Читать книгу Tödliche Gier - Sue Grafton - Страница 8
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ОглавлениеSolange ich allein war, nutzte ich die Zeit, um mich rasch im Haus umzusehen. Normalerweise ziehe ich, wenn sich die Gelegenheit ergibt, ein paar Schubladen auf, um die Post durchzusehen und vielleicht sogar einen Brief oder eine Kreditkartenabrechnung zu überfliegen. Es steckt ja so viel Information in unserer Korrespondenz, und genau deshalb sind diese lästigen Strafen für die Verletzung des Postgeheimnisses auch derart streng. Doch so sehr ich auch suchte, ich fand nichts Interessantes, also blieb mir nichts anderes übrig, als die Möbel zu bestaunen und zu versuchen, ihren Wert zu schätzen – nicht gerade eine Spezialität von mir. In der einen Ecke stand ein runder Tisch mit einer bodenlangen Tischdecke, umringt von vier Stühlen, von denen jeder ein identisches Kleidchen mit hinten gebundener Schleife trug. Ich hob einen Rock hoch und entdeckte einen gewöhnlichen Klappstuhl aus Metall. Der Tisch selbst bestand aus einer rohen Sperrholzplatte, die auf ein billiges Gestell montiert worden war. Er war eine Alltagsmetapher für vieles, was ich im Zuge meiner Arbeit zu sehen bekomme: Was oberflächlich betrachtet gut aussieht, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung meist als Schrott.
An der Wand links von mir standen vom Boden bis zur Decke Bücherregale, an deren Mitte eine an einer Schiene befestigte Leiter stand. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass die Bretter voller Liebesromane waren, verfasst von Autorinnen mit erfunden klingenden Namen. Ein frei stehender schwedischer Ofen sorgte an kalten Abenden für Wärme, ohne den Meerblick zu behindern. Ein langer, abgewinkelter Tresen trennte die High-Tech-Küche von einer Essecke, die auf den Strand hinausging. Zur Rechten gab es eine Treppe, die ich sehnsüchtig musterte. Im ersten und zweiten Stock lagen vermutlich die Schlafzimmer und vielleicht ein Arbeitszimmer, in dem sämtliche deftigen Papiere aufbewahrt wurden. Vermutlich wurde ihre gesamte Post ohnehin an den Hauptwohnsitz in Horton Ravine geschickt, was eine Erklärung dafür gewesen wäre, dass nirgends Briefe zu sehen waren.
Ich hörte, wie jemand durch das Zimmer direkt über mir ging – das gedämpfte Tappen nackter Füße auf nacktem Holz. Ohne nachzudenken blickte ich nach oben und folgte dem Geräusch. Erst jetzt merkte ich, dass es ein »Fenster« in der Decke gab – ein vielleicht neunzig mal neunzig Zentimeter großes Quadrat aus Glas oder Plexiglas, das den Blick ins Zimmer darüber freigab. Verblüfft sah ich Crystal Purcell nackt durch mein Blickfeld stolzieren. Eine halbe Minute später kam sie die Treppe herunter, nach wie vor barfuß und in ausgewaschenen Jeans, die so tief geschnitten waren, dass ihr Bauchnabel heraussah. Ihr kurzes T-Shirt war grau und hatte einen vom jahrelangen Tragen völlig ausgeleierten Kragen.
Ihr Haar, von einem noblen Salon blondiert, war ein bisschen länger als schulterlang und umrahmte ihr Gesicht in einem Gewirr weicher Locken. Ein paar Strähnen im Nacken waren noch feucht vom Duschen. Sie streckte die Hand aus und sagte: »Hallo, Kinsey. Tut mir Leid, dass Sie warten mussten. Ich war gerade beim Joggen und wollte mir erst den Schweiß und den Sand abwaschen.« Ihr Händedruck war fest, ihre Stimme sanft und ihre Art liebenswürdig, aber zurückhaltend. »Wo ist Anica? Ist sie schon weg? Ich hatte sie gebeten, Ihnen Gesellschaft zu leisten, bis ich herunterkomme.«
»Sie ist gerade erst gegangen. Sie lässt ausrichten, dass Sie sie anrufen möchten, sobald Sie Zeit haben.«
Crystal ging in die Küche und sprach in meine Richtung, während sie an den Edelstahlkühlschrank trat und eine Flasche Wein herausnahm. »Sie ist ein Geschenk des Himmels, vor allem, wenn Leila am Wochenende hier ist. Es ist so schon schlimm genug, auch ohne dass ich mir ihretwegen noch Sorgen machen muss. Anica ist pädagogische Beraterin an Leilas Privatschule.«
»Das hat sie mir erzählt. Muss schön sein, sie so in der Nähe zu haben.«
»Sie ist eine gute Freundin. Eine der wenigen, könnte ich hinzufügen. Dows Bekannte aus Horton Ravine erachten mich als nicht gesellschaftsfähig.«
Mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte sagen können, also hielt ich den Mund. Ich trat an den Tresen, um sie nicht aus dem Blick zu verlieren. Vor mir ruhten die Reste von Griffs Abendessen. Auf dem Tablett seines Hochstuhls aus Chrom und Plastik war ein dreiteiliger Teller mit Beatrix-Potter-Motiven stehen geblieben, auf dem vor sich hin trocknende Rühreireste, Toastränder und ein Tupfer Apfelmus lagen. Ein Lätzchen hing über dem Stuhlrücken.
