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ОглавлениеDie Fahrt von Santa Teresa nach Lompoc dauert mit dem Auto eine Stunde, aber ich machte in Gull Cove Halt, also etwa auf halber Strecke. Ganz tief in meinem Herzen wusste ich, warum ich mich bereit erklärt hatte, diesen Teil der Arbeit zu übernehmen. Abgesehen davon, dass ich eine Weile allein sein musste, spielte ich mit dem Gedanken, noch mal zu Grands altem Haus zurückzufahren. Wie ein frisch bekehrter Säufer hatte ich voller Überzeugung am Tag zuvor abgeschworen und ertappte mich jetzt bei dem Gedanken, dass ein kurzer Abstecher vielleicht nicht schaden konnte.
Um zwei Uhr nachmittags hielt ich vor dem Lebensmittelladen von Gull Cove. Das Geschäft war in einem weitläufigen, verwitterten Bau untergebracht, der mit Zedernschindeln gedeckt und obendrein noch mit ein paar Elementen des Cape-Cod-Stils verziert war und so eine ansprechende Mischung aus Moderne und Tradition abgab. Früher waren darin außerdem ein rund um die Uhr geöffnetes Imbisslokal, ein Trödelladen und ein winziger Friseursalon mit zwei Plätzen untergebracht gewesen. Selbst aus der Entfernung war nicht zu übersehen, dass der gesamte Komplex geschlossen war. Fenster waren mit Brettern vernagelt, und der Asphalt auf dem Parkplatz war rissig und zu einem kalkigen Grau verblichen. Das Gras außen herum war schmutzig braun, und Unkraut und Wildblumen wuchsen bis auf Kniehöhe. Auf der Anhöhe dahinter stand ein einzelner, abgestorbener Baum, der wie eine Vogelscheuche wirkte, da er seine verkrümmten Zweige zum Himmel reckte, als wollte er den Vögeln zuwinken. Die Einwohnerzahl von Gull Cove war mit hundert angegeben, aber ich konnte beim besten Willen nicht einmal einen einzigen entdecken.
Ich parkte neben der Vordertreppe und stieg aus. Die breite Holzterrasse knarrte unter meinen Schritten. Eine am Haupteingang angeschlagene Bekanntmachung erklärte, dass der Komplex zu Renovierungszwecken geschlossen war. Jemand hatte mit Bleistift ein Smiley mit herabgezogenen Mundwinkeln dazugemalt. Jemand anders hatte mit Kugelschreiber »WEN JUCKT’S?« dazugeschrieben. Ein dritter, vielleicht sogar ein Mensch, hatte einen großen Haufen neben die durch ein Vorhängeschloss gesicherte Tür gesetzt. Ich spähte durch das Fenster des Lebensmittelladens, das staubig und von Streifen gezeichnet war, die die winterlichen Regenstürme auf der Scheibe hinterlassen hatten. Innen war alles leer: nicht ein Einrichtungsgegenstand, Verkaufstresen oder Regal war stehen geblieben. Die Renovierungsarbeiten würden sich wohl noch eine Weile hinziehen.
Ich ging zum Wagen zurück und sah in meine Notizen, um Roxanne Faughts letzte bekannte Adresse herauszusuchen: Q Street in Lompoc, eine halbe Stunde weiter nördlich. Eigentlich eine lange Anfahrt für einen Job als Verkäuferin. Ich ließ den Motor an und fuhr wieder los, diesmal in nördlicher Richtung. Zu meiner Linken lag der Pazifik. Heute waren die Wellen schwach und kraftlos, ihre Farbe ein dunklerer Widerschein des blauen Himmels über ihnen. Beiläufig dachte ich an Grands Haus. Eventuell könnte ich einen Blick darauf werfen, wenn ich daran vorbeifuhr. Es war bestimmt vom Highway aus sichtbar, wenn man wusste, wo man schauen musste. Ich stellte das Autoradio an, um mich abzulenken.
Ich hatte den Stadtrand von Lompoc erreicht. Die Stadt ist flach und kompakt, ein einstöckiges Panorama aus breiten Straßen und kleinen Häusern. Ein ständiger Wind weht vom Meer her, gebündelt von den weiten Hügeln, die den Ort umgeben. Fünf Kilometer weiter nördlich liegt Vandenberg Village und dahinter die Vandenberg Air Force Base. Das ganze Tal ist überzogen von Pferde-und Rinderfarmen, und ein großer Teil des bewirtschafteten Landes wird für handelsübliche Blumen genutzt, von denen viele wegen ihrer Samen gezüchtet werden. Ohne zu wissen, um welche Gattung es sich handelte, sah ich auf die langen hellgelben und leuchtend pinkfarbenen Blütenreihen. Dahinter folgten weite Felder mit etwas, das wohl Schleierkraut war. Viele Farmen waren an Bauunternehmer verkauft worden; Wicken, Mohnblumen und Rittersporn wurden von Früchten in Form von Fünfzimmerhäusern in ordentlich angelegten Reihen verdrängt.
