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Am Samstagmorgen schlief ich bis acht Uhr aus, duschte, zog mich an, kochte mir eine Kanne Kaffee und setzte mich an den Küchentresen, wo ich wie gewohnt eine Schüssel Frühstücksflocken aß. Nachdem ich Schüssel und Löffel abgespült hatte, setzte ich mich wieder auf meinen Barhocker und sah mich in meiner Wohnung um. Ich bin über die Maßen ordentlich und hatte erst Anfang der Woche einen gründlichen Hausputz gemacht. Mein privater Terminkalender war jungfräulich rein, und ich wusste, ich würde Samstag und Sonntag allein verbringen, wie ich es an den meisten Wochenenden tat. Normalerweise macht mir das nichts aus, aber heute empfand ich eine seltsame Unruhe. Mir war langweilig. Ich sehnte mich dermaßen nach einer Beschäftigung, dass ich schon erwog, wieder ins Büro zu fahren, um eine Akte über einen anderen Fall anzulegen, den ich angenommen hatte. Unglücklicherweise ist der Bungalow, in dem sich mein Büro befindet, deprimierend, und ich war nicht motiviert, auch nur eine zusätzliche Minute an meinem Schreibtisch zu verbringen. Was blieb mir also übrig? Ich hatte keinen blassen Schimmer. In einem kurzen Moment der Panik fiel mir auch noch ein, dass ich nicht einmal ein Buch zum Lesen hatte. Ich war kurz davor, mich auf den Weg zur Buchhandlung zu machen, um mich mit Taschenbüchern einzudecken, als mein Telefon klingelte.

»Hi, Kinsey. Hier ist Vera. Schön, dass ich dich erwische. Hast du kurz Zeit?«

»Na klar. Ich wollte zwar gerade gehen, aber es ist nichts Dringendes«, erwiderte ich. Vera Lipton war bei der California Fidelity Insurance, wo ich sechs Jahre lang Brandstiftungen und Forderungen auf Schadenersatz wegen fahrlässiger Tötung untersucht hatte, eine Kollegin von mir gewesen. Sie war Leiterin der Schadensabteilung, während ich als freie Mitarbeiterin tätig war. Mittlerweile hatte sie bei der Firma aufgehört, einen Arzt geheiratet und auf ein Leben als Vollzeitmutter umgeschwenkt. Im April hatte ich sie kurz mit ihrem Mann Neil Hess gesehen. Im Schlepptau hatten sie einen schlecht erzogenen Golden-Retriever-Welpen und ihren achtzehn Monate alten Sohn, dessen Namen ich zu erfragen vergessen hatte. Ihrem Bauch nach zu urteilen war sie hochschwanger und stand nur wenige Tage vor der zweiten Geburt. »Erzähl mir von deinem Baby«, sagte ich nun. »Als wir uns das letzte Mal am Strand begegnet sind, war es ja schon fast da.«

»Allerdings. Ich hatte einen Wackelgang wie ein Maultier. Dazu kamen noch die Schmerzen in beiden Beinen und der Umstand, dass mir der Kopf des Babys auf die Blase gedrückt hat und ich ständig in mein Höschen getröpfelt habe. Noch in derselben Nacht haben die Wehen angefangen, und am nächsten Nachmittag ist Meg zur Welt gekommen. Aber der Grund meines Anrufs ist, dass wir dich gern einladen möchten. Wir sehen uns ja fast überhaupt nicht mehr.«

»Klingt gut. Ruf mich kurz an, dann machen wir was aus.«

Sie schwieg einen Moment lang. »Das tue ich ja gerade. Ich wollte dich einladen, auf einen Drink bei uns vorbeizukommen. Wir möchten ein paar Leute für ein Barbecue heute Nachmittag zusammentrommeln.«