»Seit wann kennen Sie sie?«
»Noch gar nicht besonders lang. Seit irgendwann Anfang letzten Frühlings. Ich habe sie erst am Strand gesehen und dann am Fitch, bei einem dieser grauenhaften Elternabende. Hat sie Ihnen einen Drink angeboten?«
»Ja. Aber ich hielt es für besser, jetzt noch nichts zu trinken.«
»Wirklich? Weshalb?« Sie nahm einen Korkenzieher aus der Küchenschublade und machte sich daran, die Flasche zu öffnen, nachdem sie sich ein Glas aus dem Schrank geholt hatte.
»Ich weiß nicht. Es kommt mir unprofessionell vor. Schließlich bin ich ja geschäftlich hier.«
Nachdenklich nahm sie ein zweites Glas heraus und hielt es in die Höhe. »Sind Sie sicher? Es wird nicht gegen Sie verwendet. Wir können uns raus auf die Terrasse setzen, Wein picheln und dabei den Sonnenuntergang betrachten.«
»Ach, na gut. Warum nicht. Sie haben mich überredet.«
»Super. Ich hasse es, alleine zu trinken.« Sie hielt mir Gläser und Flasche hin. »Wenn Sie die nehmen, mache ich uns einen Teller Häppchen. Dann werden wir nicht beschwipst – oder jedenfalls nicht beschwipster, als wir wollen.«
Ich nahm die Gläser in die Hand, so dass die Stiele ein X bildeten, und steckte mir die Weinflasche in die Armbeuge. Dann durchquerte ich den großen Raum und stieß mit dem Ellbogen eine der Glastüren auf. Draußen angekommen, stellte ich alles auf den verwitterten Holztisch zwischen den beiden hölzernen Segeltuchstühlen. Der Wind, der vom Meer her blies, war feucht und roch durchdringend, wie ein Austernlikör. Ich holte tief Luft und spürte den schwachen Salzgeschmack bis in den Rachen hinab.
Die Wedel der Palmen neben dem Haus schlugen immer wieder gegen die vergrauende Hauswand und machten dabei leise Kratzgeräusche. Ich trat ans Ende der Terrasse und ließ den Blick über die Brandung schweifen. Der Strand war verlassen, während draußen auf See die weißen Lichter der Ölbohrplattformen glitzerten wie Diamanten auf schwarzem Samt. Das Wetter ließ drohende Gefahr erahnen. Ich setzte mich und verschränkte gegen die Kälte die Arme. Es dämmerte schon fast; ein allmähliches, konturloses Dunkelwerden, bei dem zwischen den dicken Wolken keine Farben sichtbar wurden. Weit draußen am Horizont konnte ich dort, wo die letzten Sonnenstrahlen auf die Wasseroberfläche fielen, silberne Flecken ausmachen. Ich hörte das entfernte Röhren eines Pendlerflugzeugs, das die Küste entlang näher kam. Durch die Terrassentüren gesehen, wirkte das Wohnzimmer sauber und gemütlich. Ich war dankbar für den Schutz, den der langärmlige Rollkragenpullover unter meinem Blazer bot. Beiläufig sah ich auf die Chardonnayflasche mit ihrem schicken schwarzsilbernen Etikett. Ich beugte mich weiter vor. Auf dem Preisschild stand »$ 65,00«, was mehr war, als ich diesen Monat für meine Telefon- und Stromrechnung zusammen bezahlt hatte.
