Читать книгу Ausgespielt - Sue Grafton - Страница 10
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ОглавлениеIch debattierte kurz mit mir selbst, ob ich noch meine drei Meilen Jogging einschieben sollte. Meine morgendliche Laufrunde hatte ich streichen müssen, um rechtzeitig bis neun am Gefängnis zu sein. Meistens laufe ich gegen sechs, wenn ich noch halb schlafe und mein Widerspruchsgeist schwach ist. Mir ist aufgefallen, dass mein Pflichtgefühl und meine Entschlusskraft im Lauf des Tages rapide abnehmen. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, habe ich meistens nicht die geringste Lust, mir die Joggingkluft überzuwerfen und mich hinauszuschleppen. Ich bin nicht so fanatisch in Sachen Sport, dass ich mich nicht gelegentlich selbst entschuldigen würde. Allerdings hatte ich in letzter Zeit die verstärkte Neigung bei mir festgestellt, auf meinen vier Buchstaben sitzen zu bleiben, statt mich zu sportlicher Betätigung aufzuraffen. Bevor ich allzu sehr darüber ins Nachdenken kam, stieg ich die Wendeltreppe hinauf, um mich umzuziehen.
Ich streifte die Schuhe ab, zerrte die Jeans herunter und zog mir das T-Shirt über den Kopf. Dann schlüpfte ich in Jogginganzug und Laufschuhe. Unter Umständen wie diesen schließe ich gern ein kleines Abkommen mit mir selbst. Wenn ich zehn Minuten laufe und es mir wirklich zuwider ist, darf ich umdrehen und wieder nach Hause gehen. Ohne Schuldgefühle. Nach den ersten zehn Minuten habe ich allerdings normalerweise meinen Rhythmus gefunden und genieße es. Ich band mir den Hausschlüssel in die Schnürsenkel des einen Schuhs, schloss die Tür hinter mir ab und ging mit schnellen Schritten davon.
Jetzt, wo die Sonne die vom Meer herangezogenen Nebelschichten aufgelöst hatte, tummelten sich die Nachbarn in ihren Gärten, mähten den Rasen, gossen die Pflanzen und schnitten tote Triebe von den Rosensträuchern hinter den Zäunen. Die salzige Seeluft mischte sich mit dem Duft frisch gemähten Grases. Der Teil der Albanil Street, in dem ich wohne, ist schmal. Wenn beide Seiten voll geparkt sind, kommen kaum zwei Autos aneinander vorbei. Eukalyptusbäume und Steinkiefern sorgen für Schatten über den Holz- und Steinhäusern, von denen die meisten klein sind und aus den frühen Vierzigerjahren stammen.
Als ich an meiner Laufstrecke angelangt war, war ich aufgewärmt genug, um in Joggingtempo zu verfallen. Danach musste ich nur noch mit meinen protestierenden Körperteilen zurande kommen, die sich aber nach und nach in den gleichmäßigen Rhythmus fügten. Vierzig Minuten später war ich wieder zu Hause, außer Atem und verschwitzt, doch im Hochgefühl der Pflichterfüllung. Ich betrat meine Wohnung, zog die Joggingklamotten aus und nahm eine kurze, heiße Dusche. Als ich bereits beim Abtrocknen war, klingelte das Telefon. Ich wickelte mir das Handtuch wie einen Sarong um den Körper und nahm den Hörer ab.