»Ehrlich? Um wie viel Uhr?«

»Um vier. Ich weiß, das ist kurzfristig, aber ich hoffe, du hast Zeit.«

»Habe ich tatsächlich. Was ist denn der Anlass?«

Vera lachte. »Nichts Besonderes. Ich hatte einfach Lust dazu. Wir haben ein paar Nachbarn eingeladen. Ganz zwanglos und locker. Wenn du einen Stift bei der Hand hast, sage ich dir die Adresse. Komm doch ein bisschen früher, dann können wir noch eine Weile plaudern.«

Ich notierte mir die Adresse, war aber nach wie vor skeptisch. Warum rief sie mich aus heiterem Himmel an? »Vera, bist du sicher, dass du nicht irgendwas im Schilde führst? Ich möchte nicht unhöflich klingen, aber wir haben im April gerade mal fünf Minuten miteinander gesprochen. Davor war vier Jahre lang Funkstille. Versteh mich nicht falsch. Ich würde dich wirklich gern sehen, aber es kommt mir merkwürdig vor.«

»Mmm.«

»Was«, sagte ich, ohne mir die Mühe zu machen, es als Frage zu intonieren.

»Okay, ich will offen zu dir sein, aber du musst mir versprechen, dass du keinen Schreikrampf kriegst.«

»Ich bin ganz Ohr, aber langsam bekomme ich Bauchweh.«

»Neils jüngerer Bruder Owen ist übers Wochenende hier. Wir fanden, du solltest ihn kennen lernen.«

»Wozu?«

»Kinsey, gelegentlich werden Männer und Frauen miteinander bekannt gemacht, oder hast du davon noch nichts gehört?«

»Wie bei einem Blind Date?«

»Es ist kein Blind Date. Wir stellen etwas zu trinken und ein paar Häppchen hin. Es werden jede Menge andere Leute da sein, also sitzt du auf keinen Fall allein mit ihm herum. Wir machen es uns auf der hinteren Veranda gemütlich. Es gibt Cheez Whiz und Cracker. Wenn er dir gefällt, super. Wenn nicht, ist es auch kein Problem.«

»Als du mich das letzte Mal verkuppelt hast, ging es um Neil.«

»Das meine ich ja. Schau nur, wie das geendet hat.«

Ich schwieg einen Moment und fragte dann: »Wie ist er denn so?«

»Also, abgesehen davon, dass er beim Gehen mit den Fingerknöcheln über den Boden schleift, wirkt er ganz normal. Weißt du was? Ich lasse ihn ein Bewerbungsformular ausfüllen. Dann kannst du ihn detektivisch durchleuchten. Alles, was du willst, aber sei um halb vier hier. Ich ziehe die einzige Jeans an, die ich nicht am Po gesprengt habe.«

Sie legte auf, als ich gerade einwenden wollte: »Aber ...«

Entnervt lauschte ich dem Freizeichen. Das war nun also die Strafe dafür, dass ich nicht meiner Arbeit nachgegangen war. Ich hätte ins Büro fahren sollen. Das Universum führt genau Buch über unsere Sünden und erlegt uns abartige und widerwärtige Strafen auf, wie zum Beispiel Verabredungen mit fremden Männern. Ich stieg die Wendeltreppe hoch und machte den Schrank auf, um meine Garderobe in Augenschein zu nehmen. Ich sah Folgendes vor mir: mein schwarzes Allzweckkleid – das einzige Kleid, das ich besitze, geeignet für Beerdigungen und andere triste Anlässe, jedenfalls nicht das Richtige für ein Rendezvous mit einem Mann, es sei denn mit einem Toten. Drei Jeans, eine Jeansweste, einen kurzen Rock und den neuen Tweedblazer, den ich gekauft hatte, als ich anderthalb Jahre zuvor mit meiner Cousine Tasha essen gegangen war. Dazu kam noch ein olivgrünes Cocktailkleid, das ich völlig vergessen hatte, ein Geschenk von einer Frau, die später bei einer Explosion in Stücke gerissen wurde. Dazu gesellten sich abgelegte Sachen von Vera, unter anderem eine schwarze Seidenhose, die so lang war, dass ich sie an der Taille mehrmals umkrempeln musste. Wenn ich die anzog, würde Vera sie zurückfordern, und ich müsste von der Taille abwärts quasi nackt nach Hause fahren. Nicht dass ich weite Haremshosen für ein Barbecue als passend empfunden hätte. So dämlich war ich nun auch wieder nicht. Achselzuckend schlüpfte ich in meine gewohnte Kluft aus Jeans und Rollkragenpullover.

