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Auf dem Rückweg in die Stadt holte ich meine Wäsche aus der Reinigung und drehte anschließend eine Runde durch den Supermarkt, um allerlei. Zeug zu erstehen, das ich zu Hause abladen wollte, ehe ich wieder ins Büro fuhr. Ich wollte meinen Vermieter möglichst noch erwischen, bevor ein paar Stunden später sein Damenbesuch aufkreuzte. Die Einkäufe tätigte ich nur, um Requisiten bei mir zu haben, die mein unerwartetes Auftauchen mitten am Nachmittag rechtfertigen würden. Henry und ich schenken einander in vielen Dingen Vertrauen, aber sein Liebesleben gehört nicht dazu. Wenn ich darüber etwas erfahren wollte, müsste ich schon mit diskreter Raffinesse vorgehen.

Meine kleine Wohnung war ursprünglich eine Einzelgarage, die durch einen mittlerweile glasverkleideten Durchgang mit Henrys Haus verbunden ist. 1980 hat er den Raum zu dem gemütlichen Studio umgebaut, das ich seither von ihm gemietet habe. Was früher einmal nichts als ein kahles Quadrat mit fünf Metern Seitenlänge gewesen ist, ist jetzt komplett möbliert und umfasst ein Wohnzimmer, eine direkt anschließende, kombüsenartige Küche, eine Ecke für die Waschmaschine und ein Badezimmer. Über eine Wendeltreppe erreicht man eine Schlafgalerie und ein zweites Badezimmer. Die Räumlichkeiten sind kompakt und so durchdacht gestaltet, dass jeder Quadratzentimeter optimal genutzt wird. Mit ihren Ecken und Winkeln, den Wänden aus blankem Teak- und Eichenholz und den vereinzelten Bullaugenfenstern besitzt die Wohnung Maße und Atmosphäre eines Schiffsbauchs.

Ich fand zwei Häuser weiter einen Parkplatz und lud meine Wäsche und die beiden Tüten aus dem Supermarkt aus. Mein Zeitplan erwies sich als optimal. Gerade als ich durch das quietschende Metalltor getreten war und den Weg nach hinten entlangging, fuhr Henry in seine Doppelgarage. Er hatte sein hellgelbes, fünffenstriges Chevy-Coupé gerade vom alljährlichen Kundendienst geholt. Der Lack war auf Hochglanz poliert. Innen war es vermutlich nicht nur pieksauber, sondern noch dazu mit Pinienduft parfümiert. Henry hat den Wagen 1932 neu gekauft und ihn so gut gepflegt, dass man hätte schwören mögen, dass noch Garantie darauf war – falls Autos damals überhaupt Garantie hatten. Er besitzt noch ein zweites Fahrzeug, einen Kombi, den er für alltägliche Besorgungen und gelegentliche Fahrten zum fünfundneunzig Meilen weiter südlich gelegenen Flughafen Los Angeles benutzt. Das Coupé hebt er sich für besondere Gelegenheiten auf. Heute war eine solche.

Es fällt mir schwer, im Gedächtnis zu behalten, dass er siebenundachtzig Jahre alt ist. Ebenso schwer fällt es mir, ihn mit Worten zu beschreiben, die angesichts unseres Altersunterschieds von fünfzig Jahren nicht peinlich schwärmerisch klingen. Er ist intelligent, nett, sexy, durchtrainiert, attraktiv, kräftig und hilfsbereit. Als er noch berufstätig war, hat er als Bäcker gearbeitet, und obwohl er mittlerweile seit fünfundzwanzig Jahren im Ruhestand ist, bäckt er immer noch die besten Zimtschnecken, die ich je gegessen habe. Wäre ich gezwungen, ihm einen Charakterfehler zu attestieren, würde ich vermutlich seine Vorsicht in Herzensangelegenheiten nennen. Das einzige Mal, dass ich ihn wirklich verliebt gesehen habe, wurde er nicht nur betrogen, sondern fast um jeden Cent gebracht, den er besaß. Seitdem lässt er sich überhaupt nicht mehr in die Karten schauen. Entweder war ihm keine Frau mehr über den Weg gelaufen, die ihn interessierte, oder er hatte absichtlich weggesehen. Zumindest bis Mattie Halstead auftauchte.