Zwei dekorative Lampen gingen an, und Crystal kam nach wie vor barfuß heraus, in der Hand ein Tablett mit Käse und Crackern, umgeben von Trauben und Apfelschnitzen. Sie hatte einen schweren Troyer angezogen, der ihr fast bis zu den Knien ging, was ihr sehr gut stand. Sie hatte hinter sich die Tür offen gelassen und sah zu mir her. »Sie sehen aus, als frören Sie. Ich bin das Meer gewöhnt, aber Ihnen ist sicher kalt. Soll ich die Außenheizung anwerfen? Es dauert nur einen Moment. Sie können so lange den Wein einschenken, wenn Sie möchten.«
Ich tat, worum sie gebeten hatte, und sah ihr zu, wie sie sich neben eine wuchtige Propangasflasche setzte, an die ein Heizelement angeschlossen war. Ihre Finger- und Zehennägel waren im französischen Stil gestylt, so dass der Halbmond am unteren Ende des Nagels und der obere Rand weiß gefärbt waren. Es wirkte sehr natürlich, obwohl dieser Effekt sie vermutlich – genau wie die Haare – eine Stange Geld kostete und alle zwei Wochen aufgefrischt werden musste. Es war nicht schwer, sie sich beim Strippen vorzustellen. Sie drehte an einem Ventil und brachte das zischend ausströmende Gas mit einem elektrischen Zünder zum Brennen. Bald glühten die zuerst noch roten Heizspiralen fast weiß. Sie entzündete das zweite Heizelement und drehte es in unsere Richtung, so dass die Wärme in den Raum zwischen uns strömte. »Ist es so besser?«
»Wesentlich.«
»Gut. Wenn Sie etwas Wärmeres brauchen, sagen Sie es ruhig. Ich habe hier unten im Wandschrank massenhaft Pullis.«
Schweigend tranken wir unseren Wein, während ich versuchte, einen Anfang für meine Fragen zu finden. »Es freut mich, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit mir zu sprechen.«
Sie lächelte matt. »Ich habe mir schon ein Dutzend Male überlegt, selbst einen Detektiv zu engagieren, aber ich wollte der Polizei nicht in die Quere kommen. Ich vertraue ihren Leistungen voll und ganz. Fiona offenbar nicht.«
»Es gefällt ihr, wenn sich jemand ausschließlich den Interessen der Familie widmet. Die Polizei hat noch andere Fälle, die ihrer unmittelbaren Aufmerksamkeit bedürfen.« Ich machte eine Pause. »Ich möchte gern klarstellen, dass alles, was Sie sagen, bei mir gut aufgehoben ist. Falls Sie sachdienliche Angaben machen, berichte ich ihr natürlich davon, aber sonst sage ich nichts weiter. Sie können so offen sprechen, wie Sie wollen.«
»Danke. Das hatte ich mich schon gefragt.«
»Ich nehme an, dass Sie nicht die dicksten Freundinnen sind.«
»Wohl kaum. Fiona hat alles getan, was in ihrer Macht steht, um mir das Leben zur Hölle zu machen.« Ihr Gesicht war eckig, der Mund breit. Sie hatte graue Augen, blasse Brauen und dichte schwarze Wimpern. Von Wimperntusche abgesehen schien sie wenig oder gar kein Make-up zu tragen. Ich sah ihr an, dass sie sich die Augen und wahrscheinlich auch die Nase hatte operieren lassen. Ja, im Grunde war fast alles, was ich vor mir sah, von einem Trupp munterer Chirurgen Stück für Stück irgendwie verschönert oder verbessert worden. Crystal lächelte kurz. »Hören Sie. Ich weiß, dass sie alles dafür tut, um sich selbst als Opfer in der ganzen Sache darzustellen, als die Betrogene und Genasführte. In Wirklichkeit hat sie Dow nie etwas gegeben. Es war immer nur nehmen, nehmen, nehmen. Dow war an einem Punkt angelangt, an dem ihm nichts mehr blieb. Der arme Kerl. Wenn ich nur daran denke, wie viele Stunden er gearbeitet hat, an all die Opfer, die er für sie und die Töchter gebracht hat – und wofür das alles? Jahrelang haben die drei nur die Hände aufgehalten. Vor allem Fiona. Sie hat sich immer wieder einen neuen hirnrissigen Plan einfallen lassen. Ihr aktuelles Geschäftsvorhaben ist nur ein Beispiel dafür. Innenarchitektur? Wen möchte sie denn damit für dumm verkaufen? Sie ist eine Hausfrau aus Horton Ravine, die das Geld von jemand anders ausgibt, und jetzt auf einmal redet sie von ihrem Talent und ihrem ›Blick‹ für Gestaltung. Sie hat nur eine einzige Klientin – eine Freundin von ihr namens Dana ...«
