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Abgesehen von Henry befand sich kein Mensch in Rosies Lokal, als ich kurz nach sieben dort eintraf. Ich klappte meinen Schirm zu und lehnte ihn an die Wand neben der Tür. Die Happy-Hour-Gäste waren offenbar schon da gewesen und wieder gegangen, und die Trinker aus der Nachbarschaft waren noch nicht gekommen, um sich ihr allabendliches Quantum zu holen. Der höhlenartige Raum roch nach Rindfleisch und nasser Wolle. Mehrere Zeitungsteile bildeten eine durchweichte Fußmatte auf der Innenseite des Eingangs, und ich konnte sehen, wo die Leute mit ihren nassen Schuhen über das Linoleum getrampelt waren und dabei Schmutz und Spuren von Druckerschwärze hinterlassen hatten. Am einen Ende des Tresens lief der Fernseher, allerdings ohne Ton. Ein alter Schwarzweißfilm flackerte stumm über den Bildschirm; eine nächtliche Szene in strömendem Regen. Ein Coupe aus den vierziger Jahren raste über eine kurvenreiche Straße. Die Hände der Frau krampften sich um das Lenkrad. Eine Totale durch die Windschutzscheibe brachte einen Anhalter ins Bild, der hinter der nächsten Kurve wartete, was nichts Gutes verhieß.

Henry saß allein an einem Chrom-Resopal-Tisch zur Linken der Tür. Seinen Regenmantel hatte er über den Stuhl direkt gegenüber gehängt, und sein Schirm bildete dort, wo er gegen das Tischbein lehnte, eine Pfütze aus Regenwasser. Er hatte die braune Papiertüte mitgebracht, in der Rosie ihm die Arztrechnungen ihrer Schwester überreicht hatte. Vor ihm stand ein Glas Jack Daniel’s, und eine Halbbrille saß ihm auf der Nasenspitze. Auf dem Stuhl neben ihm lag eine überdimensionale Faltmappe mit mehreren Fächern, die nach Monaten unterteilt und entsprechend etikettiert waren. Ich sah ihm zu, wie er eine Rechnung entfaltete, Datum und Rechnungsposten studierte und sie ins richtige Fach steckte, bevor er sich der nächsten zuwandte. Ich zog mir einen Stuhl heraus. »Soll ich dir helfen?«

»Klar. Einige davon sind schon zwei Jahre alt, wenn nicht noch älter.«

»Bezahlt oder unbezahlt?«

»Das habe ich noch nicht herausgefunden. Von beidem etwas, nehme ich an. Es ist chaotisch.«

»Ich kann nicht fassen, dass du dich darauf eingelassen hast, das zu übernehmen.«

»So schlimm ist es nicht.«

Ich schüttelte den Kopf und schmunzelte leise. Er ist ein Schatz, und ich weiß, dass er das Gleiche für mich tun würde, wenn ich Hilfe bräuchte. Wir saßen in freundschaftlichem Schweigen da, lasen Rechnungen und legten sie ab. »Wo ist eigentlich Rosie die ganze Zeit?«, fragte ich.

»In der Küche. Sie macht Kalbsleberpastete mit Anchovissoße.«

»Klingt interessant.«

Henry warf mir einen Blick zu.

»Na ja, könnte es doch sein«, sagte ich. Rosies Kochkünste waren verwegen und stammten aus Ungarn, die Namen der Gerichte waren unmöglich auszusprechen und die Speisen selbst oft zu seltsam, um genießbar zu sein. Ein Beispiel dafür ist etwa ihre Geflügelsuppe mit weißen Rosinen. Aufgrund ihres herrischen Wesens bestellen wir normalerweise, was sie uns aufdrängt, und versuchen es mit Humor zu nehmen.