Pünktlich um halb vier klingelte ich an Veras Tür. Die Adresse, die sie mir genannt hatte, lag im nordöstlichen Teil der Stadt, in einem Viertel mit älterer Bebauung. Vera und Neil bewohnten ein renovierungsbedürftiges viktorianisches Haus mit dunkelgrauem Verputz und weißen Zierleisten sowie einer L-förmigen Holzveranda mit schnörkeligen Verzierungen im Geländer. In der Haustür prangte eine Rose aus geätztem Glas, die Veras Gesicht hellrosa leuchten ließ, als sie zu mir herausschaute. Hinter ihr bellte aufgeregt der Hund, der es kaum erwarten konnte, an jemand Neuem hochzuspringen und ihn voll zu sabbern. Vera zog die Tür auf und hielt den Hund am Halsband, um ihn am Davonlaufen zu hindern.

»Schau nicht so trübsinnig«, sagte sie. »Du hast eine Gnadenfrist bekommen. Ich habe die Männer Pampers und Bier kaufen geschickt, also sind wir die ersten zwanzig Minuten ganz unter uns. Komm erst mal rein.« Sie hatte kurz geschnittene Haare mit blonden Strähnchen und trug nach wie vor ihre Nickelbrille mit den riesigen hellblauen Gläsern. Vera ist der Typ Frau, der überall bewundernde Blicke auf sich zieht. Ihre Figur war kräftig, auch wenn sie den größten Teil der Pfunde schon wieder abgenommen hatte, die sie mit Meg zugelegt hatte. Sie war barfuß und steckte in einer engen Jeans und einer übergroßen Tunika mit kurzen Ärmeln und einem komplizierten Schnitt im oberen Bereich. Das ständige Herumtragen von Kleinkind und Baby hatte ihren Bizeps gestählt.

Sie hielt mir die Tür auf und drehte ihren Körper so, dass der Hund nicht sofort auf mich losstürzen konnte. Er hatte seine Körpergröße verdoppelt, seit ich ihn seinerzeit am Strand gesehen hatte, und war kaum zu bremsen. Vera bückte sich zu ihm hinab, legte ihm eine Hand um die Schnauze und sagte in einem Tonfall, der keine besondere Wirkung entfaltete: »Nein!« Die Zuwendung schien ihm zu behagen, und er leckte sie am Mund, sowie er die Gelegenheit dazu bekam.

»Das ist Chase. Ignorier ihn einfach. Er wird sich bald beruhigt haben.«

Ich bemühte mich, den Hund zu ignorieren, während er fröhlich bellend herumtollte, ehe er mein Hosenbein erwischte und daran zu zerren begann. Er gab ein welpenhaftes Knurren von sich und stemmte die Pfoten in den Teppich im Flur, damit er meine Jeans in Fetzen reißen konnte. Ich stand da wie angenagelt. »Mann, macht das Spaß, Vera«, sagte ich. »Ich bin ja so froh, dass ich gekommen bin.«

Sie warf mir einen bezeichnenden Blick zu, ließ die sarkastische Bemerkung jedoch unkommentiert. Dann packte sie den Hund beim Halsband und zerrte ihn in Richtung Küche, während ich hinterhertappte. Die Diele war ein hoher Raum mit einer Treppe zur Rechten und dem Wohnzimmer zur Linken. Ein kurzer Gang führte direkt zur Küche, die sich über die Rückseite des Hauses erstreckte. Der Weg dorthin war das übliche verminte Gelände aus Holzklötzchen, Plastikspielzeug und herrenlosen Hundeknochen. Vera schubste Chase in einen Zwinger von den Ausmaßen eines Überseekoffers. Das schien den Hund zwar nicht zu verdrießen, aber ich fühlte mich trotzdem schuldig. Er warf einer der Belüftungsöffnungen im Zwinger einen bösen Blick zu und schmachtete mich hoffnungsvoll an.

