umgebung mit lauten Schreikrämpfen. Jetzt haben sich die beiden zerstritten, und sie weigert sich hinzugehen. Bis jetzt hat sie die Oberhand behalten. Aber wenn sie erst anfängt, mit den Türen zu schlagen, ist es vorbei. Damit verliert sie massenhaft Punkte und überlässt Crystal einen taktischen Vorteil.«

»Mir würde das zusetzen.«

»Wem nicht? Mädchen ihres Alters neigen von Natur aus zum Melodram, und Leila ist übernervös. Sie ist eine der intelligentesten Schülerinnen, die wir haben, aber sie macht einem schwer zu schaffen. Eigentlich tun sie das alle – abgesehen von ein paar braven Herzchen. Man weiß nie, woran man bei ihnen ist. Mir persönlich ist das lieber, obwohl es ermüdend ist.«

»Fitch ist eine reine Mädchenschule?«

»Gott sei Dank. Die Vorstellung, auch noch mit Jungen in diesem Alter zu tun zu haben, wäre mir ein Graus. Kann ich Ihnen einen Drink anbieten?«

»Lieber nicht, aber trotzdem danke.«

Sie trank ihren Martini aus, beugte sich vor und stellte das leere Glas mit einem Klicken auf den Couchtisch aus blassem Holz. »Ich habe gehört, Sie sind wegen Dowan hier.«

»Ja, und es tut mir Leid, dass ich störe. Bestimmt hat sie seit Beginn dieser Geschichte einiges durchgemacht.«

»Ihr ist klar, dass es sein muss.«

»Wie geht es ihr?«

»Ich würde sagen, akzeptabel. Die Belastung ist natürlich enorm. Die Tage ziehen sich endlos hin, und manche sind noch schlimmer als andere. Sie wartet, dass das Telefon klingelt, und hält Ausschau nach seinem Wagen. Die Gerüchte häufen sich, aber das ist auch schon alles. Bis jetzt gibt es keine echte Spur von ihm.«

»Das ist sicher hart.«

»Unglaublich. Es setzt ihr massiv zu. Wenn Griff nicht wäre, weiß ich nicht, was sie vorm Durchdrehen bewahren sollte.«

»Wo war sie denn an dem Abend, in diesem Haus oder in dem anderen in Horton Ravine?«

Nica wies auf den Boden. »An den Wochenenden sind sie meist hier. Crystal ist Sternzeichen Fische – ein Kind des Wassers. Das hier ist eher ihr Stil als dieser protzige Misthaufen, den Fiona in der Stadt gebaut hat. Waren Sie schon dort?«

»Noch nicht.«

»Nehmen Sie’s mir nicht übel«, fügte sie milde hinzu. »Ich weiß ja, dass sie Ihre Klientin ist.« Sie Ärmste blieb unausgesprochen.

»Und was ist mit Ihnen? Wann haben Sie erfahren, dass Dow vermisst wird?«

»Also, ich wusste seit dem ersten Abend, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte Leila wie üblich von Malibu hierher gebracht, wir kamen gegen fünf an –, und sie ist zu ihrem Dad weitergefahren. Er ist eigentlich ihr Stiefvater, aber er hat sie von klein auf mit erzogen. Jedenfalls hatte Crystal schon mit Dow telefoniert, als wir vom Internat kamen. Er wusste, dass er es nicht rechtzeitig zum Abendessen schaffen würde, und so waren wir nur zu dritt: Crystal, Rand und ich.«

»Rand?«

»Griffs Betreuer. Er ist sagenhaft. Er ist seit Griffs Geburt für den Kleinen da. Sie werden die beiden gleich kennen lernen. Rand bringt Griff immer nach seinem Bad zum Gutenachtkuss herein. Da hat er schon gegessen und ist bettfertig. Jedenfalls haben wir am zwölften ein kaltes Picknick zusammengestellt und es auf der Terrasse gegessen. Es war herrlich – ganz klar und mild für die Jahreszeit; warm genug, um es ohne Pulli auszuhalten, was hier in der Gegend ganz ungewöhnlich ist. Wir haben über dies und das geplaudert und dabei zwei Flaschen Rotwein geleert. Um Viertel vor acht hat Rand Griff genommen und ist mit ihm hinüber ins andere Haus gefahren. Es gibt ein paar Fernsehsendungen, die er gern sieht, und er wollte rechtzeitig drüben sein, um sie nicht zu verpassen.«