Mattie war Bordkünstlerin auf einer Kreuzfahrt gewesen, die er und seine Geschwister im April unternommen hatten. Kurz darauf war sie auf dem Weg nach Los Angeles bei ihm vorbeigekommen, als sie dort Bilder zu einer Galerie bringen wollte. Einen Monat später war er ganz gegen seine Gewohnheit nach San Francisco gefahren und hatte einen Abend mit ihr verbracht. Über die Art ihrer Beziehung schwieg er sich aus, aber mir war aufgefallen, dass er seine Garderobe aufgepeppt und mit Krafttraining begonnen hatte. Die Familie Pitts ist (zumindest aufseiten von Henrys Mutter) sehr langlebig, und er und seine Geschwister erfreuen sich einer bemerkenswert guten Gesundheit. William hat zwar Ansätze zum Hypochonder, und Charlie ist fast taub, aber davon abgesehen machen sie den Eindruck, als würden sie noch ewig leben. Lewis, Charlie und Nell wohnen in Michigan, aber sie besuchen einander immer wieder, mal geplant und mal nicht. William und meine Freundin Rosie, der die Kneipe einen halben Block weiter gehört, würden am 28. November ihren zweiten Hochzeitstag feiern. Nun sah es ganz danach aus, als hätte Henry ähnliche Pläne ... so hoffte ich zumindest. Die Liebesgeschichten anderer Leute sind ja so viel weniger gefährlich als die eigenen. Ich freute mich auf all die Genüsse der wahren Liebe, ohne die Leiden ertragen zu müssen.

Henry blieb stehen, als er mich sah, und wartete, bis ich auf seiner Höhe war, so dass wir gemeinsam weiter aufs Haus zugehen konnten. Seine Haare waren frisch geschnitten, und über seinen scharf gebügelten Chinos trug er ein blaues Jeanshemd. Sogar seine gewohnten Gummilatschen hatte er gegen ein paar Segelschuhe mit dunklen Socken ausgetauscht.

»Warte doch kurz, bis ich das Zeug hier abgeladen habe«, bat ich.

Er blieb so lange stehen, bis ich die Tür aufgeschlossen und meine Einkäufe direkt dahinter auf den Fußboden gestellt hatte. Nichts davon würde in der nächsten halben Stunde schlecht werden. »Du hast dir die Haare schneiden lassen«, sagte ich. »Sieht super aus.«

Verlegen fuhr er sich mit der Hand übers Haar. »Ich bin gerade beim Friseur vorbeigekommen und habe gemerkt, dass ich schon lang überfällig bin. Findest du es zu kurz?«

»Überhaupt nicht. Es macht dich um Jahre jünger«, erwiderte ich und dachte mir dabei, dass Mattie schön blöd sein müsste, wenn sie nicht erkannte, was für ein Schatz er war. Ich hielt ihm die Fliegentür auf, während er seine Schlüssel herauszog und die Hintertür aufschloss. Ich folgte ihm hinein und sah zu, wie er seine Lebensmittel auf die Arbeitsfläche in der Küche stellte.

»Schön, dass Mattie vorbeikommt. Du freust dich sicher darauf, sie zu sehen. «

»Es ist ja nur der eine Abend.«

»Was ist denn der Anlass?«

»Sie hat für eine Frau in La Jolla ein Bild gemalt und bringt ihr noch zwei weitere, für den Fall, dass der Kundin das erste nicht gefällt. «

»Na, jedenfalls ist es schön, dass sie auf einen Sprung bei dir vorbeischaut. Wann kommt sie denn?«

»Sie wollte gegen vier hier sein, je nachdem, wie der Verkehr ist. Sie hat gemeint, sie würde erst ihr Hotelzimmer beziehen und dann von dort aus anrufen, wenn sie sich ein bisschen frisch gemacht hat. Sie hat eingewilligt, zum Abendessen zu kommen, solange ich keinen großen Aufwand betreibe. Ich habe versprochen, etwas ganz Einfaches zu machen, aber du kennst mich ja.«

Er fing an, seine Einkäufe auszupacken: ein in weißes Metzgerpapier eingewickeltes Päckchen, Kartoffeln, Weißkraut, Frühlingszwiebeln und ein großes Glas Mayonnaise. Dann zog er die Backofentür auf und sah nach dem Tontopf, in dem Bohnen zusammen mit Melasse, Senf und einem Stück Bauchspeck vor sich hin köchelten. Auf einem Gestell auf der Arbeitsfläche ruhten zwei Laibe frisch gebackenes Brot, und mitten auf dem Küchentisch thronte unter einem Glassturz ein Schokoladenkuchen mit mehreren Schichten. Daneben stand ein Strauß Blumen aus seinem Garten – Rosen und Lavendel, die er kunstvoll in einer Teekanne aus Porzellan arrangiert hatte.