Die Küche war groß und führte durch eine Glastür auf eine große Veranda hinaus. Die Küchenschränke waren aus dunklem Kirschbaumholz, die Arbeitsflächen aus grünem Marmor, und in eine zentrale Kochinsel war ein Herd mit sechs Platten eingelassen. Sowohl das Baby als auch Veras Sohn, den sie mir als Peter vorstellte, waren bereits gebadet und bettfertig. Neben der Spüle füllte eine Frau in einer hellblauen Uniform Sterne aus einer gelben Masse in ein Dutzend hart gekochte Eierhälften.

»Das ist Mavis«, sagte Vera. »Sie und Dirk helfen uns, damit nicht der ganze Stress an mir hängen bleibt. Der Babysitter ist auch schon unterwegs.«

Ich murmelte eine Begrüßung, die Mavis mit einem Lächeln quittierte, ohne jedoch beim Verteilen der Füllung aus einer Spritztüte eine Pause zu machen. Die Platte war ringsherum mit Petersilie dekoriert. Auf der Arbeitsfläche daneben lagen zwei Stück Backpapier mit Kanapees, die nur noch in den Ofen geschoben werden mussten, flankiert von zwei weiteren Platten, eine mit frisch geputztem und zerteiltem Gemüse und die andere mit einer Auswahl importierter Käsesorten, mit Trauben garniert. Also doch kein Cheez Whiz – worauf ich persönlich unheimlich stehe, da ich ein Mensch von vulgärem Geschmack bin. Diese Party war eindeutig wochenlang vorbereitet worden. So langsam keimte in mir der Verdacht, dass die für das Blind Date vorgesehene Frau mit Grippe im Bett lag und ich ausersehen war, an ihre Stelle zu treten ... ein Lückenbüßer zweiter Wahl.

Dirk, in Anzughose und einer kurzen weißen Jacke, arbeitete neben der begehbaren Speisekammer, wo er mit zahlreichen Gläsern, einem Eiskübel und einer imposanten Auswahl von Wein- und Schnapsflaschen eine provisorische Bar aufbaute.

»Wie viele Leute erwartet ihr denn?«

»Etwa fünfundzwanzig. Die Party ist ganz spontan, daher hatten viele Leute keine Zeit.«

»Kann ich mir denken.«

»Ich bin immer noch abstinent, wegen unserem kleinen Schätzchen hier.«

Meg, das Baby, thronte in einen Babysitz geschnallt mitten auf dem Küchentisch und sah sich mit milder Selbstzufriedenheit um. Den einundzwanzig Monate alten Peter hatte man auf einem Hochsitz in Sicherheit gebracht. Die Ablagefläche vor ihm war voller Cheerios und Erbsen, die er sich grabschte und verspeiste, wenn er sie nicht gerade zerquetschte.

»Das ist nicht sein Abendessen«, erklärte Vera. »Es dient nur dazu, ihn zu beschäftigen, bis der Babysitter da ist. Übrigens kann Dirk dir etwas zu trinken machen, während ich Peter hinaufbringe.« Sie entfernte die Ablagefläche vom Hochstuhl, hob den Jungen heraus und setzte ihn sich auf die Hüfte. »Ich bin gleich wieder da. Wenn Meg zu weinen anfängt, dann wahrscheinlich, weil sie auf den Arm genommen werden will.« Vera verschwand mit Peter im Flur.