»Kinsey? Reba hier. Störe ich gerade?«
»Na ja, ich bin patschnass, aber eine Minute halte ich durch, bevor ich zu frösteln anfange. Was gibt’s denn?«
»Nicht viel. Pop hat sich nicht wohl gefühlt und ist ins Bett gegangen. Die Haushälterin ist gerade gegangen, und die Pflegerin hat angerufen und gesagt, dass sie sich ein bisschen verspätet. Ich wollte nur fragen, ob Sie Lust hätten, mit mir essen zu gehen.«
»Klar. Kann ich machen. Woran hatten Sie denn gedacht?«
»Haben Sie nicht ein Lokal bei Ihnen in der Nähe erwähnt?«
»Rosie’s Tavern. Da wollte ich sowieso hin. Ich würde es zwar nicht schick nennen, aber wenigstens ist es gleich um die Ecke.«
»Ich muss einfach raus. Ich würde mich wirklich gern mit Ihnen treffen, aber nur, wenn ich Ihre Pläne nicht störe.«
»Was für Pläne denn? Sie stören mich überhaupt nicht. Haben Sie ein Auto?«
»Kein Problem. Sobald die Pflegerin kommt, fahre ich los. Gegen sieben?«
»Müsste klappen.«
»Gut. Ich komme, sobald ich kann.«
»Ich schnappe mir einen guten Tisch und warte auf Sie«, sagte ich und gab ihr die Adresse.
Nachdem ich aufgelegt hatte, trocknete ich mich ab und zog eine frische Jeans, ein sauberes schwarzes T-Shirt und Turnschuhe an. Dann ging ich nach unten und verbrachte ein paar Minuten damit, meine bereits saubere Küche aufzuräumen. Anschließend machte ich Licht, setzte mich mit der Lokalzeitung ins Wohnzimmer und studierte Todesanzeigen und andere aktuelle Ereignisse.
Um vier Minuten vor sieben ging ich noch bei Tageslicht die paar Schritte zu Rosie. Zwei Nachbarn gönnten sich einen Cocktail im Freien und plauderten über den Gartenzaun hinweg. Eine Katze überquerte die Straße und schob ihren schlanken Leib durch die Zwischenräume eines Lattenzauns. Es roch nach Jasmin.
Rosie’s Tavern ist einer von sechs Kleinbetrieben in meinem Häuserblock, darunter ein Waschsalon, eine Reparaturwerkstatt für Elektrogeräte und ein Automechaniker, der immer ein paar alte Kisten in der Einfahrt stehen hat. Seit sieben Jahren esse ich drei- bis viermal die Woche bei Rosie zu Abend. Von auβen sieht das Lokal schäbig aus. Es befindet sich in einem Gebäude, das früher einmal der Gemischtwarenladen des Viertels hätte gewesen sein können. Die Fenster sind zwar aus Glas, doch das Außenlicht wird von flackernden Neonschildern, Postern, Vorankündigungen und verblichenen Betriebsgenehmigungen des Gesundheitsamts abgehalten. Soweit ich mich erinnern kann, hat Rosie nie eine bessere Einstufung als »C« bekommen.
Innen ist das Lokal lang und schmal und hat eine hohe, dunkel gestrichene Decke, die aussieht, als bestünde sie aus gepresstem Blech. Grob gezimmerte Sperrholznischen bilden auf der rechten Seite ein L. Links steht ein langer Bartresen aus Mahagoni, während weiter hinten eine Schwingtür in die Küche und ein kurzer Flur zu den Toiletten führt. Der restliche Raum wird von mehreren Resopaltischen eingenommen. Die dazugehörenden Stühle haben verchromte Beine und Sitzflächen aus marmoriertem grauem Plastik, das zum Teil schon Risse hat, die anschließend mit Isolierband geflickt wurden. Die Luft riecht stets nach verschüttetem Bier, Popcorn, altem Zigarettenrauch und Pine-Sol-Putzmittel.