»Der Kuchen sieht sagenhaft aus.«

»Das ist eine Torte mit zwölf Schichten. Ich habe sie nach Nells Rezept gebacken, das ursprünglich von unserer Mutter stammt. Wir haben es jahrelang versucht, aber keiner von uns hat es genauso hingekriegt wie sie. Schließlich hat Nell es geschafft, aber sie sagt, es sei ein Riesenaufwand. Ich habe ein halbes Dutzend Böden weggeschmissen, ehe das Ding was geworden ist. «

»Und was gibt’s sonst noch? «

Henry nahm eine gusseiserne Kasserolle heraus und stellte sie auf den Herd. »Brathuhn, Kartoffelsalat, Krautsalat und gebackene Bohnen. Ich dachte, wir könnten eine Art kleines Picknick im Garten machen, falls es nicht kälter wird.« Er öffnete seinen Gewürzschrank, sah die Gläschen durch und nahm eines mit getrocknetem Dill heraus. »Möchtest du uns nicht Gesellschaft leisten? Sie freut sich bestimmt, dich zu sehen.«

»Oh, bitte. Gesellschaft ist das Letzte, was sie braucht. Nach sechs Stunden Fahrt? Gib der Frau einen Drink und lass sie die Füße hochlegen.«

»Ihretwegen brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Sie hat Energie im Überfluss. Und ich bin mir sicher, dass sie sich freuen würde.«

»Lassen wir es einfach auf uns zukommen. Ich fahre jetzt wieder ins Büro, aber ich schaue noch mal bei dir rein, sobald ich wieder hier bin.«

Ich war bereits fest entschlossen, seine Einladung auszuschlagen, wollte aber nicht unhöflich sein. Meiner Meinung nach brauchten sie Zeit für sich allein. Ich würde kurz den Kopf hineinstecken und hallo sagen, in erster Linie, um meine Neugier auf Mattie zu befriedigen. Sie war entweder verwitwet oder geschieden, ich wusste nicht, was von beidem, doch bei ihrem letzten Besuch war mir aufgefallen, dass sie mehrmals von ihrem Mann gesprochen hatte. Als Henry Probleme mit einem kaputten Knie hatte, war sie allein wandern gegangen und hatte ihren Aquarellkasten mitgenommen, damit sie eine Stelle in den Bergen malen konnte, die ihr und ihrem Mann immer sehr gefallen hatte. War sie emotional noch gebunden? Ob ihr Göttergatte nun noch lebte oder schon gestorben war, mir behagte die Vorstellung nicht. Unterdessen gab sich Henry betont nonchalant, vielleicht um seine Gefühle zu verbergen oder als Reaktion auf unterschwellige Signale von ihr. Natürlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass ich mir das alles nur einbildete, doch das glaubte ich nicht. Jedenfalls hatte ich vor, bei Rosie zu Abend zu essen und mir bei ihr meine gewohnte allwöchentliche Dosis an Bevormundungen und Beschimpfungen abzuholen.

Ich überließ Henry seinen Vorbereitungen und fuhr zurück ins Büro, von wo aus ich bei Priscilla Holloway anrief, Reba Laffertys Bewährungshelferin. Nord Lafferty hatte mir am Ende unseres Gesprächs ihren Namen und ihre Telefonnummer genannt. Ich war bereits wieder an meinem Auto gewesen und hatte gerade die Fahrertür aufgezogen, als mir die betagte Haushälterin von der Tür aus etwas zurief und dann mit einem Foto in der Hand den Weg entlanggehastet kam.