»Was darf ich Ihnen anbieten?«, fragte Dirk.

»Chardonnay wäre gut.«

Er zog eine Flasche Chardonnay aus einem Eiskübel hinter sich, schenkte mir ein Glas ein und schob es mir mit einer Cocktailserviette als Unterlage über den provisorischen Bartresen zu.

»Danke.«

Vera hatte bereits Brie und dünn geschnittenes Baguette sowie Schüsseln mit Nüssen und grünen Oliven hingestellt. Ich aß eine, wobei ich darauf achtete, mir nicht am Kern einen Zahn abzubrechen. Nur zu gerne hätte ich einen Rundgang durch die restlichen Räume im Erdgeschoss gemacht, doch ich traute mich nicht, Meg allein zu lassen. Ich hatte keine Ahnung, wozu ein Säugling ihres Alters fähig war, während er in einen Kindersitz geschnallt war. Konnten sie in diesen Dingern hüpfen?

Am einen Ende der Küche standen zwei Sofas mit Blumenmuster, zwei dazu passende Sessel, ein Couchtisch und ein Fernseher, der in eine Unterhaltungskonsole eingebaut war, die sich an der Wand entlangzog. Mit dem Weinglas in der Hand schlenderte ich umher und musterte beiläufig die silbergerahmten Fotos von Verwandten und Freunden. Zwangsläufig fragte ich mich, ob einer der abgebildeten Männer Neils Bruder Owen war. Ich nahm an, dass er wie Neil eher klein und vermutlich auch dunkelhaarig war.

Hinter mir stieß Meg ein ungeduldiges Geräusch aus, das darauf schließen ließ, dass bald etwas von doppelter Lautstärke folgen würde. Ich beugte mich meinen Pflichten und stellte mein Weinglas ab, damit ich sie aus ihrem Sitz befreien konnte. Als ich sie hochhob, war ich dermaßen überrascht davon, wie leicht sie war, dass ich sie fast durch die Luft geschleudert hätte. Sie hatte dunkles, feines Haar und hellblaue Augen, umgeben von Wimpern, die so zart waren wie Federn. Sie roch nach Babypuder und vielleicht etwas Frischem und Braunem in ihrer Hose. Nachdem sie mich kurz gemustert hatte, legte sie verblüffenderweise das Gesicht an meine Schulter und begann, an ihrer Faust zu kauen. Sie wand sich und gab kleine Grunzlaute von sich, die auf ein Bedürfnis nach baldiger Fütterung hinwiesen, das hoffentlich nicht voll ausbrechen würde, ehe ihre Mutter zurückkehrte. Ich schaukelte sie ein bisschen, was sie fürs Erste zu beruhigen schien.

Damit war mein enormer Schatz an Kinderpflegetricks auch schon erschöpft.

Draußen auf der hölzernen Veranda ertönte männliches Getrampel. Neil zog die Hintertür auf, im Arm eine Einkaufstüte, die von Einmalwindeln ausgebeult war. Der Mann, der hinter ihm hereinkam, hatte zwei Sixpacks mit Flaschenbier dabei. Neil und ich begrüßten uns, ehe er sich zu seinem Bruder umwandte und uns miteinander bekannt machte. »Kinsey Millhone. Das ist mein Bruder Owen.«

»Hi«, sagte ich. Das Baby auf meinen Armen machte ein Händeschütteln von vornherein unmöglich.

Owen reagierte mit Phrasen der Sorte »Hallo, wie geht’s«, die er über die Schulter sprach, während er das Bier Dirks tüchtigen Händen übergab.

Neil stellte die Tüte auf einen Küchenhocker und nahm das Paket mit den Einmalwindeln heraus. »Ich bringe die schnell hoch. Soll ich sie mitnehmen?«, sagte er mit einem Nicken zu Meg.