Die Küchentür schwang auf, und William kam heraus. Er trug einen schicken dreiteiligen Nadelstreifenanzug und hatte sich die Abendzeitung unter den Arm geklemmt. Genau wie Henry ist er groß und schlaksig, besitzt die gleichen strahlend blauen Augen und einen üppigen Schopf weißer Haare. Die beiden sahen sich ähnlich genug, um für eineiige Zwillinge gehalten zu werden, an denen die Jahre nur ein paar geringfügige Veränderungen vorgenommen hatten. Henrys Gesicht war schmaler; William dagegen hatte ein markanteres Kinn und eine breitere Stirn. Als William am Tisch anlangte, fragte er, ob er sich dazusetzen dürfe, und Henry bedeutete ihm, sich den freien Stuhl zu nehmen.

»Guten Abend, Kinsey. Schwer an der Arbeit, wie ich sehe. Rosie kommt gleich und nimmt deine Essensbestellung auf. Du kriegst Kalbsleberpastete und Kohlrabi.«

»Jetzt machst du mir aber wirklich Angst«, sagte ich.

William schlug die Zeitung auf, nahm sich den zweiten Teil und blätterte zu den Nachrufen. Obwohl seine lebenslange Hypochondrie infolge der Heirat nachgelassen hatte, war er nach wie vor fasziniert von Menschen, deren Gebrechen sie aus dieser Welt abberufen hatten. Es ärgerte ihn, wenn in einem Nachruf nichts über die Art der tödlichen Krankheit stand. In Phasen der Depression oder Unsicherheit fiel er in seine alten Verhaltensweisen zurück, besuchte Beerdigungen wildfremder Menschen und erkundigte sich diskret bei den anderen Trauergästen nach dem Grund des Ablebens. Hauptanliegen seiner Frage war, von den ersten Anzeichen der tödlichen Krankheit zu erfahren – Sehstörungen, Schwindel, Atemnot – genau die Symptome, die er dann in der Woche darauf entwickelte. Er war nie zufrieden, bis er die wahre Geschichte erfahren hatte. »Magenbeschwerden«, erklärte er uns dann mit bedeutungsschwangerem Blick. »Wenn der gute Mann nur gleich bei den ersten Anzeichen kompetente Ärzte konsultiert hätte, könnte er womöglich heute noch leben. Das hat sein Bruder gesagt.«

»Wir müssen alle an irgendetwas sterben«, erklärte Henry dann immer unerschütterlich.

Das brachte William auf. »Jetzt sei doch nicht so pessimistisch. Ich rate ja nur zur Wachsamkeit. Auf die Botschaften des Körpers lauschen –«

»Meiner sagt: Eines Tages stirbst du sowieso, also sieh’s ein, du alter Sack.«

Heute Abend blickte Henry diskret auf Williams Zeitung. »Irgendjemand, den wir kennen?«

William schüttelte den Kopf. »Ein paar junge Leute Anfang siebzig; nur einer davon mit Foto. Kann nicht viel später aufgenommen worden sein als 1952.« Er blinzelte auf die Seite. »Ich hoffe, wir haben nicht so schmierig ausgesehen, als wir jung waren.«

»Du mit Sicherheit«, erwiderte Henry. Er trank einen Schluck Whiskey. »Wenn du als Erster stirbst, weiß ich schon genau, welches Bild ich der Zeitung für deinen Nachruf geben werde. Und zwar das aus dem Sommer, als wir Atlantic City unsicher gemacht haben, wo du in Knickerbockern drauf bist. Du trägst einen Mittelscheitel, und es hat den Anschein, als hättest du Lippenstift aufgetragen.«

William beugte sich vor. »Er ist immer noch eifersüchtig, weil ich ihm Alice Vandermeer weggeschnappt habe. Sie konnte Jitterbug tanzen wie der Teufel und hatte Geld wie Heu.«

»Sie hatte eine Geschwulst auf der Wange, die in Farbe und Größe mit einer Traube mithalten konnte«, konterte Henry. »Ich wusste nie, wo ich hinsehen sollte, also habe ich sie ihm angedreht.«

William blätterte ein paar Seiten weiter zu den Kleinanzeigen, wo er Beschreibungen »zugelaufener« Hunde und Katzen mit den Beschreibungen der »entlaufenenen« verglich und häufig Entsprechungen fand. Während Henry und ich damit weitermachten, Klotildes Arztrechnungen zu lesen und abzulegen, unterhielt uns William damit, was derzeit alles zum Verkauf angeboten wurde. »He, hier ist etwas. Suchst du immer noch ein neues Büro? Dann hör dir das mal an: Sechsundvierzig Quadratmeter, frisch renoviert, in der Stadtmitte. Zweihundertfünfzig im Monat und ab sofort frei.«

