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Das Amt für Bewährungshilfe war in einem flachen Backsteingebäude untergebracht, das in einem in den Sechzigerjahren populären Stil erbaut war – jede Menge Glas, Aluminium und lange horizontale Linien. Dunkelgrüne Zedern wuchsen unter einem Überhang, der sich über die gesamte Fassade zog. Der Parkplatz war großzügig, und ich fand ohne weiteres eine Lücke. Ich machte den Motor aus. »Soll ich Sie begleiten?«, fragte ich.

»Können Sie gern«, erwiderte sie. »Wer weiß, wie lange ich warten muss. Leisten Sie mir ruhig Gesellschaft.«

Wir überquerten den Parkplatz und bogen nach rechts ab, in Richtung Eingang. Als wir durch die Glastür getreten waren, standen wir in einem langen, tristen Flur mit Büros auf beiden Seiten. Anscheinend gab es keinen Empfangstresen, allerdings standen am anderen Ende des Flurs ein paar Klappstühle, auf denen ein paar Männer saßen. Als wir hereinkamen, spähte eine stämmige Frau mit roten Haaren und einem dicken Aktenordner in der Hand zu einer Bürotür heraus und rief einen der Männer zu sich. Ein traurig aussehender Mann Mitte sechzig trat vor. Er trug ein schäbiges Sakko und eine nicht besonders saubere Hose. Typen wie ihn sah ich gelegentlich in Hauseingängen schlafen und halb gerauchte Zigaretten aus den sandgefüllten Aschenbechern in Hotelhallen klauben.

Die Frau sah zu uns herüber und entdeckte Reba. »Sind Sie Reba?«

»Ja.«

»Ich bin Priscilla Holloway. Wir haben telefoniert. Ich habe gleich Zeit für Sie.«

»Gut.« Reba sah den beiden nach. »Meine Bewährungshelferin.«

»Das habe ich mir schon gedacht.«

Priscilla Holloway war Mitte vierzig, hatte markante Gesichtszüge und einen schweren Knochenbau und war braun gebrannt. Ihr kastanienrotes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr halb den Rücken hinunterhing. Ihre dunkle Hose war vom Sitzen zerknittert. Über der Hose trug sie eine weiße Bluse mit heraushängendem Saum und eine rote Strickjacke mit offenem Reißverschluss, die diskrete Tarnung für die Schusswaffe, die sie in einem Schulterhalfter trug. Sie war athletisch gebaut, und ich vermutete, dass sie schnelle, schweißtreibende Sportarten bevorzugte: Squash, Fußball, Basketball und Tennis. In der Schulzeit hätte mir ein Mädchen von ihrer massigen Statur Todesangst eingejagt, doch damals lernte ich, dass mir, wenn ich mich mit einem solchen Mädchen anfreundete, lebenslanger Schutz auf dem Spielplatz sicher war.

Reba und ich steckten unseren Claim in einem winzigen Abschnitt des Flurs ab, wo wir uns abwechselnd anlehnten und hinhockten, während wir versuchten, eine bequeme Warteposition zu finden. An der Wand gegenüber hing ein Münztelefon, bei dessen Anblick Reba große Augen bekam. »Haben Sie Kleingeld? Ich muss jemanden anrufen. Ein Ortsgespräch.«

Ich öffnete meine Tasche und fischte auf ihrem Grund nach einzelnen Münzen. Dann gab ich Reba eine Hand voll Kleingeld und sah zu, wie sie zum Telefon ging und den Hörer abnahm. Sie warf die Münzen ein, wählte eine Nummer und drehte ihren Körper so, dass ich nicht von ihren Lippen ablesen konnte. Das Gespräch dauerte etwa drei Minuten, und als sie schließlich auflegte, sah sie glücklicher und entspannter aus, als ich sie bisher erlebt hatte.