»Es geht schon«, sagte ich, und erstaunlicherweise stimmte das sogar. Nachdem Neil gegangen war, spähte ich zu ihr hinunter und stellte fest, dass sie eingeschlafen war. »Oh, wow«, sagte ich und wagte kaum zu atmen. Ich hätte nicht zu sagen vermocht, ob das Ticken, das ich hörte, von meiner biologischen Uhr stammte oder vom Zeitzünder einer Bombe.

Dirk mixte gerade eine Margarita für Owen, und das Eis klapperte im Shaker. Da Owen davon abgelenkt war, hatte ich Gelegenheit, ihn zu studieren. Im Vergleich zu seinem Bruder war er groß, über eins achtzig, während Neil näher bei meinen eins achtundsechzig lag. Owens Haare waren sandfarben und leicht mit Grau gesprenkelt. Er war sehr schlank, regelrecht leptosom, während Neil stämmig gebaut war. Blaue Augen, weiße Wimpern und eine gut proportionierte Nase. Er sah zu mir herüber, und ich senkte den Blick diskret zu Meg. Er trug Chinos und ein marineblaues kurzärmliges Hemd, das die zarte, flaumige Behaarung seiner Unterarme zur Geltung brachte. Er hatte schöne Zähne, und sein Lächeln wirkte aufrichtig. Auf einer Skala von eins bis zehn – wobei zehn Harrison Ford entspräche – würde ich ihm eine Acht geben oder vielleicht sogar eine Acht plus plus.

Er trat an die Arbeitsfläche, an der ich stand, und nahm sich ein Kanapee. Wir plauderten über Belanglosigkeiten und tauschten die Art uninspirierter Fragen und Antworten aus, die zwischen Fremden üblich sind. Er erzählte mir, dass er aus New York zu Besuch sei, wo er als Architekt arbeitete und sowohl Wohn- wie auch Geschäftshäuser entwarf. Ich erzählte ihm, was ich beruflich machte und wie lange schon. Er gab mehr Interesse vor, als er wahrscheinlich hatte. Er erzählte mir, dass er und Neil noch drei Brüder hatten, wobei er der zweitjüngste war. Der größte Teil der Familie, so sagte er, lebe über die Ostküste verstreut, und Neil sei der einzige Außenposten in Kalifornien. Ich erzählte ihm, dass ich ein Einzelkind war, und beließ es dabei.

Schließlich kamen Neil und Vera herunter. Sie nahm das Baby und setzte sich auf die Couch. Vera fummelte an ihrer Bluse herum, ließ eine Brust heraushüpfen und begann Meg zu stillen, während Owen und ich demonstrativ in die andere Richtung sahen. Irgendwann trudelten mehrere andere Paare ein. Jedes Mal wurden alle einander vorgestellt und die Neuankömmlinge integriert. Die Küche füllte sich nach und nach mit Gästen, die in kleinen Gruppen beieinander standen, einige auch im Flur und auf der Veranda. Als der Babysitter kam, brachte Vera Meg nach oben und kehrte in einer frischen Bluse zurück. Der Geräuschpegel stieg. Owen und ich wurden durch die Menge getrennt, was mir ganz recht war, da mir sowieso nichts mehr einfiel, was ich zu ihm hätte sagen können.

Ich bemühte mich darum, freundlich zu sein, und plauderte mit jeder armen Seele, die Blickkontakt mit mir aufnahm. Alle machten einen recht netten Eindruck, aber Menschenansammlungen sind für jemanden meines introvertierten Wesens generell anstrengend. Ich hielt durch, so lange ich konnte, und bewegte mich dann allmählich in Richtung Diele, wo ich meine Umhängetasche hatte stehen lassen. Die guten Sitten schrieben vor, dass ich mich bei den Gastgebern bedankte und mich verabschiedete, doch weder Vera noch Neil waren zu sehen, und so hielt ich es für statthaft, mich auf Zehenspitzen zu entfernen, ohne die Aufmerksamkeit auf mein Verschwinden zu lenken.