Die Montagabende sind meistens ruhig, da sich die Nachmittagstrinker und die üblichen Sportrowdys von ihren ausschweifenden Wochenenden erholen. Meine Lieblingsnische war wie die meisten anderen frei. Ich setzte mich so, dass ich sehen konnte, wenn Reba zur Tür hereinkam. Dann las ich die Speisekarte, ein hektografiertes Blatt in einer Plastikhülle. Rosie vervielfältigt sie auf einer Maschine im Hinterzimmer, und die verschwommene Schrift ist kaum lesbar. Vor zwei Monaten hatte sie eine neuartige Form der Speisekarte aufgelegt, die einer ledergebundenen Dokumentenmappe ähnelte und in der eine handgeschriebene Liste der ungarischen Spezialitäten du Jour des Tages – wie sie sie zu nennen beliebte – aufgeführt waren. Einige dieser Speisekarten waren gestohlen und andere als gefährliche Wurfgeschosse missbraucht worden, als gegnerische Fußballmannschaften einen erhitzten Disput über das letzte große Match ausgetragen hatten. Nun hatte Rosie offenbar ihre Ambitionen in Richtung Haute Cuisine aufgegeben und verteilte wieder ihre alten hektografierten Blätter. Ich überflog die angebotenen Gerichte, wobei ich mich fragte, warum ich mir überhaupt die Mühe machte. Rosie trifft sämtliche Essensentscheidungen für mich und zwingt mich, alle ungarischen Delikatessen zu verdrücken, die ihr in den Sinn kommen, wenn sie meine Bestellung entgegennimmt.
William hatte inzwischen seine Arbeit hinter dem Tresen aufgenommen. Er machte gerade eine Pause, um seinen Puls zu messen, indem er sich zwei Finger der einen Hand auf die Halsschlagader presste und in der anderen seine verlässliche Taschenuhr hielt. Henry kam herein und warf einen Blick in seine Richtung. Er wählte einen Tisch im vorderen Teil des Lokals und setzte sich demonstrativ mit dem Rücken zur Bar. Nun kam Rosie hinter der Bar hervor, in der Hand ein Glas des stichigen Weißweins, den sie als Chardonnay verkauft. An ihrem Scheitel war ein zweieinhalb Zentimeter breiter grauer Ansatz zu erkennen. Bisher hat sie immer behauptet, Mitte sechzig zu sein, aber inzwischen schweigt sie sich dermaßen hartnäckig zu dem Thema aus, dass ich vermute, sie hat die Grenze zu den siebzig überschritten. Sie ist klein, hat eine Hühnerbrust, und der rote Anteil ihrer Haare ist in einem Farbton irgendwo zwischen Zinnoberrot und gebranntem Ocker gefärbt.
Sie stellte den Wein vor mich hin. »Ist neu. Sehr gut. Erst probieren, dann mir sagen, wie dir schmeckt. Ich spare zwei Dollar pro Flasche im Vergleich mit andere Marke.«
Ich nahm einen kleinen Schluck. »Sehr gut«, sagte ich, während mir der Wein den Zahnschmelz zerfraß. »Henry und William reden offenbar nicht mehr miteinander.«
»Ich sage William, er soll sich um seine eigene Kram kümmern, aber er hört nicht auf mich. Ist Schock für mich, dass eine Frau kann spalten die zwei Brüdern.«
»Sie werden’s überwinden«, sagte ich. »Was hältst du denn von der Situation? Glaubst du, Mattie hat ernste Absichten in Bezug auf Henry?«
»Was weiß ich? Diese Henry ist eine gute Fang. Du hättest sollen sehen, wie die kleinen alten Damen mit ihm flirten auf Kreuzfahrt. War witzig. Andererseits ihr Mann ist gestorben. Vielleicht sie will keine neue Bindung mit eine Mann. Vielleicht sie will ihre Freiheit und Henry als gute Freund.«
»Genau das habe ich auch schon befürchtet, aber William ist überzeugt, dass mehr dahinter steckt.«
»William ist überzeugt, dass sie nur noch zwei Jahre Leben hat. Er will, dass Henry sich beeilt, ehe sie tot umfällt demnächst.«
»Das ist doch albern. Sie ist noch nicht einmal siebzig.«
»Sehr jung«, murmelte Rosie. »Ich für meine Teil hoffe, dass ich sehe so gut aus, wenn ich in ihre Alter komme.«
»Wirst du bestimmt«, beruhigte ich sie. Ich griff nach der Speisekarte und gab vor, sie zu studieren. »Ich warte noch auf jemanden, deshalb will ich noch nicht bestellen. Ehrlich gesagt klingt das hier alles ziemlich gut. Was empfiehlst du denn?«
»Gut, dass du fragst. Für dich und deine Freund ich mache Krumpli Paprikas. Ist Eintopf aus gekochte Kartoffeln, Zwiefel und was bei euch heißt Wiener geschnitten in Stücke. Wird serviert mit Roggenbrot, und dazu gibt entweder Gurkensalat oder eingelegte Essiggemüse. Was du willst? Ich glaube Essiggemüse«, sagte sie und kritzelte auf ihren Block.