»Ist die nicht mit einem von Dows Arbeitgebern verheiratet?«
»Mit Joel Glazer, genau. Woher kennen Sie ihn?«
»Ich kenne ihn gar nicht. Ich kenne sie, oder vielmehr kannte ich sie, als sie noch mit einem anderen Mann verheiratet war.«
»Besonders intelligent kann sie nicht sein. Fiona nimmt sie nach allen Regeln der Kunst aus.«
»Wie steht’s mit Dows Töchtern? Was haben Sie zu denen für ein Verhältnis?«
Crystal zuckte mit den Achseln. »Die sind ganz in Ordnung. Sie wissen nicht einmal die Hälfte von allem, was abläuft. Vermutlich hassen sie mich, aber immerhin sind sie zu höflich, um es zu sagen. Meist haben sie genug damit zu tun, ihrem Dad in den Hintern zu kriechen. Ich wette, sie haben Angst, dass er stirbt und sein ganzes Geld Griffith und mir hinterlässt, was ich auch verstehen kann. Ich würde mir an ihrer Stelle über das Gleiche den Kopf zerbrechen.«
Sie nahm ein Buttermesser und schnitt in eine Ecke Brie. Sie strich den weichen Käse auf einen Cracker und hielt ihn mir hin. Ich nahm ihn und sah ihr zu, wie sie einen zweiten für sich machte, ihn sich in den Mund warf und zu kauen begann. »Jedenfalls spielt das jetzt, wo Dow verschwunden ist, irgendwie keine Rolle mehr. Jegliche Auseinandersetzung zwischen Fiona und mir ist jetzt hinfällig geworden.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo er ist?«
»Schön wär’s. Ich habe die letzten neun Wochen kaum über etwas anderes nachgedacht.«
»Glauben Sie, dass er noch lebt?«
»Nein, eigentlich nicht, aber ich weiß es natürlich nicht sicher. Wenn ich wüsste, dass er tot ist, könnte ich wenigstens Frieden damit schließen und mich meinem eigenen Leben zuwenden.«
»Der Kriminalbeamte hat erwähnt, dass Geld fehlt. Er sagt, fast dreißigtausend Dollar seien im Lauf der letzten zwei Jahre von seinen Sparkonten abgehoben worden.«
»Das habe ich auch gehört. Ich wusste nichts davon, bis mich die Polizei darauf aufmerksam gemacht hat. Ich weiß zwar, dass er irgendwo eine hohe Geldsumme liegen hatte, aber er hat mir nie Näheres darüber anvertraut. Offenbar wurden die Auszüge für dieses Konto an ein Postfach geschickt, das ich gemietet hatte. Dowan hat mich vor einigen Monaten danach gefragt, und ich habe ihm gesagt, dass ich es gekündigt habe. Jetzt sieht es aber ganz danach aus, als hätte er dafür bezahlt und es weiterhin behalten.«
»Warum hat er Sie wohl danach gefragt, wenn er ohnehin Bescheid wusste?«
Crystal zuckte die Achseln. »Vielleicht wollte er herausfinden, wie viel ich wusste.«
»Wozu könnte er das ganze Geld gebraucht haben?«
»Ich habe keine Ahnung. Er hat immer alles mit Kreditkarten bezahlt.«
»Könnte es um Erpressung gehen?«
»Weswegen?«
»Das frage ich Sie. Haben Sie irgendeine Ahnung?«
»Sie glauben, er wird erpresst? Das ist ja lächerlich. Womit denn?«
»Wäre es nicht möglich?«
Sie starrte mich kurz an und schüttelte dann den Kopf. Offenbar fiel ihr nichts ein. »Man sollte doch meinen, dass ein Erpresser an einer Pauschalsumme interessiert wäre, nicht an läppischen dreihundert die Woche.«
»Vielleicht hat es so akzeptabler gewirkt. Es ist eine Sache, eine hohe Geldsumme zu verlangen. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn einen jemand um Hilfe für den Lebensunterhalt angeht.«
»Ich bin mir sicher, dass er es mir gesagt hätte, wenn ihn jemand um Geld erpresst hätte. Dow hat mir alles gesagt.«
»Soweit Sie wissen.«
Sie blinzelte. »Ja, schon.«
»Außerdem hätte es ja mit Ihnen zu tun haben können.«
»Inwiefern?«
»Womöglich hat er Ihnen zuliebe Schweigegeld bezahlt, zu Ihrem Schutz.«
»Das glaube ich nicht.« Ich hätte schwören können, dass sich ihre Wangen dunkler färbten, doch in dem nachlassenden Licht war es schwer zu sagen. Auf jeden Fall zitterte ihre Hand nicht, als sie ihr Weinglas an die Lippen führte. Sie stellte das Glas auf der Terrasse ab und schob sich die aneinander gepressten Hände zwischen die Knie, als wollte sie sie wärmen.