»Alles in Ordnung?«

»Sicher. Ich habe mich nur bei einem Freund gemeldet.« Sie ließ sich an der Wand nach unten rutschen und setzte sich auf den Boden.

Zehn Minuten später tauchte Priscilla Holloway wieder auf und begleitete ihren schmuddeligen Klienten zur Tür. Sie gab ihm noch eine Ermahnung mit auf den Weg und wandte sich dann an Reba. »Möchten Sie jetzt reinkommen?«

Reba rappelte sich auf. »Was ist mit ihr?«

»Sie kann in ein paar Minuten nachkommen. Zuerst müssen wir mal unter vier Augen ein paar Dinge klären. Ich hole Sie dann gleich«, sagte sie zu mir.

Die beiden gingen den kahlen Flur entlang. Reba sah im Vergleich zu Holloway geradezu winzig aus. Mittlerweile ans Warten gewöhnt, lehnte ich mich wieder an die Wand und stellte meine Umhängetasche auf den Boden. Da ging die Glastür auf, Cheney Phillips kam herein und ging auf dem Weg den Flur entlang an mir vorbei. An Priscilla Holloways Tür klopfte er an und steckte den Kopf hinein. Er plauderte kurz mit ihr, ehe er sich umwandte und erneut auf mich zukam. Bis jetzt hatte er mich noch nicht entdeckt, was mir kurz Gelegenheit gab, ihn zu mustern.

Ich kannte Cheney seit Jahren, aber wir hatten bis zu einem Mordfall vor zwei Jahren nie zusammengearbeitet. Im Laufe zahlreicher Gespräche hatte er mir anvertraut, dass er in einer Atmosphäre wohlwollender Vernachlässigung aufgewachsen war und sich schon früh für eine Laufbahn bei der Polizei entschieden hatte. Als sich unsere Wege das letzte Mal gekreuzt hatten, hatte er als Zivilfahnder fürs Drogendezernat gearbeitet, doch inzwischen war sein Gesicht vermutlich zu bekannt für verdeckte Ermittlungen. Wie üblich war er tadellos gekleidet: eine dunkle Hose zu einem Nadelstreifensakko, das in der Schulterpartie breit und in der Taille eng geschnitten war. Zu seinem mitternachtsblauen Hemd trug er eine mitternachtsblaue Krawatte mit einem Touch von hellerem Blau. Sein dunkles Haar war lockig, und sein Blick verströmte eine seltsame Mischung aus Polizistenmentalität und Verführung. Als ich gehört hatte, dass er geheiratet hatte, hatte ich seinen Namen in meinem geistigen Adressbuch von einem der vordersten Plätze nach ganz hinten in eine Kategorie verlegt, die das Etikett »ohne Schaden gestrichen« trug.

Sein Blick streifte kurz meinen, und als ihm klar wurde, dass ich es war, blieb er wie angewurzelt stehen. »Kinsey, so ein Zufall. Gerade habe ich an dich gedacht.«

»Was machst du denn hier?«

»Einem entlassenen Häftling auf den Zahn fühlen. Und du?«

»Bei einer jungen Frau babysitten, bis sie auf eigenen Füßen steht.«

»Missionarsarbeit.«

»Das nun nicht gerade. Ich werde dafür bezahlt«, entgegnete ich.

»Als wir uns am Samstag begegnet sind, wollte ich dich schon fragen, warum ich dich gar nicht mehr im CC’s sehe. Dolan hat mir erzählt, dass ihr zwei zusammen an einem Fall arbeitet. Da hätte ich eigentlich damit gerechnet, dass du mal reinschaust.«

»In meinem Alter ziehe ich nicht mehr durch die Kneipen. Ich gehe höchstens zu Rosie«, erwiderte ich. »Und was ist mit dir? Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass du in Las Vegas geheiratet hast.«

»Mann, das spricht sich ja rum. Was hast du denn noch gehört?«

»Dass du sie im CC’s kennen gelernt hast und schon nach sechs Wochen mit ihr durchgebrannt bist.«