»Mr. Lafferty hat vergessen, Ihnen das hier zu geben«, keuchte sie ganz außer Atem. »Es ist ein Foto von Reba.«

»Danke. Das kann ich gut gebrauchen. Ich gebe es zurück, sobald wir wieder hier sind. «

»Ach, nicht nötig. Er hat gesagt, Sie können es behalten, wenn Sie wollen.«

Ich bedankte mich noch einmal und steckte das Bild ein. Während ich nun darauf wartete, dass Priscilla Holloway ans Telefon ging, zog ich es heraus und musterte es erneut. Etwas Aktuelleres wäre mir lieber gewesen. Diese Aufnahme war gemacht worden, als die Frau Mitte oder Ende zwanzig war und eine beinahe koboldhafte Erscheinung abgab. Ihre großen dunklen Augen blickten aufmerksam in die Kamera, und ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet, als setze sie gerade zum Sprechen an. Ihre Haare waren schulterlang und blond gefärbt, aber eindeutig von einem teuren Friseur. Sie hatte einen hellen Teint und leicht gerötete Wangen. Nach zwei Jahren Gefängniskost hatte sie vielleicht ein paar Pfund zugelegt, aber ich war zuversichtlich, dass ich sie erkennen würde.

»Holloway«, meldete sich eine Frau am anderen Ende.

»Hi, Ms. Holloway. Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich bin Privatdetektivin hier am Ort – «

»Ich weiß, wer Sie sind. Nord Lafferty hat mich angerufen und mir erzählt, dass er Sie engagiert hat, damit Sie seine Tochter abholen.«

»Ja, und ich rufe an, um mich mit Ihnen abzusprechen.«

»Schön. Das erspart mir schon mal die Fahrt. Wenn Sie vor drei wieder in der Stadt sind, bringen Sie sie bei mir im Büro vorbei. Wissen Sie, wo ich arbeite?«

Ich wusste es nicht, und so gab sie mir die Adresse.

»Dann bis Montag«, sagte ich.

Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit Büroarbeiten, überwiegend Sortieren und Ablegen, im vergeblichen Versuch, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Außerdem machte ich mich anhand eines von der kalifornischen Strafvollzugsbehörde herausgegebenen Heftchens über Bewährungsbestimmungen schlau.

Als ich zum zweiten Mal an diesem Tag zu meiner Wohnung zurückkehrte, sah ich keinerlei Anzeichen für ein Picknick auf dem Gartentisch. Vielleicht war Henry ja zu dem Schluss gekommen, dass es günstiger war, das Essen drinnen zu servieren. Ich tappte zu seiner Hintertür und spähte hinein. Meine Hoffnungen auf ein romantisches Abendessen für die beiden zerschlugen sich sofort, als ich William in der Küche sah. Mit mürrischer Miene saß Henry mit seinem üblichen Glas Jack Daniel’s in seinem Schaukelstuhl, während Mattie ein Glas Weißwein in der Hand hielt.

William, der zwei Jahre älter ist als Henry, hat ihm schon immer so ähnlich gesehen, dass man ihn für seinen Zwillingsbruder hätte halten können. Zwar wurde Williams weißer Schopf bereits schütter, wo Henrys Haarwuchs noch üppig war, doch seine Augen waren vom gleichen leuchtenden Blau, und er befleißigte sich einer ebenso aufrechten militärischen Haltung. Er trug einen schicken dreiteiligen Anzug, über dessen Weste sich die Uhrkette zog. Ich klopfte an die Scheibe, woraufhin Henry mich hineinwinkte. William erhob sich, als er mich sah, und ich wusste, er würde stehen bleiben, wenn ich ihn nicht zum Sitzen aufforderte. Auch Mattie stand auf, um mich zu begrüßen, und obwohl wir uns nicht direkt umarmten, gaben wir uns zumindest die Hand und wechselten einen Luftkuss.

Sie war Anfang siebzig, groß und schlank und hatte weiches, silberfarbenes Haar, das sie in einem Knoten oben auf dem Kopf trug. Ihre Ohrringe glitzerten im Licht – silbern, übergroß und handgefertigt.