Die Stadt selbst besitzt ein öffentliches Schwimmbad und ein brauchbares Einkaufszentrum mit allen üblichen Geschäften und Einrichtungen: einen Viva-Secondhandshop, Banken, Anwaltskanzleien, Läden für Autoersatzteile und Sanitärbedarf, Einzelhandelsgeschäfte und Tankstellen, Cafés, Apotheken und Arztpraxen. Lompoc ist eine Garnisonsstadt, und in manchen Vierteln wohnen die Leute nur vorübergehend, da sie ihre militärische Laufbahn von einem Ort zum anderen schickt, wie Steinchen auf einem Spielbrett. Allerdings war nicht zu erkennen, womit sich die Einwohner in ihrer Freizeit vergnügten. Ich sah keine Bowlingbahn, keinen Konzertsaal, ja nicht einmal ein Kino. Vielleicht beschränkte sich die lokale Kultur darauf, dass alle sich Videos von den Film-Flops des Vorjahres ausliehen.
Die Q Street war nicht schwer zu finden, da sie logischerweise zwischen der P und der R Street lag. Das gesuchte Haus stand auf der linken Straßenseite. Es war ein hölzerner Quader, ruhte auf einem Betonsockel und war mit Teerpappen verkleidet, die einen Aufdruck trugen, der wie dunkelroter Backstein wirken sollte. Eine Veranda, die in der Mitte etwas durchhing, erstreckte sich über die Vorderseite. Zwei Weißwandreifen dienten als Pflanzenkübel, aus denen pinkfarbene Geranien quollen. Eine alte, weiße Badewanne mit Klauenfüßen war am Fußende aufgestellt und halb im Erdreich eingegraben worden. Im Schutz des Porzellanrandes stand eine blau gewandete Madonna. Ich hielt am Straßenrand und stieg aus.
Ein alter Mann mit Latzhose stand im Vorgarten und badete einen Hund. Er sah aus wie mindestens neunzig und war noch solide gebaut. Er hatte einen Gartenschlauch durch das halb offene Küchenfenster geleitet, und ich nahm an, dass das andere Ende am Wasserhahn befestigt war. Als ich über den Rasen ging, hielt er in seiner Beschäftigung inne, indem er die Mündung des Schlauchs losließ und den Wasserstrom absperrte. Er hatte ein breites Gesicht mit dicken Backen, eine Knollennase und einen geraden, fast lippenlosen Mund. Die Haare trug er glatt nach hinten gekämmt und mit Pomade angeklatscht, aber trotzdem waren sie so dünn, dass ich bis auf die Kopfhaut durchsehen konnte. Sein Teint war infolge von zu viel Sonneneinstrahlung fleckig braun und wies hier und da rote Stellen auf. Seine blauen Augen bildeten lebhafte Tupfen unter bleichen, schütteren Brauen. In der Luft hing der Geruch von nassen Hundehaaren und beißender Flohseife. Ein mittelgroßer Hund von unbestimmbarer Rasse stand knietief in einer verzinkten Wanne. Er sah mager und zerbrechlich aus, da ihm das Fell am Gerippe klebte und ihn fast durchscheinend wirken ließ. Tote Flöhe sprenkelten das darunter liegende Fleisch wie Pfeffer. Der Hund zitterte und jaulte und wich meinem Blick aus. Ich wandte die Augen ab, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der alte Mann. Seine Stimme war für einen Mann seiner Größe erstaunlich hoch.
»Das hoffe ich. Ich suche Roxanne Faught, und das ist die einzige Adresse, die ich von ihr habe. Wissen Sie, wo sie ist?«
»Muss ich wohl. Ich bin ihr Dad«, antwortete er. »Und wer sind Sie?«
Ich zeigte ihm meine Karte.
Er zwinkerte und schüttelte dann den Kopf. »Was steht da? Tut mir Leid, aber ich habe meine Brille nicht auf.«
»Ich bin Privatdetektivin aus Santa Teresa.«
»Und was wollen Sie von Roxanne?«
»Ich brauche Informationen in Bezug auf einen alten Fall. Offenbar ist ein Mädchen in den Laden in Gull Cove gekommen, als Roxanne 1969 dort gearbeitet hat. Ich würde ihr gern ein paar Fragen über den Vorfall stellen.«
Er drückte auf die Mündung des Schlauchs, und ein Wasserschauer ergoss sich wie ein leichter Regen über Rücken und Hinterbeine des Hundes. »Geht es um das Mädchen, das ermordet worden ist?«
»Genau.«
»Ah ja. Dann hat das wohl seine Richtigkeit. Es ist auch zweimal ein Hilfssheriff vorbeigekommen und hat das Gleiche gefragt.«
»Sie meinen Stacey Oliphant, den Mann, mit dem ich zusammenarbeite. Wohnt Ihre Tochter noch hier in der Gegend?«
»Nicht weit weg. Was halten Sie davon: Ich rufe sie schnell an und frage sie, ob sie mit Ihnen reden will. Sonst hat es eh keinen Sinn.«
»Das wäre toll.«
Er legte den Schlauch beiseite, hob den Hund aus der Wanne und setzte ihn aufs Gras. Der Hund fing an, sich heftig und mit geballter Körperkraft zu schütteln, und verspritzte Wasser in alle Richtungen, bis sein Fell stachelig abstand. Der alte Mann nahm ein dickes Handtuch und rieb den Hund fest damit ab. Dann wickelte er ihn in das Handtuch und reichte ihn mir. »Das ist Ralph.«
Da ich mich bei ihm lieb Kind machen wollte, nahm ich den Hund, ohne zu protestieren. Ich spürte, wie warmes Hundebadewasser aus dem Handtuch auf mein Hemd rann. Ralph lag in meinen Armen, ein feuchtes Häuflein Knochen, so zutraulich wie ein Baby, den Blick unverwandt auf mich gerichtet. Die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul, und ich hätte schwören können, dass er lächelte. Ich schaukelte ihn ein bisschen, was ihm zu gefallen schien. Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie Tiere Menschen dazu bringen, sich so aufzuführen.