Cheney lächelte gequält. »Klingt irgendwie krass, wenn du es so ausdrückst.«

»Was ist denn aus deiner vorherigen Freundin geworden? Ich dachte, du seist jahrelang mit einer anderen liiert gewesen.«

»Das hat zu nichts geführt. Sie hat es früher gemerkt als ich und mich sang- und klanglos sitzen lassen.«

»Und dann hast du aus Frust gleich geheiratet?«

»So könnte man wohl sagen. Und wie läuft’s bei dir? Was macht dein Freund Dietz?«

»Kinsey, möchten Sie jetzt reinkommen?«

Als ich aufsah, kam Priscilla Holloway auf mich zu.

Cheney wandte den Kopf, folgte meinem Blick und sah zwischen der Bewährungshelferin und mir hin und her. »Ich glaube, du musst los.«

»War nett, dich mal wieder gesehen zu haben«, sagte ich.

»Ich rufe Sie an, sobald ich dazu komme«, sagte Priscilla zu ihm, als er sich zum Gehen wandte.

Ich sah ihm nach, wie er die Glastür aufstieß und auf den Parkplatz zuging.

»Woher kennen Sie Cheney?«, wollte Priscilla wissen.

»Von einem Fall, den ich bearbeitet habe. Netter Typ.«

»Er ist in Ordnung. Ist die Fahrt ohne Probleme verlaufen?«

»Ein Kinderspiel, nur dass es da unten unheimlich heiß war.«

»Und es gibt viel zu viele Insekten«, ergänzte sie. »Man kann kaum den Mund aufmachen, ohne eines zu verschlucken.«

Ihr Büro war klein und schlicht möbliert. Ein Fenster ging auf den Parkplatz hinaus, doch der Blick wurde durch eine staubige Jalousie in Streifen zerschnitten. Auf dem Fensterbrett sah ich eine Polaroidkamera und auf einem Stapel dicker Aktenordner zwei Polaroidfotos von Reba. Ich nahm an, dass Priscilla immer aktuelle Aufnahmen bei der Hand haben wollte, für den Fall, dass Reba sich klammheimlich aus dem Staub machte. Auf Priscillas Seite des Schreibtischs standen Aktenschränke und auf unserer zwei Metallstühle. Priscilla setzte sich auf ihren Drehstuhl und sah mich an. »Reba sagt, Sie würden sich um sie kümmern.«

»Nur ein paar Tage, bis sie sich wieder eingelebt hat.«

Priscilla beugte sich vor. »Ich habe es schon mit ihr durchgesprochen, aber ich wiederhole es gern, damit Sie auch Bescheid wissen. Keine Drogen, kein Alkohol, keine Schusswaffen, kein Messer mit einer Klinge, die länger als fünf Zentimeter ist, Messer in ihrer Wohnung oder Arbeitsstelle ausgenommen. Und keine Armbrust.« Sie hielt inne, schmunzelte und richtete den Rest ihrer Bemerkungen an Reba, als wollte sie ihnen besonderen Nachdruck verleihen. »Kein Kontakt zu Personen, die bekanntermaßen vorbestraft sind. Jeder Wechsel des Wohnorts muss innerhalb von zweiundsiebzig Stunden mitgeteilt werden. Keine Reisen über einen Umkreis von fünfzig Meilen hinaus ohne Genehmigung. Sie verlassen Santa Teresa County nicht länger als achtundvierzig Stunden und Kalifornien nicht ohne meine schriftliche Erlaubnis. Wenn die Polizei Sie schnappt und Sie das magische Papier nicht haben, wandern Sie wieder hinter Gitter.«

»Alles klar«, sagte Reba.