Ich unterbrach meine Beschäftigung und reckte den Kopf zu ihm hinüber. »Du machst wohl Witze. Lass mal sehen.«

William reichte mir den Zeitungsteil und wies auf die Anzeige, die folgendermaßen lautete:

ZU VERMIETEN:

46 qm in frisch renoviertem viktorianischen Haus,

Innenstadt Nähe Gerichtsgebäude;

mit Badezimmer, separatem Eingang und eigener Veranda.

$ 250, – im Monat.

Rufen Sie nach 18 Uhr an

und verlangen Sie Richard.

Dann folgte die Telefonnummer.

Ich las die Zeilen zweimal, doch sie schienen sich nicht zu verändern. »Ich wette, es ist ein Loch. In diesen Anzeigen färben sie doch immer schön.«

»Ein Anruf kann nicht schaden.«

»Glaubst du wirklich?«

»Sicher.«

»Und wenn es schon vermietet ist?«

»Dann hat es dich auch nichts gekostet. Vielleicht hat der Typ noch andere Objekte.« William fasste in sein Uhrentäschchen und nahm eine Münze heraus, die er direkt vor mir auf den Tisch legte. »Na los.«

Ich nahm Münze und Zeitung und durchquerte das Lokal. Das Münztelefon befand sich im Vorraum, der nur matt von einem Neonschild mit Budweiser-Werbung erleuchtet wurde. Ich wählte die Nummer und las die Anzeige noch einmal durch, während ich es viermal klingeln hörte. Schließlich wurde am anderen Ende abgenommen, und ich verlangte Richard.

»Hier ist Richard.«

Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig, aber in Telefonstimmen täuscht man sich leicht. »Ich rufe wegen der Büroräume an, die Sie in der heutigen Zeitung inseriert haben. Ist das Büro noch zu haben?« Ich merkte, dass mein Tonfall eine leicht klagende Färbung angenommen hatte.

»Schon, aber wir verlangen einen Mietvertrag für ein Jahr, die Miete für den ersten und letzten Monat im Voraus und eine Reinigungspauschale.«

»Darf ich fragen, in welcher Straße es liegt?«

»Floresta. Auf der anderen Seite vom Polizeirevier und etwa sechs Häuser weiter.«

»Und der angegebene Preis stimmt? In der Anzeige steht zweihundertfünfzig Dollar im Monat.«

»Es ist nur ein Raum. Es gibt einen Wandschrank und ein Badezimmer, aber groß ist es nicht.«

Ich stellte mir eine Telefonzelle vor. »Wäre eine Besichtigung heute Abend möglich?«

»Mein Bruder ist gerade drüben und verlegt den Teppich, und ich selbst wollte jetzt sowieso hinfahren. Wenn Sie es sich anschauen wollen, können wir uns in einer Viertelstunde dort treffen.«

Auf meiner Uhr war es halb acht. »Prima. Das schaffe ich. Wie ist die genaue Adresse?«

Er nannte sie mir. »Sie können über die Einfahrt auf den Parkplatz hinter dem Haus fahren. Dort sehen Sie ja, wo Licht brennt – es ist hinten im Erdgeschoss. Mein Bruder heißt Tommy. Der Nachname ist Hevener.«

»Ich heiße Kinsey Millhone. Herzlichen Dank. Wir sehen uns in einer Viertelstunde.«