»Rand und das Baby wohnen in dem Haus in Horton Ravine ?«

»Normalerweise nicht. Ich glaube, Crystal und Dow haben sich auf etwas Zeit in trauter Zweisamkeit gefreut. Ich war schätzungsweise bis zehn Uhr hier. Das ist zwar nicht spät, aber ich war erledigt und wollte mich nach der Woche endlich entspannen.«

»Um welche Uhrzeit hat sie Dow erwartet?«

»Irgendwann nach neun. Das war seine normale Zeit, wenn er Überstunden machte. Ich nehme an, wenn man mit einem Arzt verheiratet ist, achtet man irgendwann nicht mehr auf die Uhr. Crystal war auf der Couch eingeschlafen. Sie rief mich um drei Uhr morgens an, nachdem sie aufgewacht war und gemerkt hatte, dass er noch nicht da war. Sie dachte, er sei erst spät gekommen und ins Gästezimmer gegangen, um sie nicht zu stören. Sie sah nach, und als sie feststellte, dass er dort nicht war, hat sie die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Sein Wagen fehlte auch. Schließlich hat sie im Pflegeheim angerufen, wo man ihr sagte, dass er schon seit Stunden weg sei. Dann hat sie mich angerufen, und ich habe ihr geraten, die Polizei zu verständigen. Sie konnte aber frühestens nach zweiundsiebzig Stunden Vermisstenanzeige erstatten.«

»Was dachte sie? Wissen Sie noch, was sie gesagt hat?«

»Das Übliche. Autounfall, Herzinfarkt. Sie dachte, er sei vielleicht von der Polizei festgehalten worden.«

»Weswegen?«

»Alkohol am Steuer.«

»Er trinkt?«

»Ein bisschen. Dow trinkt immer ein paar Gläser Whiskey im Heim, wenn er Überstunden macht. Das ist seine Belohnung dafür, dass er weit über seine Pflicht hinaus Zeit aufwendet. Sie hat ihn gewarnt, danach noch zu fahren, aber er hat immer versichert, dass er sich bestens fühlt. Sie hatte Angst, er könnte von der Straße abgekommen sein.«

»Hat er Medikamente genommen?«

»He, wer nimmt in seinem Alter keine? Er ist neunundsechzig.«

»Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?«

Ein mattes Lächeln zog über ihre Miene. »Komisch, dass Sie das fragen. Ich habe an Fiona gedacht. Ich hatte es schon fast vergessen, aber das war es, was mir im ersten Moment in den Sinn kam, als ich davon hörte.«

»Was haben Sie über Fiona gedacht?«

»Dass sie endlich gewonnen hat. Das war ihr ganzes Sinnen und Trachten, seit er sie verlassen hat. Sie hat alles versucht, um ihn zurückzugewinnen, und alle Mittel eingesetzt.« Ich dachte, Nica würde weitersprechen, doch sie griff nach ihrem Glas, setzte es an den Mund und merkte erst zu spät, dass sie es schon ausgetrunken hatte. Sie rutschte auf der Couch ein Stück vor. »Ich muss gehen. Sagen Sie Crystal, ich bin bei mir drüben, wenn sie hier fertig ist.«

Sie stand auf und tappte zu den breiten Glastüren.

Ich sah ihr nach, wie sie die Terrasse überquerte, den Weg hinabschritt, in den Sand trat und verschwand. Aus dem hinteren Teil des Hauses hörte ich Badewasser laufen, einen Mann leise sprechen und dann ein quiekendes, kindliches Lachen, das von gefliesten Wänden widerhallte: der zweijährige Griffith mit seinem Betreuer Rand.

Tödliche Gier

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