»Essiggemüse, meine Leibspeise. Und so passend zum Wein.«
»Ich bringe Essen, sobald er kommt.«
»Es ist eine Freundin, kein Freund.«
»Ein Jammer«, sagte sie kopfschüttelnd, ehe sie ein Ausrufezeichen auf ihren Block schrieb und hinter die Bar zurückkehrte.
Um Viertel nach sieben erschien Reba. Sie blieb an der Tür stehen und sah sich im Lokal um. Als sie mich winken sah, ging sie auf meine Nische zu. Nun trug sie nicht mehr Jeans und T-Shirt, sondern eine Stoffhose, einen roten Baumwollpullover und Sandalen. Ihre Gesichtsfarbe war frischer, und ihre Augen wirkten im perfekten Oval ihres Gesichts riesig. Die Stacheln waren aus ihrem Haar verschwunden, von dem sie sich einige Strähnen hinter die Ohren gesteckt hatte, wo sie nun wie bei einem Kobold hervorstanden. An meinem Tisch angelangt, rutschte sie auf ihrer Seite auf die Bank. »Tut mir Leid, dass ich zu spät komme«, sagte sie, »aber ich musste ein Taxi nehmen. Mein Führerschein ist nämlich abgelaufen, während ich im Knast war, und ich hatte Angst, ich könnte angehalten werden, wenn ich mich ohne auf den Weg mache. Ich hätte zwar vom Gefängnis aus eine Verlängerung beantragen können, habe mich aber nie dazu aufgerafft. Vielleicht können wir morgen mal zur Führerscheinstelle fahren.«
»Sicher. Kein Problem. Soll ich Sie um neun abholen? Dann können wir uns um Ihren Führerschein kümmern und anschließend alle anderen Besorgungen erledigen, die Ihnen vorschweben.«
»Vielleicht ein paar Klamotten. Ich könnte was Neues gebrauchen.« Reba reckte den Hals und suchte rasch den Raum hinter sich ab, wo nach und nach weitere Gäste eintrudelten. »Hätten Sie was dagegen, die Plätze zu tauschen? Ich mag es nicht, mit dem Rücken zum Lokal zu sitzen.«
Ich rutschte auf meiner Seite aus der Nische und tauschte die Plätze mit ihr, obwohl ich in Wirklichkeit nicht lieber als sie mit dem Rücken zum Raum saß. »Wie sind Sie damit im Gefängnis klargekommen?«
»Dort habe ich ja gelernt, meine Kehrseite im Auge zu behalten. Ich vertraue nur dem, was ich sehen kann. Alles andere ist für meinen Geschmack viel zu beängstigend.« Sie nahm sich eine Speisekarte und überflog sie.