Das Gebäude war früher zweifellos ein Einfamilienhaus gewesen – ein zweistöckiger weißer Holzbau mit Giebeln im Dach und einer Menge schnörkeliger Verzierungen. Um 19 Uhr 42. bog ich mit meinem VW in die Einfahrt ein, und meine Scheinwerfer durchschnitten die Finsternis. Ich bremste ab und spähte aus dem Fenster. Der weiße Anstrich wirkte frisch, und auf beiden Seiten befanden sich Blumenbeete. Wie hatte ich das hier übersehen können? Die Lage war ideal – einen Häuserblock entfernt von den Räumen, in denen ich jetzt war –, und der Preis hätte nicht günstiger sein können. Ich zählte zehn Parkplätze, die in dem engen, asphaltierten und auf beiden Seiten eingezäunten Hof markiert waren. Einen Platz belegte ein schwarzer Pick-up, doch alle anderen waren zu dieser Stunde leer. Gleich neben dem Hinterausgang zur Gasse stand ein großer Müllcontainer. Als ich aufblickte, sah ich die Fenster von Lonnies Büro und die Mauer, die den winzigen Parkplatz hinter seinem Haus begrenzte. Ich parkte und stieg aus, während ich versuchte, die plötzlich in mir aufwallende Hoffnung zu bezwingen. Womöglich stand das Haus ja zum Verkauf, oder es befand sich auf dem Grundstück einer ehemaligen Tankstelle, wo der Boden immer noch von Benzol und anderen Krebs erregenden Stoffen verseucht war.

Eine breite Veranda aus Redwood zog sich die gesamte Rückseite des Hauses entlang. Zu ihr gehörte eine lange Holzrampe, um Rollstuhlfahrern leichten Zugang zu ermöglichen. Ein weit ausladender Marktschirm aus hellem Segeltuch stand aufgespannt über einem Glastisch, der von vier Stühlen umstanden war. In mehreren Terrakottatöpfen waren Kräuter gepflanzt. Fast hätte ich zu hyperventilieren begonnen. Im Erdgeschoss brannte helles Licht. Ich betrat einen kleinen Flur, wo zu meiner Rechten eine Tür offen stand. Der Geruch nach frischer Farbe war stark, wurde aber von der durchdringenden Ausdünstung des nagelneuen Teppichbodens überlagert. Ich schloss die Augen, während ich ein Stoßgebet sprach, in dem ich meine Schlechtigkeit bereute und versprach, meinen üblen Lebenswandel zu ändern. Ich schlug die Augen auf, trat durch die Tür und verschlang den Raum mit einem Blick.

Das Zimmer war vier mal vier Meter groß und hatte an zwei Wänden neue Fenster mit Handkurbeln. Anstelle gewöhnlicher Vorhänge hatte man zweiteilige, weiß gestrichene Läden angebracht. An der Wand gegenüber standen zwei Türen offen, von denen die eine in ein kleines Badezimmer und die andere in einen wirklich geräumigen Wandschrank führte. Ein rothaariger Mann in Jeans, einem olivgrünen T-Shirt und schweren Arbeitsstiefeln saß auf dem Fußboden und trat gegen einen Teppichspanner, um den Teppich entlang der Fußleiste glatt zu bekommen. Der Telefonanschluss war bereits installiert worden, und der Apparat stand jetzt auf der Oberfläche eines leeren Pappkartons.

Der Teppich selbst war Nutzware aus Nylon mit einem Muster aus beigen Tupfen auf anthrazitfarbenem Hintergrund. Ich sah das Teppichmesser mit der starken, gebogenen Klinge und den Holzhammer, mit dem die Rückseite des Teppichs auf das Klebeband geschlagen wurde. In einer Ecke des Zimmers lag ein Haufen Teppichreste. Neben einem Mülleimer, der bis zum Rand mit weiteren Teppichabfällen gefüllt war, stand eine Kühltasche. Die grelle Zweihundert-Watt-Birne an der Decke machte den Raum irgendwie stickig.

»Hi, ich bin Kinsey«, sagte ich. »Ihr Bruder meinte, ich soll mich um Viertel vor acht hier mit ihm treffen. Sind Sie Tommy?«

»Genau. Richard kommt immer zu spät. Kann ich Ihnen schriftlich garantieren. Ich bin der Brave, der immer kommt, wenn er erwartet wird. Einen Moment noch bitte. Ich bin fast fertig.« Er warf mir einen Blick zu und schenkte mir ein Lächeln, das aus nichts als grünen Augen und weißen Zähnen bestand. Tiefe Furchen bildeten eine Klammer um seinen Mund. Mit seinen roten Haaren und der frischen Gesichtsfarbe übte er eine geradezu elektrisierende Wirkung aus, wie eine völlig unerwartete Technicolor-Passage in einem Schwarzweißfilm. Ich wandte den Blick ab und merkte, wie mir ein leichter Schauder über den Rücken lief. Ich hoffte, ich hatte nicht versehentlich laut gewinselt.