Ich veränderte meine Taktik, da ich sie nicht aus dem Gesprächsfluss bringen wollte. »Wären Sie bereit, noch einmal zurückzudenken und mir zu erzählen, wie die vergangenen neun Wochen für Sie waren?«
Sie atmete hörbar aus. »Es war entsetzlich. Grauenhaft. Momentan bin ich wie betäubt, aber die ersten zwei oder drei Tage war ich nur vom Adrenalin getrieben, und das hat mich komplett ausgelaugt. Das Haus wimmelte von Leuten – meine Freunde, Dows Töchter, seine Freunde und Kollegen. Ich wollte eigentlich niemanden sehen, aber ich konnte nicht ablehnen. Ich hatte nicht genug Energie, um mich zu widersetzen, und so haben sie mich überrollt. Ich konnte mich kaum aufrecht halten. Eigentlich wollte ich nur dasitzen und aufs Telefon starren, zur Tür und wieder zurück marschieren, schreien oder mich betrinken. Tagelang bin ich immer wieder ins Auto gestiegen, zwischen dem Pflegeheim und zu Hause hin und her gependelt und jede denkbare Strecke abgefahren. Immer wieder fand ich mich plötzlich auf der Straße, bis ich gemerkt habe, wie dumm das von mir war. Dow konnte weiß Gott wo sein, und die Aussichten, dass ich ihn irgendwo entdecke, waren astronomisch gering.«
»War an dem Tag, als er verschwunden ist, irgendetwas merkwürdig? Irgendeine Verhaltensweise, irgendetwas, was er gesagt hat, das Ihnen rückblickend abweichend erscheint?«
Crystal schüttelte den Kopf. »Es war ein Freitag wie jeder andere. Er freute sich aufs Wochenende. Am Samstag wollte er bei einem Golfturnier im Country Club mitspielen. Nichts Besonderes, aber ihm machte es Spaß. Am Samstagabend wollten wir mit Freunden essen gehen – mit einem Paar, das kürzlich aus Colorado, wo ihnen mehrere Restaurants gehört haben, hierher gezogen ist.«
»Können Sie mir die Namen sagen?«
»Sicher. Ich gebe Ihnen eine Liste, bevor Sie gehen.«
»Und sonst hat auch niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt?«
»Meines Wissens nicht. Sie können ja mit seinen Arbeitgebern und dem Personal des Pflegeheims sprechen. Mit den meisten von ihnen habe ich selbst schon geredet und ihnen dieselbe Frage gestellt. Die Polizei hat ihrerseits Befragungen durchgeführt. Alle haben zu helfen versucht, aber niemand scheint irgendwas zu wissen, und wenn doch, dann hat zumindest keiner etwas gesagt.«
»Hatte er Probleme bei der Arbeit?«
»Es gibt immer Probleme bei der Arbeit. Dow nimmt seinen Job sehr ernst. Er hat mit Patienten und Personal ebenso zu tun wie mit Verwaltungsaufgaben. Außerdem ist er mit sämtlichen Einstellungen und Kündigungen sowie der alljährlichen Gehaltsrevision befasst. Es läuft nie reibungslos. Das liegt in der Natur der Sache. Kürzlich hat er die Bücher eingehend überprüft. Das Steuerjahr im Pflegeheim endet am dreißigsten November, und Dow erledigt gern alles rechtzeitig.«
»Ich nehme an, er widmet dem Pflegeheim einen Großteil seiner Zeit?«
»Das stimmt. Er hat seine private Praxis vor etwa fünf Jahren aufgegeben. Abgesehen von seinem Einsatz für ein paar wohltätige Organisationen, die ihm nach wie vor am Herzen liegen, verbringt er seine Zeit in Pacific Meadows und sorgt dafür, dass der Betrieb dort läuft.«
»Lagen – liegen seine Aufgaben im medizinischen oder im verwalterischen Bereich?«
»Ich würde sagen, sowohl als auch. Er kümmert sich intensiv um die Heimbewohner. Natürlich behandelt er sie nicht, da sie für ihre medizinischen Belange ihre eigenen Hausärzte haben, aber Dow ist jeden Tag da und überwacht alles. Wissen Sie, das ist nicht immer leicht. In der Geriatrie verliert man mit der Zeit die Menschen, die man am liebsten gewonnen hat.«
»Irgendjemand Bestimmtes?«
»Äh, nein. Ich habe niemand Bestimmten gemeint«, antwortete sie, »und ich wollte damit auch nicht sagen, dass er überfordert gewesen wäre. Das war natürlich nicht der Fall. Er arbeitet schon seit Jahren mit alten Menschen. Ich möchte nur sagen, dass es ihm emotional einiges abverlangt hat.«
»Wäre denkbar, dass er sich freiwillig aus dem Staub gemacht hat?«
»Nein.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»Absolut. Und wollen Sie wissen, warum? Wegen Griff. Der Junge ist Dows Augenstern. Wenn Dow spät nach Hause kam, ging er als Erstes in Griffs Zimmer. Dann hat er sich neben ihm aufs Bett gelegt und ihm nur beim Atmen zugesehen. Manchmal ist er dort eingeschlafen. Er würde Griff nie freiwillig verlassen.«
»Aha«, sagte ich.