»Hatten Sie denn Angst?«
Sie hob ihre riesigen dunklen Augen und sah mich mit schwindendem Lächeln an. »Zuerst schon. Nach einiger Zeit war ich weniger verängstigt als vielmehr vorsichtig. Die Aufseherinnen waren dabei allerdings das geringste Problem. Ich habe etwa zwei Sekunden gebraucht, um rauszukriegen, wie ich mit denen am besten zurechtkomme.«
»Und zwar wie?«
»Durch Fügsamkeit. Ich war nett. Höflich. Ich habe getan, was man mir gesagt hat, und sämtliche Vorschriften eingehalten. Es war wirklich kein großer Aufwand und hat mir das Leben wesentlich erleichtert.«
»Was war mit den anderen Gefangenen?«
»Die meisten waren in Ordnung. Aber nicht alle. Manche Frauen waren fies, also durfte man ihnen gegenüber keine Schwäche zeigen. Wenn man an irgendeinem Punkt nachgab, sind sie über einen hergefallen wie die Fliegen. Ich habe Folgendes gelernt: Wenn mir irgendeine blöde Kuh ins Gesicht springt, mache ich genau das Gleiche mit ihr. Wenn sie nachlegt, mache ich das ebenfalls und steige immer höher ein, bis sie irgendwann begriffen hat, dass sie mich besser in Ruhe lässt. Das Problem dabei war nur, dass man ja nicht erwischt werden wollte, erst recht nicht bei irgendwas im Zusammenhang mit Gewalt – dafür hat man nämlich böse bluten müssen –, also musste man einen Weg finden, wie man sich behauptet, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«
»Wie haben Sie das geschafft?«
Sie lächelte. »Ach, ich hatte so meine kleinen Tricks. Vor allem habe ich mich nie mit jemandem angelegt, der sich nicht zuerst mit mir angelegt hat. Mein Ziel war Ruhe und Frieden. Du gehst deinen Weg und ich meinen. Nur manchmal ist es eben nicht so gelaufen, und dann musste man zu anderen Mitteln greifen.« Sie starrte auf die Speisekarte. »Was ist denn das hier für Zeug?«
»Das sind alles ungarische Gerichte, aber Sie brauchen sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Rosie hat bereits entschieden, was wir essen. Sie können mit ihr streiten, wenn Sie wollen, aber Sie werden den Kürzeren ziehen.«
»Hey, genau wie im Knast. Was für eine schöne Erinnerung.«
Rosie kam mit einem zweiten Glas von ihrem minderwertigen Wein an unseren Tisch. Ehe sie es vor Reba abstellen konnte, griff ich danach. »Danke. Den nehme ich. Und Sie, Reba? Was möchten Sie trinken?«
»Ich möchte Eistee.«
Rosie notierte es gewissenhaft, wie eine Journalistin. »Mit oder ohne süß?«
»Lieber ohne.«
»Ich bringe Zitrone dazu in kleine Windel, dann können Sie in Ihre Tee quetschen, ohne dass Kerne rausfallen.«
»Danke.«
»Ich hätte sowieso abgelehnt«, sagte Reba, als Rosie gegangen war. »Es macht mir aber nichts aus, Ihnen beim Weintrinken zuzusehen.«
»Ich war mir nicht sicher. Und ich will kein schlechter Einfluss sein.«
»Sie? Ausgeschlossen. Keine Sorge.« Sie legte die Speisekarte beiseite und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Sie haben noch mehr Fragen. Ich sehe es Ihnen an.«
»Stimmt. Weswegen haben die fiesen Frauen denn gesessen?«
»Mord, Totschlag. Viele auch wegen Drogenhandel. Die Lebenslänglichen waren die schlimmsten, denn was hatten die schon zu verlieren? Hätte man ihnen etwa mit Verhaftung drohen sollen? Großes Drama. Wirklich schlimm.«
»Ich könnte es nicht ertragen, all diese Leute um mich zu haben. Hat Sie das nicht tierisch genervt?«