Ich sah ihm zu, wie er trat, hämmerte und schnitt und sich die Muskeln in seinem Rücken und seinen Schultern bei der Arbeit wölbten. Seine Arme waren von deutlich sichtbaren Venen gezeichnet und mit zartem rotem Flaum bewachsen. Eine Schweißspur lief ihm die Wange entlang. Er zuckte die Achseln und tupfte sich die eine Seite des Gesichts mit dem Ärmel ab. Dann warf er den Holzhammer beiseite, sprang auf die Beine und wischte sich mit den Handflächen hinten über die Hose. Er streckte eine Hand aus und sagte: »Wie war Ihr Name noch mal?«

»Kinsey. Und mein Nachname ist Millhone mit zwei ›l‹.«

Die Sonne hatte ihren Tribut von seinem hellen Teint gefordert und mehrere Falten in seine Stirn sowie weitere in die äußeren Winkel seiner Augen gezeichnet. Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig, einsachtundsiebzig groß und etwa dreiundsiebzig Kilo schwer. Als ehemalige Polizistin betrachte ich Männer nach wie vor als Verdächtige, die ich womöglich später bei einer Gegenüberstellung identifizieren muss. »Darf ich mich umschauen?«

Er zuckte die Achseln. »Nur zu. Viel gibt es nicht zu sehen«, erwiderte er. »In was für einer Branche sind Sie denn?«

Ich betrat das Badezimmer, und meine Stimme hallte von den Fliesen wider. »Ich bin Privatdetektivin.«

Es gab eine Toilette und ein Waschbecken mit eingebautem Arzneischränkchen darüber, dazu eine Duschkabine aus Fiberglas mit einer Glastür in einem Aluminiumrahmen. Der Fußboden war mit weißen Keramikfliesen ausgelegt, die sich bis zur Mitte der Wand hochzogen. Darüber folgte eine geblümte Vinyltapete in Beige, Weiß und Anthrazit. Die Wirkung war frisch und altmodisch zugleich. Außerdem wäre es leicht sauber zu halten.

Ich ging zurück in den Hauptraum, trat an den Wandschrank und spähte in den einszwanzig auf einsachtzig großen Raum, der ganz mit Teppich ausgelegt war und sich in gähnender Leere sowie jungfräulichem Weiß präsentierte. Genug Platz für Aktenregale und Büromaterial. Es gab sogar einen Haken, an den ich meine Jacke hängen konnte. Ich wandte mich zum großen Zimmer zurück und ließ den Blick umherschweifen. Wenn ich meinen Schreibtisch zum Fenster hin ausrichtete, konnte ich auf die Veranda schauen. Die Fensterläden waren ideal. Wenn ein Klient vorbeikam, konnte ich den unteren Teil schließen, um ungestört zu sein, und den oberen Teil offen lassen, damit Licht hereinkam. Ich drehte an einer der Fensterkurbeln, und sie setzte sich mühelos und ohne zu knarren oder zu quietschen in Bewegung. Dann lehnte ich mich gegen das Fenstersims. »Keine Termiten, kein undichtes Dach?«

»Nein, Ma’am. Das kann ich garantieren, weil ich die Arbeiten selbst durchgeführt habe. Hier hinten ist es richtig ruhig. Sie müssten es mal bei Tag sehen. Durch die Fenster kommt eine Menge Licht. Und wenn Ihnen jemand Ärger macht, haben Sie die Cops direkt gegenüber.« Sein Akzent klang entfernt nach dem Süden.