»Eines habe ich noch zu erwähnen vergessen. Bei der Arbeitssuche verbieten es Ihnen die Bewährungsauflagen, sich um eine Vertrauensposition zu bewerben: kein Umgang mit Löhnen und Gehältern oder Steuern, kein Zugang zu Schecks –«

»Und wenn der Arbeitgeber über meine Verurteilung Bescheid weiß?«

Holloway überlegte. »Dann vielleicht, aber sprechen Sie zuerst mit mir.« Sie wandte sich wieder mir zu. »Irgendwelche Fragen?«

»Ich doch nicht. Ich bin nur die Begleitung.«

»Ich habe Reba meine Nummer gegeben, falls sie mich braucht. Wenn ich nicht erreichbar bin, hinterlassen Sie eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter. Ich höre ihn vier- bis fünfmal am Tag ab.«

»Alles klar.«

»Fürs Erste habe ich zwei Hauptanliegen. Das erste ist die öffentliche Sicherheit. Das zweite ist ihre erfolgreiche Resozialisierung. Sehen wir zu, dass wir möglichst keines von beiden vermasseln, okay?«

»Ich bin dabei«, sagte ich.

Priscilla stand auf und beugte sich über ihren Schreibtisch, um zuerst Reba und dann mir die Hand zu schütteln. »Viel Glück. War nett, Sie kennen zu lernen, Ms. Millhone.«

»Sagen Sie ruhig Kinsey.«

»Wenden Sie sich an mich, wenn ich in irgendeiner Weise behilflich sein kann.«

»Ich mag die Holloway«, sagte ich, als wir wieder im Wagen saßen. »Sie macht einen netten Eindruck.«

»Ich mag sie auch: Sie hat gesagt, ich bin die einzige Frau, für die sie zuständig ist. Alle ihre anderen Bewährungskandidaten sind 288A oder 290.«

»Und das wäre?«

»Rechtskräftig überführte Sexualstraftäter. 288A steht für Kindesmissbrauch. Ein paar von ihnen gelten als gewalttätige Sexgangster. Reizende Gesellschaft. Aber man würde es den Kerlen nie ansehen, wenn man es nicht weiß.« Sie zog ein Faltblatt hervor, auf dessen Vorderseite »Strafvollzugsbehörde« stand. Eilig überflog sie die Seite von oben nach unten. »Wenigstens bin ich nicht in der höchsten Kontrollgruppe. Die, die darunter fallen, müssen regelrecht Männchen machen. Anfangs muss ich einmal die Woche zu ihr, aber sie meint, wenn ich mich benehme, stuft sie mich auf einmal im Monat zurück. Natürlich muss ich trotzdem zu AA-Treffen gehen und jede Woche einen Drogentest machen, aber da brauche ich bloß in einen Becher zu pinkeln, also ist es nur halb so wild.«

»Was ist mit Arbeit? Haben Sie vor, sich was zu suchen?«

»Pop will nicht, dass ich arbeite. Er glaubt, das strengt mich zu sehr an. Außerdem zählt das nicht zu den Bewährungsauflagen, und der Holloway ist es egal, solange ich sauber bleibe.«

»Dann bringe ich Sie jetzt mal nach Hause.«

Um halb drei setzte ich Reba vor dem Anwesen ihres Vaters ab, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie sowohl meine Privat- als auch meine Büronummer hatte. Ich empfahl ihr, sich ein paar Tage Zeit zum Eingewöhnen zu gönnen, aber sie entgegnete, sie sei jetzt zwei Jahre lang eingesperrt gewesen, hätte nichts zu tun gehabt und sich gelangweilt, und jetzt wolle sie raus. Ich sagte, sie solle mich am nächsten Vormittag anrufen, dann würden wir eine Uhrzeit ausmachen, zu der ich sie abholen käme.