»Es war schrecklich, ja. Frauen, die in enger Gemeinschaft miteinander leben, kriegen irgendwann alle den gleichen Monatszyklus. Vermutlich hat es was mit primitiven Überlebensvorteilen zu tun – wenn alle Frauen zur selben Zeit fruchtbar sind. Von PMS ganz zu schweigen. Wenn dann noch gleichzeitig Vollmond war, ist der Laden zum Irrenhaus geworden. Stimmungsumschwünge, Streitereien, Heulkrämpfe, Selbstmordversuche.«
»Glauben Sie, dass es Sie korrumpiert hat, unter abgebrühten Kriminellen zu leben?«
»Mich korrumpiert? Inwiefern?«
»Haben Sie denn keine neuen und besseren Methoden gelernt, wie man die Gesetze brechen kann?«
Sie lachte. »Soll das ein Witz sein? Wir haben alle gesessen, weil wir erwischt worden sind. Warum soll ich mir von einem Haufen Nieten etwas aneignen? Außerdem hocken Frauen nicht herum und versuchen anderen Frauen beizubringen, wie man Banken überfällt oder Diebesgut vertickt. Sie reden darüber, was für miserable Anwälte sie hatten und ob ihr Fall in Berufung geht. Sie reden über ihre Kinder und ihre Freunde und darüber, was sie vorhaben, wenn sie rauskommen, wozu meistens Essen und Sex gehören – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.«
»Gab es auch etwas Positives?«
»Na klar. Ich bin clean und trocken. Säufer und Drogis landen unweigerlich wieder im Knast. Sie kommen auf Bewährung raus, und im Handumdrehen sitzen sie wieder im Bus und stehen in der Aufnahme. Die Hälfte von ihnen kann sich nicht einmal daran erinnern, was sie gemacht haben, solange sie draußen waren.«
»Wie haben Sie überlebt?«
»Ich bin im Hof spazieren gegangen oder habe Bücher gelesen, manchmal bis zu fünf Stück die Woche. Ich habe Nachhilfe gegeben. Manche Mädels konnten kaum lesen. Sie waren nicht dumm; es hat ihnen bloß nie jemand beigebracht. Ich habe ihnen die Haare gemacht und mir Bilder von ihren Kindern angesehen. Es war hart, mit anzusehen, wie sie versucht haben, den Kontakt zu halten. Die Telefone waren ständig umkämpft. Wenn man nachmittags jemanden anrufen wollte, musste man in aller Herrgottsfrühe seinen Namen auf eine Liste setzen. War man dann endlich an der Reihe, hatte man maximal zwanzig Minuten. Die großen, bulligen Lesben haben sich so viel Zeit gelassen, wie sie wollten, und wenn man was dagegen hatte, tja, Pech gehabt. Ich war ein Winzling im Vergleich zu den meisten. Eins siebenundfünfzig, siebenundvierzig Kilo. Deshalb musste ich lernen, mich auf Tricks und Schliche zu verlegen. Es gibt nichts Süßeres als Rache, aber man will ja nicht seine Fingerabdrücke quer über den Tatort verstreuen. Ich kann Ihnen nur raten: Tun Sie nie etwas, das auf Sie hinweist.«
»Ich werd’s mir merken.«
Rosie kam mit einem Tablett zurück, auf dem Rebas Eistee, die in Mull gewickelte Zitrone und eine Portion Krumpli Paprika für jede von uns standen. Sie stellte uns Roggenbrot, Butter und Essiggemüse hin und verschwand wieder.
Reba beugte sich über ihr Essen. »Ach, das ist Kümmel. Einen Moment lang dachte ich, da würde sich was bewegen.«
Der Kartoffeleintopf schmeckte gut. Rosie hatte ihn in großen Porzellanschüsseln serviert und mit Kümmel abgeschmeckt. Ich wischte gerade mit meinem letzten Stück gebutterten Roggenbrots die Soßenreste auf, als ich sah, wie Reba über meine linke Schulter hinweg zum Eingang des Lokals blickte und groβe Augen bekam. »O Mann! Schauen Sie nur, wer da kommt.«
Ich drehte mich nach links und spähte um die Ecke unserer Nische, um Rebas Blick zu folgen. Die Tür hatte sich geöffnet, und ein Mann war hereingekommen. »Kennen Sie ihn?«
»Das ist Beck«, sagte sie, als würde das alles erklären. Sie schob sich aus der Nische. »Ich bin gleich wieder da.«