»Zum Glück ist mein Beruf nicht so gefährlich.«

Er schob die Hände in die Vordertaschen. Sein Gesicht war infolge zu starker Sonneneinstrahlung mit Flecken gesprenkelt wie mit einer zarten Schicht Sommersprossen. Mir fiel nicht ein, was ich als Nächstes sagen sollte, und so zog sich das Schweigen hin. Tommy nahm den Faden ohne tatkräftige Unterstützung durch meine Wenigkeit wieder auf. »Das Haus war ziemlich heruntergekommen, als wir es übernommen haben. Wir haben die Installationen und die Stromleitungen erneuert, das Dach neu gedeckt und die Seitenwände mit Aluminium verkleidet. Solche Sachen eben.« Seine Stimme war so leise, dass ich mich anstrengen musste, um ihn zu verstehen.

»Es sieht gut aus. Wie lange haben Sie das Haus schon?«

»Etwa ein Jahr. Wir sind neu hier. Wir haben vor ein paar Jahren unsere Eltern verloren – sie sind alle beide gestorben. Vor allem Richard spricht sehr ungern darüber. Es ist nach wie vor ein wunder Punkt. Jedenfalls sind wir jetzt allein, mein Bruder und ich.« Er trat an die Kühlbox, klappte den Deckel auf und sah zu mir her. »Kann ich Ihnen ein Bier anbieten?«

»O nein, danke. Ich wollte gerade zu Abend essen, als mir jemand Ihr Inserat gezeigt hat. Sowie ich mit Richard gesprochen habe, fahre ich zurück und esse dort.«

»Sie wollen also nichts trinken, weil Sie noch fahren müssen«, bemerkte er und lächelte bedauernd.

»Unter anderem.«

Er wühlte durch das zerstoßene Eis, zog eine Pepsi light heraus und riss sie auf. Ich hielt eine Hand in die Höhe, jedoch nicht schnell genug, um ihn aufzuhalten. »Ehrlich, ich habe keinen Durst.«

Sein Stirnrunzeln wurde durch einen gespielt missbilligenden Tonfall aufgelockert. »Kein Bier, kein Cola. Die Dose ist jetzt aber offen. Sie können ruhig einen Schluck trinken. Sie wollen doch nicht, dass das alles vergeudet wird«, wandte er ein. Erneut hielt er mir die Pepsi hin und schwenkte die Dose lockend in meine Richtung. Ich nahm sie, um ihn nicht zu brüskieren.

Er fasste erneut in die Kühlbox und nahm eine Flasche Bass Ale heraus. Dann hebelte er den Kronkorken auf und hielt sie am Hals, während er sich auf den Fußboden setzte. Er lehnte sich gegen die Wand und streckte vor sich die Beine aus. Seine Arbeitsstiefel wirkten riesig. Er zeigte auf die leere Teppichfläche. »Nehmen Sie doch Platz. Dann haben Sie es gemütlicher.«

»Danke.« Ich wählte einen Fleck ihm gegenüber, setzte mich auf den Boden und trank höflich einen Schluck Pepsi, bevor ich die Dose absetzte.

Tommy trank einen großen Schluck Bier. Er sah aus wie ein Mann, der es gewohnt ist, bei der Arbeit zu rauchen. »Früher hab ich noch geraucht«, erklärte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Es ist hart, aufzuhören, aber ich glaube, ich hab’s geschafft. Rauchen Sie?«

»Früher mal.«

»Bei mir sind’s jetzt sechs Monate. Ab und zu juckt’s mich noch, aber dann hole ich ein paarmal tief Atem, so wie jetzt ...« Er hielt inne, um es zu demonstrieren, und sein Brustkorb weitete sich, als er die Luft hörbar durch die Nase einatmete. Dann atmete er aus. »So verschwindet die Lust auf eine Zigarette ziemlich schnell. Woher kommen Sie?«

»Ich bin von hier. War auf der Santa Teresa High.«

»Mein Bruder und ich stammen aus Texas. Aus einem kleinen Ort namens Hatchet. Schon mal davon gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Liegt gleich bei Houston. Pop war in der Ölbranche. Zum Glück hat er die Firma verkauft, bevor die Preise in den Keller sanken. Er hat sein ganzes Geld in Immobilien gesteckt. Hat Einkaufszentren gebaut, Bürogebäude, alle Arten von kommerzieller Architektur. Kalifornien ist seltsam. Die Leute hier kommen mir ganz und gar nicht so freundlich vor wie dort, wo wir herkommen. Vor allem die Frauen. Viele wirken richtig hochnäsig.«

Erneut machte sich Schweigen breit.