»Danke«, sagte sie und öffnete die Beifahrertür. Die betagte Haushälterin stand bereits auf der Veranda vor dem Haus und hielt nach Reba Ausschau. Neben ihr saß ein großer, langhaariger, orangefarbener Kater. Als Reba die Autotür zuschlug, tappte der Kater die Verandatreppe herunter und stolzierte gemessenen Schrittes auf sie zu. Reba bückte sich und nahm ihn auf die Arme. Sie wiegte ihn und vergrub das Gesicht in seinem Fell, eine Demonstration der Zuneigung, die der Kater als sein gutes Recht hinzunehmen schien. Reba trug ihn zur Veranda zurück. Ich wartete, bis sie die Haushälterin umarmt hatte und mit dem Kater unterm Arm drinnen verschwunden war, dann legte ich den ersten Gang ein und machte mich auf den Weg zurück in die Stadt.

Ich fuhr zu meinem Büro und blieb so lange, bis ich sämtliche Anrufe erwidert und die Post geöffnet hatte. Um fünf Uhr hatte ich alles erledigt, was ich mir vorgenommen hatte, also schloss ich ab und setzte mich für die kurze Strecke nach Hause ins Auto. Dort angekommen, leerte ich den Briefkasten und zerrte die übliche Mischung aus Werbesendungen und Rechnungen heraus. Vertieft in einen Prospekt von einem Schneider aus Hongkong, der mit mir ins Geschäft kommen wollte, trat ich durch das quietschende Tor. Ein Kreditbüro bot mir schnelles Bargeld an; Anruf genügte. War ich nicht ein Glückspilz?

Henry stand im Garten und sprengte die Terrasse mit einem steten Wasserstrahl, der so dick war wie ein Besenstiel und Blätter und Steinchen von den flachen Platten in den Rasen dahinter fegte. Die Spätnachmittagssonne war durch die Wolkendecke gedrungen, und so kamen wir endlich in den Genuss von ein wenig Sommer. Henry trug ein T-Shirt und abgeschnittene Jeans und hatte seine langen, eleganten Füße nackt in ein Paar abgenutzte Flipflops gesteckt. Hinter ihm stand William, wie gewohnt in einem schicken dreiteiligen Anzug, und passte auf, dass ihn keine Spritzer aus dem Schlauch trafen. Er stützte sich auf einen schwarzen Spazierstock mit geschnitztem Elfenbeingriff. Die beiden waren am Streiten, hielten aber lange genug inne, um mich höflich zu begrüßen.

»William, was hast du denn mit deinem Fuß gemacht? Ich habe dich noch nie mit einem Stock gesehen.«

»Der Arzt hat gemeint, ein Stock würde mich stabilisieren.«

»Es ist ein Accessoire«, sagte Henry.

William ignorierte ihn.

»Tut mir Leid, wenn ich euch unterbreche«, sagte ich. »Ich habe euch wohl mitten im Gespräch gestört.«

»Henry ist entscheidungsschwach, was Mattie betrifft«, erklärte William.

»Ich bin nicht entscheidungsschwach! Ich bin vernünftig. Ich bin siebenundachtzig Jahre alt. Wie viele gute Jahre bleiben mir denn noch?«

»Sei nicht albern«, entgegnete William. »Auf unserer Seite oder Familie ist schon immer jeder mindestens hundertdrei geworden. Hast du gehört, was sie über ihre Familie erzählt hat? Ich dachte, sie zitiert aus dem ärztlichen Handbuch. Krebs, Diabetes und Herzkrankheit? Ihre Mutter ist an Gehirnhautentzündung gestorben. Ausgerechnet Gehirnhautentzündung! Glaub mir, Mattie Halstead wird lange vor dir das Zeitliche segnen.«

»Warum soll ich mir darüber den Kopf zerbrechen? Keiner von uns wird in absehbarer Zeit ›das Zeitliche segnen‹«, entgegnete Henry.