»Da ist auch noch etwas anderes. Dow schreibt an einem Buch. Das ist ein Projekt, mit dem er schon seit Jahren liebäugelt. Er hat so viele Veränderungen in der Medizin miterlebt, und er weiß wirklich wunderbare Geschichten zu erzählen. Das würde er nicht einfach aufgeben.«
»Und wie steht’s mit Ihnen beiden? Verstehen Sie sich gut?«
»Wir stehen uns sehr nahe. Ehrlich gesagt haben wir uns überlegt, ob wir noch ein Baby bekommen sollen, jetzt, wo Griffith zwei ist.«
»Sie sind also überzeugt, dass etwas Schlimmes passiert ist.«
»Etwas sehr Schlimmes. Ich komme nur nicht darauf, was. Wenn er verletzt oder entführt worden wäre, hätten wir mittlerweile mit Sicherheit etwas gehört.«
»Was ist mit seinen Arbeitgebern? Was können Sie mir über die beiden sagen?«
»Im Grunde weiß ich da nicht viel. Joel Glazer bin ich nur zweimal begegnet. Eine dieser Gelegenheiten war die Grundsteinlegung für den neuen Flügel von Pacific Meadows, und da hatten wir keine Zeit zu plaudern. Soweit ich weiß, haben er und Harvey Broadus ein Vermögen im Bauwesen gemacht, indem sie Seniorenwohnanlagen im Südwesten erschlossen haben. Außerdem gehören ihnen eine Kette von Wohnheimen und mehrere Pflegeheime überall in Kalifornien. Wir haben Harvey früher ab und zu bei gesellschaftlichen Anlässen gesehen, aber er steckt offenbar mitten in einer hässlichen Scheidung, daher hält er sich lieber im Hintergrund. Für meinen Geschmack ist er ein bisschen falsch, aber vielleicht kommt das nur mir so vor. Jedenfalls wusste Dow, nachdem er 1981 in den Ruhestand gegangen war, nichts mit sich anzufangen. Jeder weiß, was für ein hohes Ansehen er unter seinen Medizinerkollegen genießt. Die beiden haben ihn wegen Pacific Meadows angesprochen und ihn gebeten, die Verwaltungsaufgaben zu übernehmen.«
»Und sie kommen miteinander zurecht?«
»Soweit ich weiß schon. Ich meine, sie sehen sich ja kaum. Joel und Harvey scheinen mit Dow zufrieden zu sein, und so gehen sie ihren Weg und lassen ihn seinen gehen. Die Abrechnung besorgt eine Betriebsgesellschaft. Ich weiß, dass er anfangs Angst hatte, sie würden ihm bei der Leitung des Heims hineinreden, aber das war nicht der Fall.«
»Wie lang gehört den beiden das Heim schon?«
»Ich glaube, sie haben es 1980 gekauft. Es liegt drüben an der Dave Levine Street, direkt an der Ecke zur Nedra Lane. Sie sind sicher schon hundertmal daran vorbeigekommen. Es sieht aus wie Tara, nur ohne das Land – dicke, weiße Säulen vor dem Eingang.«
»Ach, das. Ich sehe es jedes Mal rechter Hand liegen, wenn ich von dieser Seite in die Stadt fahre. An der Strecke muss es fünf oder sechs Pflegeheime geben.«
»Das Personal spricht – bei allem Respekt – nur noch von der ›Formaldehydstraße‹. Dow wird wütend, wenn ich das nachplappere.«
»Wie haben Sie sich kennen gelernt?«
»Mom...«
Crystal blickte durch die offene Tür ins große Zimmer. »Wir sind hier draußen.« Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, ihre Miene wurde verärgert und zugleich fassungslos. »Ach du lieber Gott.«
Ich folgte ihrem Blick.
Leila kam die Treppe in schwarzen Satinpumps heruntergepoltert, die so hohe Absätze hatten, dass sie kaum aufrecht stehen konnte. Ab und zu kamen ihre Knöchel derart ins Wanken, als ginge sie zum ersten Mal mit Schlittschuhen aufs Eis. Unter ihrer schwarzen Lederjacke trug sie ein durchsichtiges Top aus Chiffon und Spitze zu einem engen, langen Wollrock. Mit ihren vierzehn Jahren befand sie sich noch in dieser fohlenhaften Entwicklungsphase: keine nennenswerten Brüste, schmale Hüften und lange, knochige Beine. Die Länge ihres Rocks hätte nicht weniger schmeichelhaft sein können. Sie sah aus wie der Pappzylinder aus einer aufgebrauchten Rolle Küchenkrepp. Überdies hatte sie etwas Seltsames mit ihrem Haar angestellt, das kurz geschnitten und weißblond gefärbt war und in sämtliche Himmelsrichtungen abstand. Einige Strähnen waren zu Dreadlocks gedreht worden, während der Rest so faserig war wie Zuckerwatte. Sie kam an die offene Tür, blieb dort stehen und starrte uns an.
»Was soll denn das für ein Aufzug sein?«
»Das ist kein ›Aufzug‹. Was stört dich denn daran?«
»Du siehst lächerlich aus. Das stört mich.«
»Du auch. Du siehst aus wie eine Pennerin. Der Pulli hängt dir bis an die Knie.«
»Glücklicherweise gehe ich nicht aus. Und du gehst jetzt bitte nach oben und suchst dir etwas Anständiges zum Anziehen.«
»Mein Gott, dir ist immer dermaßen wichtig, was andere Leute denken.«
»Hör auf. Ich hab’s wirklich satt, mit dir zu streiten.«
»Warum lässt du mich dann nicht in Ruhe? Ich kann mich anziehen, wie ich will. Das wirft doch kein schlechtes Licht auf dich.«
»Leila, du verlässt das Haus nicht in diesen Klamotten.«
»Toll. Dann gehe ich eben nicht. Herzlichen Dank und leck mich.«
»Wo ist dein Koffer?«, fragte Crystal geduldig, indem sie Leilas Aufforderung zur Eskalation ignorierte.