Er trank noch einen Schluck Bier und wischte sich mit der Handinnenfläche den Mund. »Privatdetektivin. Das ist für mich was Neues. Tragen Sie eine Pistole bei sich?«

»Gelegentlich. Nicht oft.« Ich lasse mich nicht gern aushorchen, obwohl er wahrscheinlich nur höfliche Konversation treiben wollte, bis sein Bruder auftauchte.

Er schmunzelte träge, als hätte er meine angeborene Gereiztheit gespürt. »Also, welche sind Ihnen lieber? Männer, die viel zu jung für Sie sind, oder Männer, die viel zu alt sind?«

»Darüber habe ich noch nie in dieser Form nachgedacht.«

Er drohte mir mit dem Finger. »Männer, die viel zu alt sind.«

Ich merkte, wie meine Wangen warm wurden. So alt war Dietz nun auch wieder nicht.

»Ich mag Frauen in Ihrem Alter«, sagte er und ließ seine weißen Zähne aufblitzen. »Haben Sie einen festen Freund?«

»Das geht Sie nichts an.«

Tommy lachte. »Ach, kommen Sie. Sind Sie mit jemandem zusammen?«

»Mehr oder weniger«, antwortete ich. Ich wollte es mir mit dem Typen nicht verderben, da ich entgegen aller Wahrscheinlichkeit hoffte, diesen Raum mieten zu können.

»›Mehr oder weniger.‹ Das gefällt mir. Also was von beidem?«

»Eher ›mehr‹, schätze ich.«

»Kann keine heiße Liebe sein, wenn Sie schon schätzen müssen.« Er zog die Augen zu Schlitzen zusammen, als zöge er seine Intuition zu Rate. »Wissen Sie, was ich glaube? Ich wette, Sie sind richtig schizo. Ich wette, Sie sind total sprunghaft gegenüber anderen Menschen, vor allem Männern. Hab ich Recht?«

»Nicht unbedingt. Das würde ich nicht sagen.«

»Aber Sie müssen schon eine Menge schlimme Typen getroffen haben, bei Ihrem Beruf.«

»Ich habe auch einige schlimme Frauen getroffen.«

»Das ist noch etwas, was ich mag. Schlimme Mädchen, schlimme Frauen, Aufsässige, Rebellen ...« Er hob den Kopf und sah dabei auf die Uhr. »Da kommt er. Eine Viertelstunde zu spät. Darauf kann man praktisch wetten.«

Ich sah zum Fenster, als zwei Scheinwerfer über den Parkplatz schwenkten, und stand auf. Tommy trank sein Bier aus und stellte die Flasche beiseite. Eine Wagentür fiel ins Schloss, und kurz darauf betrat Richard Hevener den Raum, wobei er sich immer wieder nervös mit einem Klemmbrett seitlich gegen das Bein klopfte. Er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt und darüber ein Sportsakko aus geschmeidig aussehendem schwarzem Leder. Er war größer als Tommy, wesentlich stämmiger und hatte dunkle Haare. Er war der missmutigere Bruder, und er schien sich sehr ernst zu nehmen. Das würde ein schönes Stück Arbeit werden.

»Richard Hevener«, sagte er und hielt mir die Hand hin. Wir schüttelten uns die Hände, und dann wandte er sich zu Tommy. »Sieht gut aus.«

»Danke. Ich muss nur noch aufräumen, dann hau ich hier ab. Brauchst du noch irgendwas?«

Ich hörte kurz weg, während sich die beiden berieten. Aus ihren Worten schloss ich, dass es noch ein zweites Haus gab, das sie gerade renovierten, und dass Tommy in der folgenden Woche dort anfangen sollte. Seine Art hatte sich in Gegenwart seines Bruders verändert, und er stellte seine Flirtversuche ein. Als sie ihre Diskussion beendet hatten, nahm Tommy den Papierkorb mit den Teppichabfällen und machte sich auf den Weg zum Müllcontainer im hinteren Teil des Grundstücks.