»Hallo, Mattie«, begrüßte ich sie. »Wie geht’s? Sie müssen ja ganz pünktlich angekommen sein. «

»Schön, Sie zu sehen. Ja, genau.« Sie trug eine korallenrote Seidenbluse und einen langen bunten Rock zu flachen Wildlederschuhen. »Trinken Sie ein Glas Wein mit uns?«

»Ich glaube nicht, aber trotzdem danke. Ich habe noch etwas zu erledigen und muss gleich wieder los.«

»Trink ruhig ein Glas Wein«, sagte Henry mit düsterer Stimme. »Warum denn nicht? Und bleib doch gleich zum Abendessen. William hat sich ja bereits eingeladen, also ist es sowieso schon egal. Rosie hat ihn nicht mehr um sich ertragen, deshalb hat sie ihn hierher geschickt. «

»Sie hat vollkommen grundlos einen Wutanfall bekommen«, ergänzte William. »Ich war gerade vom Arzt zurück und wusste, dass sie hören wollte, wie meine Blutwerte ausgefallen waren, vor allem der HDL-Wert. Vielleicht möchtet ihr auch mal einen Blick darauf werfen.« Er hielt uns das Blatt hin und deutete mit gewichtiger Miene auf die lange Zahlenkolonne, die sich rechts die Seite hinabzog. Mein Blick wanderte an seinen Blutzucker-, Natrium-, Kalium-, und Chloridwerten entlang, ehe mir Henrys Gesichtsausdruck auffiel. Seine Augäpfel hatten sich so weit in Richtung Nasenrücken verdreht, dass ich schon fürchtete, sie würden die Seiten wechseln. William ließ nicht locker. »Ihr seht also, dass das Verhältnis zwischen LDL und HDL bei mir 1,3 beträgt. «

»Oh, tut mir Leid. Ist das schlimm?«

»Nein, nein. Der Arzt meinte, das sei hervorragend ... angesichts meines Gesundheitszustands.« Williams Stimme enthielt einen Hauch von Hinfälligkeit, der auf einen geschwächten Zustand hindeutete.

»Tja, schön für dich. Ist doch toll.«

»Danke. Ich habe unseren Bruder Lewis angerufen und es ihm ebenfalls erzählt. Sein Cholesterinwert liegt bei 214, was in meinen Augen ein Alarmsignal ist. Er sagt zwar, er tut, was er kann, aber bis jetzt hat das nicht viel gebracht. Du kannst das Blatt Mattie weiterreichen, wenn du es durchgelesen hast.«

»Würdest du dich bitte setzen, William?«, sagte Henry. »Ich kriege gleich Genickstarre.« Er verließ seinen Schaukelstuhl und nahm ein weiteres Weinglas aus dem Küchenschrank. Er schenkte es bis zum Rand voll und reichte es mir, wobei er mir ein wenig Wein auf die Hand goss.

William weigerte sich, Platz zu nehmen, bevor ich mir einen Stuhl genommen hatte. Ich setzte mich mit einem kaum hörbaren »Danke schön« und fuhr dann betont interessiert mit dem Finger die Spalten mit Untersuchungsgegenständen und Messwerten auf seinem Arztbericht entlang. »Du bist gut in Form«, sagte ich, als ich das Blatt an Mattie weiterreichte.

»Na ja, ich habe immer noch Herzklopfen, aber der Arzt will meine Medikamentendosis neu einstellen. Er meint, ich sei ein Phänomen für einen Mann meines Alters.«

»Wenn du dermaßen vor Gesundheit strotzt, warum musst du dann alle zwei Tage in die Notfallambulanz?«, fauchte Henry.

William zwinkerte Mattie gelassen zu. »Mein Bruder geht leichtsinnig mit seiner Gesundheit um und will nicht anerkennen, dass manche von uns eben Vorsorge treffen. «

Henry schnaubte nur.