»Ich habe keinen. Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht hingehe. Ich möchte hier bleiben.«
»Du hast ihn letztes Mal schon nicht besucht, und ich habe ihm versprochen, dass du kommst.«
»Ich muss nicht hingehen, wenn ich nicht will. Es ist meine Entscheidung.«
»Nein, ist es nicht. Es ist meine, also hör auf zu widersprechen.«
»Warum?«
»Leila, mich ärgern diese ganzen Frechheiten, die du mir an den Kopf wirfst. Was ist denn los mit dir?«
»Ich will einfach nicht hin. Es ist langweilig. Wir sitzen nur herum und gucken Videos.«
»Das tust du doch hier auch!«
»Du hast mir versprochen, dass ich mich mit Paulie treffen darf.«
»Ich habe nichts dergleichen versprochen. Und wechsle gefälligst nicht das Thema. Paulie hat nichts damit zu tun. Lloyd ist dein Vater.«
»Ist er nicht! Wir sind nicht einmal verwandt. Er ist einer deiner blöden alten Exmänner.«
»Mein einziger Exmann. Ich bin nur einmal zuvor verheiratet gewesen«, erwiderte sie. »Warum bist du so aggressiv und ekelhaft? Lloyd vergöttert dich.« »Na und?«
»Leila, ich warne dich.«
»Wenn er mich derart vergöttert, warum zwingt er mich dann, gegen meinen Willen zu ihm zu kommen?«
»Er zwingt dich nicht. Ich zwinge dich, und das ist mein letztes Wort. Los jetzt.«
»Ich gehe, wenn ich mich mit Paulie treffen darf.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Mein Gott, du bist so fies. Ich bin dir scheißegal.«
»Genau. Ich bin nur hier, um dich zu beschimpfen und zu misshandeln. Los. Ruf den Kinderschutzbund an.«
»Wenn du Lloyd so toll findest, warum besuchst du ihn dann nicht selbst?«
Crystal schloss die Augen und rang um Beherrschung. »Wir fechten das nicht vor unserem Gast aus. Lloyd hat mit mir gemeinsam das Sorgerecht, okay? Er holt dich um sieben Uhr ab, was bedeutet, dass er bereits unterwegs ist. Ich komme am Sonntagmorgen um zehn und nehme dich wieder mit. Und jetzt geh rauf und zieh dich um. Und pack lieber deine Sachen, sonst mache ich es, und ich garantiere dir, dass dir vor meiner Wahl grausen wird.«
Leilas Miene verschloss sich, und ich sah, wie sich um ihre Nase und ihren Mund ein roter Fleck bildete, während sie gegen die Tränen kämpfte. »Du bist so was von ungerecht«, sagte sie und polterte wieder die Treppe hinauf. Sie knallte die Tür hinter sich zu, nachdem sie ihr Zimmer betreten hatte, und brüllte dann noch einmal hinter der Tür: »Fiese Nuss!«
Crystal wandte sich wieder unserem Gespräch zu und gab außer einem Kopfschütteln und kurzen Augenrollen keinen Kommentär zu Leila ab. »Dow und ich haben uns in Vegas bei gemeinsamen Freunden kennen gelernt. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, wusste ich gleich, dass ich ihn eines Tages heiraten würde.«
»War er nicht schon verheiratet?«
»Doch, ja. Ich meine, theoretisch schon, aber nicht glücklich«, sagte sie, als ob Dows Eheprobleme es rechtfertigten, dass sie auf Fionas Territorium wilderte. »Sie haben Fiona ja kennen gelernt. Sie ist nur sechs Monate jünger als er, aber sie sieht aus, als wäre sie hundert. Sie trinkt. Sie raucht zwei Päckchen am Tag. Außerdem ist sie valiumsüchtig, was sie Ihnen wahrscheinlich nicht erzählt hat, als sie Sie engagiert hat. Dow ist letztes Frühjahr neunundsechzig geworden, aber so alt würde ihn keiner schätzen. Haben Sie mal ein Bild von ihm gesehen?«
»Es war eines in der Zeitung.«
»Ach, das war schrecklich. Ich habe ein besseres. Moment mal.«
Sie verließ die Terrasse und ging ins große Zimmer, aus dem sie kurz darauf mit einem gerahmten Farbfoto zurückkehrte. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und reichte mir das Bild. Ich musterte Dow Purcells Gesicht. Das Foto war auf dem Golfplatz aufgenommen und so zurechtgeschnitten worden, dass die anderen in seinem Vierergrüppchen kaum zu erkennen waren. Seine Haare waren weiß und kurz geschnitten und sein Gesicht hager. Er trug ein weißes Golfhemd, helle Freizeithosen und einen ledernen Golfhandschuh an der rechten Hand und war gebräunt und durchtrainiert. Den Kopf des Schlägers, den er senkrecht vor sich hielt, konnte ich nicht sehen. »Wo ist das gemacht worden?«