»Und, was halten Sie von den Räumen?«, fragte Richard, indem er sich mir zuwandte. »Möchten Sie einen Antrag ausfüllen?« Sein Akzent und seine Redeweise erinnerten bedeutend weniger an Texas als die Tommys. Dadurch wirkte er älter und geschäftsmäßiger.

»Klar, kann ich machen«, sagte ich und bemühte mich, nicht kriecherisch zu klingen.

Er reichte mir das Klemmbrett und einen Stift. »Wir bezahlen Wasser und Müllabfuhr. Strom und Telefon bezahlen Sie selbst. Die Heizung wird anteilig und je nach Saison berechnet. Es gibt nur einen anderen Mieter, und zwar einen Steuerberater.«

»Ich kann gar nicht glauben, dass die Räume nicht schon vergeben sind.«

»Das Inserat ist gerade erst erschienen. Wir hatten schon eine Menge Anrufe. Gleich nach Ihrem noch drei. Heute Abend treffe ich mich noch mit einem anderen Interessenten.«

Ich merkte, wie meine Anspannung wuchs. Ich stützte mich aufs Fenstersims und begann, den Antrag auszufüllen. Anträge sind mühsam und verlangen Angaben, die im Grunde niemanden etwas angehen. Ich trug meine Sozialversicherungsnummer und die Nummer meines kalifornischen Führerscheins ein, umringelte »geschieden« in dem Abschnitt, in dem gefragt wurde, ob ich allein stehend, verheiratet oder geschieden war. Dann folgten Fragen nach früheren Adressen, wie lange ich dort Mieterin gewesen und warum ich ausgezogen war. Ich nannte persönliche Referenzen sowie die Bank, bei der ich mein Girokonto hatte. Ein paar Sachen erfand ich einfach. Dort, wo nach Kreditkartennummern und dem Stand dieser Konten gefragt wurde, machte ich Striche. Als ich fertig war, war Tommy schon gegangen. Ich hörte seinen Pick-up in der Einfahrt, und dann war er weg. Ich reichte Richard das Klemmbrett und sah ihm zu, wie er die Angaben überflog.

»Wenn Sie eine Anzahlung wollen, kann ich Ihnen heute Abend noch eine geben.«

»Nicht nötig. Ich erkundige mich bei Ihren Referenzen und nach Ihrer Bonität. Es kommen am Montag noch ein paar Leute.«

»Können Sie schon ungefähr sagen, wann Sie sich entscheiden werden?«

»Mitte der Woche. Geben Sie uns eine Möglichkeit, wie wir Sie erreichen können, falls ich noch eine Frage habe.«

Ich zeigte auf den Antrag. »Da stehen meine Privat- und meine Büronummer. Ich habe an beiden Anschlüssen einen Anrufbeantworter.«

»Ist das Ihre derzeitige Büroadresse?«

»Genau. Ich habe Räume bei einem Anwalt namens Lonnie Kingman gemietet. Er und mein privater Vermieter können Ihnen beide sagen, dass ich pünktlich zahle.«

»Klingt gut. Wenn ich noch Fragen habe, rufe ich Sie an. Sonst melde ich mich, wenn ich die anderen Anträge durchgegangen bin.«

»Schön. Das klingt wunderbar. Wenn Sie wollen, kann ich die ersten sechs Monate im Voraus zahlen.« Langsam klang ich regelrecht albern, unterwürfig und unsicher.

»Tatsächlich«, sagte Richard. Er musterte mich. Seine Augen waren dunkelbraun und grüblerisch. »Fünfzehnhundert Dollar, zuzüglich der hundertfünfundsiebzig für die Reinigungspauschale«, erklärte er, damit ich auch genau wusste, auf welchen Irrsinn ich mich einließ.

Ich dachte an Fionas Fünfzehnhundert-Dollar-Scheck. »Klar, kein Problem. Das könnte ich Ihnen sofort geben.«

»Ich werde es in meine Überlegungen einfließen lassen.«

Tödliche Gier

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