»Du bist ein Narr. Sie kann sich glücklich schätzen, wenn sie dich kriegt.«

»Warum denn das, um Himmels willen?«

»Sie braucht jemanden, der ihr zur Seite steht. Niemand will krank und allein sein, schon gar nicht, wenn es aufs Ende zugeht.«

»Ihr fehlt überhaupt nichts! Sie ist gesund wie ein Pferd. Sie wird mich um mindestens zwanzig Jahre überleben, was man von dir nicht gerade behaupten kann.«

William wandte sich an mich. »Lewis wäre nicht so stur –«

»Was hat Lewis denn damit zu tun?«, wollte Henry wissen.

»Er mag sie. Wenn du dich erinnerst, war er auf der Kreuzfahrt höchst aufmerksam ihr gegenüber.«

»Das ist Monate her.«

»Sag du’s ihm, Kinsey. Vielleicht dringst du zu ihm durch.«

Mir wurde leicht unbehaglich zumute. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, William. Ich bin die Allerletzte, die in Liebesdingen Ratschläge geben kann.«

»Unsinn. Du warst zweimal verheiratet.«

»Aber es ist beide Male schief gegangen.«

»Zumindest hast du keine Angst davor gehabt, dich zu binden. Henry ist ein Feigling –«

»Bin ich nicht!« Henry wurde langsam wütend. Ich fürchtete schon, er würde den Schlauch auf seinen Bruder richten, doch er ging zum Wasserhahn und drehte ihn zu, was ein kreischendes Geräusch verursachte. »Allein die Vorstellung ist absurd. Zuerst einmal hat Mattie ihren Lebensmittelpunkt in San Francisco, und ich bin hier verwurzelt. Ich bin im Grunde meines Herzens ein häuslicher Mensch, und jetzt schaut euch nur an, wie sie lebt – andauernd macht sie Kreuzfahrten und geht von heute auf morgen auf Weltreise.«

»Sie macht nur Kreuzfahrten in der Karibik; das dürfte also kein Problem sein«, wandte William ein.

»Sie ist wochenlang weg. Völlig ausgeschlossen, dass sie das jemals aufgibt.«

»Warum soll sie es auch aufgeben?«, seufzte William entnervt. »Lass sie doch machen, was sie will. Ihr könnt sechs Monate da oben leben und die anderen sechs Monate hier. Jedem von uns täte ein Tapetenwechsel gut – dir noch mehr als den meisten anderen. Und komm mir bloß nicht mit diesem Getue vom ›Verwurzeltsein‹. Sie kann ihr Haus behalten und du deines, und dann könnt ihr immer hin und her fahren.«

»Ich will überhaupt nirgends hinfahren. Ich will hier bleiben.«

»Weißt du, was dein Problem ist? Du willst überhaupt nichts tun, was mit irgendeinem Risiko verbunden ist«, sagte William.

»Du auch nicht.«

»Stimmt nicht! Von wegen. Da liegst du komplett daneben. Ich habe mit sechsundachtzig geheiratet, und wenn das in deinen Augen kein Risiko ist, dann frag sie«, sagte er und zeigte auf mich.

»Es ist wirklich eines«, murmelte ich pflichtschuldig, eine Hand in die Luft gereckt, als müsste ich einen Eid ablegen. »Aber wisst ihr was? Nehmt es mir nicht übel, aber ...« Alle beide wandten sich um und sahen mich an. »Findet ihr nicht, dass auch Matties Gefühle eine Rolle spielen? Vielleicht ist sie nicht mehr an ihm interessiert als er an ihr.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht an ihr interessiert wäre. Ich erörtere die Situation lediglich von ihrem Standpunkt aus.«

»Sie ist an dir interessiert, du Trottel!«, fauchte William. »Denk doch mal nach. Sie kommt in einem Tag wieder hierher. Das hat sie selbst gesagt. Hast du nicht gehört, wie sie es gesagt hat?«

»Weil es direkt auf ihrem Weg liegt. Sie fährt nicht hier vorbei, um mich zu besuchen.«

»O doch – sonst würde sie ja einfach durchfahren, oder?«

»Sie muss eben tanken und sich mal die Beine vertreten.«

»William hat Recht. Ich bin ganz seiner Meinung«, warf ich ein.