William räusperte sich. »Na gut. Wechseln wir eben das Thema, da Henry mit dem hier offenbar nicht zurechtkommt. Ich hoffe, das ist jetzt nicht zu persönlich, aber Henry hat erzählt, dass Ihr Mann verstorben ist. Darf ich fragen, was ihn das Leben gekostet hat?«

Henry fuhr fast aus der Haut. »Das nennst du ein anderes Thema? Es ist ein und dasselbe – Tod und Krankheit. Kannst du an nichts anderes denken?«

»Ich habe nicht mit dir gesprochen«, erwiderte William, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder Mattie zuwandte. »Ich hoffe, das Thema ist nicht zu schmerzlich für Sie.«

»Jetzt nicht mehr. Barry ist vor sechs Jahren an Herzversagen gestorben. Ich glaube, die Ärzte haben es Herz-Ischämie genannt. Er hat am San Francisco Art Institute Goldschmiedehandwerk unterrichtet. Er war sehr begabt, allerdings auch ein wenig exzentrisch.«

William nickte. »Herz-Ischämie. Der Begriff ist mir vertraut. Vom Griechischen ischein, das heißt ›zurückhalten‹ oder ›behindern‹, kombiniert mit haima oder ›Blut‹. Ein deutscher Pathologe hat Mitte des neunzehnten Jahrhunderts den Begriff als Erster eingeführt. Rudolf Virchow. Ein bemerkenswerter Mann. Wie alt war denn Ihr Gatte?«

»William«, jaulte Henry.

Mattie lächelte. »Wirklich, Henry. Ich bin da nicht so empfindlich. Er ist zwei Tage vor seinem siebzigsten Geburtstag gestorben. «

William zuckte zusammen. »Ein Jammer, wenn ein Mann in der Blüte seiner Jahre dahingerafft wird. Ich selbst habe bereits mehrere Anfälle von Angina Pectoris erlitten, die ich wundersamerweise überlebt habe. Erst vor zwei Tagen habe ich mit Lewis am Telefon über meine Herzbeschwerden gesprochen. Sie erinnern sich bestimmt an unseren Bruder. «

»Aber sicher. Ich hoffe, er, Nell und Charles sind alle bei guter Gesundheit. «

»Es geht ihnen blendend«, bestätigte William. Er verlagerte sein Gewicht und senkte die Stimme. »Wie war das bei Ihrem Mann? Gab es vor seinem tödlichen Infarkt eine Warnung?«

»Er hatte Schmerzen in der Brust, aber er hat sich geweigert, zum Arzt zu gehen. Barry war Fatalist. Er war überzeugt davon, dass man abtritt, wenn die einem zugeteilte Lebenszeit abgelaufen ist, ganz egal, was für Vorkehrungen man auch trifft. Er hat die Langlebigkeit mit einem Wecker verglichen, den Gott bei der Geburt jedes Menschen einstellt. Niemand von uns weiß, wann das kleine Glöckchen klingelt, und Barry hat keinen Sinn darin gesehen, es vorhersehen zu wollen. Er hat das Leben in vollen Zügen genossen, das muss ich ihm lassen. Die meisten meiner Verwandten werden nicht einmal sechzig, und sie leiden jede Minute, weil sie sich vor dem Unvermeidlichen fürchten. «

»Sechzig! Ist das denn die Möglichkeit? Höchst erstaunlich. Spielen da genetische Faktoren mit?«

»Ich glaube nicht. Es ist ein bisschen von allem. Krebs, Diabetes, Nierenversagen, chronische Lungenkrankheit.«

William legte sich die Hände auf die Brust. Ich hatte ihn nicht mehr so glücklich gesehen, seit er die Grippe gehabt hatte. »Ah ja. Chronische obstruktive Atemwegserkrankung. Schon allein der Begriff ruft Erinnerungen in mir wach. Ich war in meiner Jugend selbst lungenleidend – «

Henry klatschte in die Hände. »Okay, gut. Genug zu diesem Thema. Wie wär’s, wenn wir mal essen würden?«

Er ging zum Kühlschrank und holte eine klare Glasschüssel heraus, die bis oben hin voll mit Krautsalat war, und knallte sie mit deutlich mehr Wucht auf den Tisch, als nötig gewesen wäre. Das bereits gebratene Hühnchen lag auf einer Platte auf der Arbeitsfläche, vermutlich noch warm. Er stellte es mitsamt einer Servierzange auf die Tischmitte. Der flache kleine Tontopf stand nun hinten auf dem Herd und verströmte den Duft von weich gekochten Bohnen und Lorbeer. Henry nahm Vorlegebesteck aus einem Keramikkrug und holte vier Teller heraus, die er William reichte. Vielleicht hoffte er ihn abzulenken, während er den Rest des Essens zum Tisch brachte. William stellte an jeden Platz einen Teller, hörte jedoch nicht auf, Mattie ausführlich nach dem Tod ihrer Mutter durch akute bakterielle Hirnhautentzündung zu befragen.