Als ich die Haustür hinter mir zugezogen hatte und gerade die hölzerne Verandatreppe hinabstieg, sah ich Cheney Phillips in einem dunkelroten Seidenhemd, einer schicken cremefarbenen Stoffhose und auf Hochglanz polierten italienischen Slippern den Weg heraufkommen. Cheney war Polizist und arbeitete, soweit ich zuletzt gehört hatte, im Drogendezernat. Ich begegnete ihm immer mal wieder in einem Schuppen namens Caliente Café – auch als CC’s bekannt –, das in einer Seitenstraße des Cabana Boulevard in der Nähe des Vogelreservats liegt. Gerüchteweise hatte ich gehört, dass Cheney im CC’s ein Mädchen kennen gelernt hatte und sechs Wochen später mit ihr nach Vegas geflogen war und sie geheiratet hatte. Außerdem erinnerte ich mich an den Stich der Enttäuschung, mit dem ich diese Nachricht aufgenommen hatte. Das war vor drei Monaten gewesen.

»Willst du schon gehen?«, fragte er.

»Hey, wie geht’s dir? Was machst du denn hier?«

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Ich wohne nebenan.«

Ich folgte seinem Blick zum Nachbarhaus, das ebenfalls viktorianisch und zweistöckig war und wie ein Zwilling des Hauses wirkte, das ich soeben verlassen hatte. Nicht viele Cops können sich in Santa Teresa ein Haus von dieser Größe und aus dieser Epoche leisten. »Ich dachte, du wohnst in Perdido.«

»Früher mal. Dort bin ich aufgewachsen. Mein Onkel ist gestorben und hat mir einen Haufen Geld hinterlassen, und da habe ich beschlossen, es in eine Immobilie zu investieren.« Er war schätzungsweise vierunddreißig, drei Jahre jünger als ich, hatte ein schmales Gesicht und einen dichten Schopf dunkler, lockiger Haare, war etwa eins dreiundsiebzig groß und schlank. Er hatte mir einmal erzählt, dass seine Mutter Luxusimmobilien verkaufte und sein Vater X. Phillips war, der Besitzer der Bank of X. Phillips in Perdido, einer Stadt dreißig Meilen weiter südlich. Er war eindeutig in einem privilegierten Umfeld aufgewachsen.

»Schönes Haus«, sagte ich.

»Danke. Ich bin noch am Einrichten, sonst hätte ich dir einen Rundgang angeboten.«

»Vielleicht ein andermal«, erwiderte ich und fragte mich, wo seine Frau war.

»Was machst du denn immer so zurzeit?«

»Nicht viel. So dies und das.«

»Willst du nicht wieder mit zurück auf die Party kommen und etwas mit mir trinken? Ich würde gern mit dir reden.«

»Geht nicht. Ich habe einen Termin und bin eh schon spät dran.«

»Aber dann demnächst mal, oder?«

»Klar.«

Ich winkte und trat ein paar Schritte zurück, ehe ich mich umwandte und auf mein Auto zuging. Warum hatte ich denn jetzt so reagiert? Ich hätte ohne weiteres noch auf einen Drink bleiben können, aber ich hielt es keine Minute mehr in dieser Menschenmenge aus. Zu viele Leute und zu viel Geschwätz.

Um Viertel nach sechs war ich wieder zu Hause, erleichtert darüber, dass ich allein war, aber trotzdem niedergeschlagen. Obwohl ich Veras Schwager ja überhaupt nicht hatte kennen lernen wollen, war ich enttäuscht. Das Blind Date hatte sich als blasses Date entpuppt. Ein netter Typ, aber es sprang kein Funke über, was vermutlich auch gut so war. Allerdings war durchaus denkbar, dass mein Bedauern mehr mit Cheney Phillips zu tun hatte als mit Owen Hess, aber damit wollte ich mich nicht auseinander setzen. Was hätte das schon gebracht?

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