»Las Vegas. Auf derselben Reise. Das war im Herbst 1982. Ein Jahr später haben wir geheiratet.«
Ich gab ihr das Foto zurück. »Ist er ein Spieler?«
Sie hielt das Bild am Rahmen und musterte es ihrerseits. »Dow doch nicht. Er hat auf einem Symposium für geriatrische Medizin gesprochen. Und Vegas hat er wegen des Golfens geliebt. Er spielte nämlich das ganze Jahr hindurch und hatte Handicap fünf, also wirklich hervorragend.«
Ich registrierte ihre plötzliche Verwendung der Vergangenheitsform, beschloss aber, sie nicht darauf aufmerksam zu machen. »Spielen Sie auch?«
»Ein bisschen, aber leider miserabel. Ich spiele, um ihm Gesellschaft zu leisten, wenn er sonst niemanden hat. Es ist schön, wenn wir reisen, weil wir dann etwas zu tun haben.« Sie beugte sich vor und stellte das Bild auf den Tisch, wo sie es kurz noch einmal musterte, bevor sie sich mir wieder zuwandte. »Und was passiert jetzt?«
»Ich spreche mit jedem, der mir wichtig erscheint, und versuche herauszufinden, was los ist.«
»Da ist deine Mommy«, sagte ein Mann. Er stand in der Tür und hielt Griffith auf dem Arm, der schon bettfertig war und einen einteiligen Flanellschlafanzug mit rutschfesten Füßen und einer Windelklappe am Po trug. Sein Gesicht bildete ein perfektes Oval, seine Wangen waren dick und sein Mund eine kleine, rosafarbene Knospe. Sein helles Haar war noch nass, auf der einen Seite akkurat gescheitelt und aus dem Gesicht gekämmt. Dort, wo einige Strähnen bereits getrocknet waren, ringelten sich blonde Locken. Stumm streckte er die Ärmchen aus, und Crystal hob ihn hoch. Sie setzte ihn sich auf die Hüfte und sah ihn genau an, während sie mit hoher Stimme zu ihm sprach. »Griffie, das ist Kinsey. Kannst du ›hallo‹ sagen?«
Das Kind gab keinen Mucks von sich.
Sie nahm eine seiner Hände und winkte damit in meine Richtung. Dazu sagte sie: »Hallo. Ich teh jetz schlafi. Ich muss jetz schön Betti gehn. Nachti-Nacht.«
»Nacht-Nacht, Griffith«, sagte ich mit Fistelstimme, in dem Bemühen, mich dem Geist der Stunde anzupassen. Das war ja schlimmer, als mit einem Hund zu reden, denn dabei erwartete man wenigstens nicht, dass einem mit Fistelstimme geantwortet wurde. Ich fragte mich, ob wir den Rest des Abends wie Bugs Bunny und seine Freunde sprechen würden.
Ich sah Rand an. »Hi. Sie sind Rand? Kinsey Millhone.«
»Ach, Entschuldigung. Ich hätte Sie vorstellen sollen.«
»Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte Rand. Er war schätzungsweise Anfang vierzig, hatte dunkle Haare, war sehr mager und trug Jeans und ein weißes T-Shirt. Ich konnte feuchte Flecken auf seiner Brust erkennen, die noch vom Baden des Kindes stammen mussten. Wie Crystal war auch er barfuß, offenbar unempfindlich gegen Kälte.
»Ich gehe jetzt lieber, damit Sie den Kleinen ins Bett bringen können.«
Rand nahm Griffith seiner Mutter ab und zog sich zurück, während er im Gehen mit dem Jungen sprach. Ich wartete, bis Crystal mir die Namen und Telefonnummern der Arbeitgeber ihres Mannes und seines besten Freundes Jacob Trigg aufgeschrieben hatte. Abschließend tauschten wir ein paar inhaltsarme Floskeln aus, und bevor ich ging, versicherte sie mir, dass ich sie jederzeit anrufen könne, falls nötig.
Auf dem Weg hinaus begegnete mir Leilas Stiefvater Lloyd, der gerade angekommen war. Er fuhr ein altes, weißes Chevy-Cabrio mit rissigem, sonnengebleichtem Dach und Flecken von Spachtelmasse an den Stellen, wo die zahlreichen Beulen und Schrammen zum Nachlackieren vorbereitet worden waren. Sein Bürstenhaarschnitt war jungenhaft, und er trug eine Brille mit übergroßen Gläsern und einem Schildpattgestell. Er besaß den Körper eines Läufers oder Radfahrers, lange, magere Beine und keine Spur von Körperfett. Sogar bei diesem kalten Wind trug er nichts als ein schwarzes Muskelshirt, Shorts und klobige Laufschuhe ohne Socken. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig, obwohl das schwer zu sagen war, da ich nur im Vorbeigehen einen schnellen Blick auf ihn hatte werfen können. Er nickte und rief mir einen kurzen Gruß zu, während er auf die Haustür zuging. Als ich meinen Wagen anließ, fielen die ersten dicken Regentropfen.