Beim Essen lenkte Henry das Gespräch auf neutrales Terrain. Wir arbeiteten uns durch rituelle Fragen über Matties Fahrt von San Francisco nach Santa Teresa, den Verkehr, den Straßenzustand und dergleichen mehr, was mir umfassend Gelegenheit bot, sie zu studieren. Ihre Augen waren von einem klaren Grau, und sie trug nur sehr wenig Make-up. Sie hatte markante Gesichtszüge, und Nase, Wangenknochen und Kiefer waren so ausgeprägt und wohl proportioniert wie bei einem Model. Ihre Haut wies Anzeichen von Sonnenschäden auf, was ihrem Teint einen leicht rötlichen Schimmer verlieh. Ich stellte mir vor, wie sie stundenlang mit ihrem Aquarellkasten und einer Staffelei im Freien saß.

Ich sah William an, dass er immer noch über tödliche Krankheiten nachgrübelte, und überlegte, wie schnell ich mich wohl entschuldigen und verdrücken konnte. Dabei plante ich, William mitzuschleppen, damit Henry und Mattie etwas Zeit für sich hatten. Die Uhr stets im Blick, verdrückte ich Brathuhn, Kartoffelsalat, Krautsalat, gebackene Bohnen und Kuchen. Das Essen war köstlich, und ich aß wie immer schnell und voller Begeisterung. Um fünf nach halb neun, gerade als ich mir einen glaubwürdigen Vorwand zurechtlegen wollte, faltete Mattie ihre Serviette zusammen und legte sie neben ihren Teller auf den Tisch.

»Also, ich breche dann auf. Ich muss noch ein paar Telefongespräche führen, sobald ich im Hotel bin.«

»Sie gehen schon?«, fragte ich, während ich versuchte, meine Enttäuschung zu verbergen.

»Sie hat einen langen Tag hinter sich«, erklärte Henry, ehe er sich erhob und ihren Teller wegnahm. Er trug ihn zur Spüle, hielt ihn kurz unters kalte Wasser und stellte ihn in die Spülmaschine. Dabei sprach er die ganze Zeit mit ihr. »Ich kann dir ein Stück Hühnchen einpacken, für den Fall, dass du später noch Appetit bekommst.«

»Führ mich bloß nicht in Versuchung. Ich bin satt, aber nicht pappsatt, genau, wie ich es mag. Es war wunderbar, Henry. Ich kann dir. gar nicht sagen, wie sehr ich die Mühe zu schätzen weiß, die du dir mit diesem Essen gemacht hast.«

»Freut mich, wenn es dir geschmeckt hat. Ich hole dir deinen Umhang.« Er trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer.

William faltete seine Serviette und schob seinen Stuhl zurück. »Ich glaube, ich mache mich lieber auch auf den Weg. Der Arzt hat mir dringend empfohlen, mich an eine geregelte Lebensweise zu halten, und dazu gehören acht volle Stunden Schlaf. Vielleicht mache ich noch ein paar leichte Gymnastikübungen, um meine Verdauung anzuregen. Aber natürlich nichts Anstrengendes. «

Ich wandte mich an Mattie. »Haben Sie schon Pläne für morgen? «

»Leider fahre ich schon in aller Herrgottsfrühe wieder zurück. Aber ich komme in ein paar Tagen wieder.«

Henry kehrte mit einer weichen Stola mit Paisleymuster zurück und legte sie ihr um die Schultern. Sie tätschelte ihm liebevoll die Hand und griff nach ihrer großen Ledertasche, die sie neben dem Stuhl abgestellt hatte. »Hoffentlich sehen wir uns bald wieder«, sagte sie zu mir.

»Das hoffe ich auch.«

Henry berührte sie leicht am Ellbogen. »Ich bringe dich nach draußen.«

William zog seine Weste zurecht. »Nicht nötig. Ich begleite sie gerne.« Er bot Mattie seinen Arm an, und sie hängte sich bei ihm ein. Sie warf Henry noch einen kurzen Blick über die Schulter zu, ehe sie mit William zur Tür hinausging.

Ausgespielt

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