Henry rollte langsam den Schlauch zusammen und hob nebenbei Steinchen und abgemähte Grashalme auf. »Sie ist ein wunderbarer Mensch, und ich schätze unsere Freundschaft sehr. Und jetzt lassen wir das Thema. Ich habe genug davon.«

William wandte sich zu mir um. »Damit hat es ja angefangen. Ich habe weiter nichts getan, als darauf hinzuweisen, dass sie ein wunderbarer Mensch ist und er lieber mal seinen Hintern hochkriegen und sie sich schnappen soll.«

»Schwachsinn!«, zischte Henry und gestikulierte abwehrend in Williams Richtung, während er zum Haus zurückging. Er zog die Fliegentür auf und knallte sie hinter sich wieder zu.

William schüttelte den Kopf und stützte sich auf seinen Spazierstock. »So war er schon immer. Unvernünftig. Stur. Und bei der leisesten Meinungsverschiedenheit kriegt er Wutanfälle.«

»Ich weiß nicht, William. An deiner Stelle würde ich mich zurückhalten und die beiden die Sache unter sich ausmachen lassen.«

»Ich will ihnen ja nur helfen.«

»Henry hasst es, sich helfen zu lassen.«

»Weil er ein sturer Bock ist.«

»Wir sind alle sture Böcke, wenn man’s genau nimmt.«

»Also, jedenfalls muss etwas unternommen werden. Womöglich ist das seine letzte Chance auf Liebe. Ich kann nicht mit ansehen, wie er Hackfleisch daraus macht.« Ein leises Klingeln ertönte, und William fasste in seine Westentasche und sah auf die Uhr. »Zeit für meinen kleinen Imbiss.« Er zog ein Zellophantütchen mit Cashewnüssen heraus und biss es auf. Dann warf er sich zwei Nüsse in den Mund und kaute sie wie Tabletten. »Du weißt ja, dass ich zu Unterzucker neige. Der Arzt sagt, ich soll unbedingt alle zwei Stunden eine Kleinigkeit zu mir nehmen. Sonst riskiere ich Schwindel, Schwäche, Schweißausbrüche und Herzklopfen. Außerdem Gliederzittern, wie du ja sicher schon bemerkt hast.«

»Tatsächlich? Ist mir nicht aufgefallen.«

»Das ist es ja. Der Arzt hat mir geraten, Freunde und Verwandte darauf aufmerksam zu machen, damit sie die Symptome erkennen, weil es unerlässlich ist, sofort Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Ein Glas Fruchtsaft, ein paar Nüsse. Das kann ausschlaggebend sein. Er will zwar noch ein paar Untersuchungen vornehmen, aber bis dahin ist eine eiweißreiche Ernährung das Mittel der Wahl«, erklärte er. »Weißt du, bei mangelhafter Glukoseproduktion kann ein Anfall durch Alkohol oder Salizylsäure ausgelöst werden, in seltenen Fällen auch durch Verzehr von Aki-Früchten, die das hervorrufen können, was man gemeinhin die jamaikanische Brechkrankheit nennt...«

Ich hielt mir eine Hand hinters Ohr. »Ich glaube, bei mir klingelt das Telefon. Ich muss gehen.«

»Natürlich. Ich kann dir beim Abendessen Näheres erklären, da es dich offenbar interessiert.«

»Toll«, sagte ich und schob mich langsam auf meine Tür zu.

William zeigte mit seinem Spazierstock auf mich. »Und was diese Geschichte mit Henry angeht – ist es nicht besser, intensive Gefühle zu haben, selbst wenn man dabei verletzt wird?«

Ich zeigte meinerseits auf ihn. »Darüber müssen wir noch mal reden.«

Ausgespielt

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