Der alte Mann kehrte zurück, schloss sorgfältig die Tür hinter sich und tappte die Stufen hinunter. Er war nicht besonders gut zu Fuß, doch er kam voran. In der Hand hielt er einen Zettel. »Sie ist zu Hause und hat gesagt, es ist okay, wenn ich Ihnen das gebe.«
Ich überreichte ihm den Hund und nahm den Zettel, auf dem eine Telefonnummer und eine Adresse standen. »Danke.«
»Es ist ein kleines Haus neben dem Highway. Sie fahren etwa zehn Blocks hier runter, bis sie zur North Street kommen, und biegen dann rechts ab. Wenn Sie an der Riverside sind, biegen Sie wieder rechts ab. Dann sind es noch etwa fünf Blocks.«
Roxanne Faught hatte ihre vordere Veranda zu einem Freiluftwohnzimmer gemacht, indem sie sie mit einem hellen Sisalteppich ausgelegt und mit einer dunkelgrün lackierten Hängeschaukel, zwei weißen Korbschaukelstühlen, ein paar Tischchen sowie einem Zeitschriftenständer mit zwei Fächern möbliert hatte, der zur einen Hälfte mit Ausgaben von People und zur anderen mit Exemplaren von Better Homes and Gardens voll gestopft war. Fünf Terrakottatöpfe mit leuchtend orangefarbenen Ringelblumen säumten die Veranda. Bei meiner Ankunft saß sie mit einer Flasche Bier und einer frisch angezündeten Zigarette auf der Hängeschaukel. Das Haus selbst war ein weißer Holzbau und völlig gesichtslos. Es besaß Fenster und Türen an den richtigen Stellen, aber nichts, was es von anderen Häusern unterschieden hätte. Roxanne war über sechzig und attraktiv, obwohl die Falten in ihrem Gesicht durch das viele Make-up noch betont wurden. Ihre Haare waren vorwiegend kupferblond, hatten jedoch graue Ansätze, die bereits einen zehn Zentimeter breiten Streifen bildeten. Sie hatte die Brauen zu dünnen Bogen gezupft und ihre dunklen Augen mit schwarzem Eyeliner geschminkt. Vom Rauchen waren ihre Zähne dunkel geworden, doch ansonsten waren sie gerade und regelmäßig, was auf Kronen schließen ließ. Sie trug ein langärmliges, marineblaues T-Shirt mit hochgeschobenen Ärmeln, Jeans und Turnschuhe ohne Socken. Sie trank einen Schluck Bier und zeigte dann mit der Flasche auf mich. »Sie müssen die Frau sein, wegen der mich Pop gerade angerufen hat. Kommen Sie rauf und setzen Sie sich.«
»Kinsey Millhone. Danke, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich nehmen. Ich wusste nicht, wo Sie wohnen, also habe ich bei Ihrem Vater begonnen.«
»Ich habe mein ganzes Leben in Lompoc gewohnt. Anscheinend fehlt mir ein bisschen der Abenteuergeist. Meine Großtante ist gestorben und hat mir gerade genug Geld hinterlassen, dass ich das Haus abbezahlen konnte. Ich kann ohne zu arbeiten überleben, wenn ich aufpasse.« Sie hielt inne und griff nach einer zweifarbigen Haarsträhne, die sie kritisch beäugte. »Wie Sie sehen, gehe ich nicht mehr zum Friseur. Es ist billiger, es selbst zu färben, wenn ich mal dazu komme. Bloß die da kann ich nicht lassen«, sagte sie und gestikulierte dabei mit ihrer Zigarette. »Ich rauche schon so lange, dass ich wahrscheinlich sowieso nicht mehr zu retten bin. Also genieße ich es.« Sie hustete einmal und löste dabei irgendetwas tief in ihrem Brustkorb. »Womit kann ich Ihnen behilflich sein? Pop hat gesagt, Sie wollen etwas über das Mädchen wissen, das vor zwanzig Jahren oder so ermordet worden ist.«
»Im August werden es achtzehn.«
»Wissen Sie, was das Interessante an ihr ist? Sie lässt die Leute nicht los. Jetzt ist sie schon so lange tot, und trotzdem laufen noch welche rum, die sich fragen, wer sie ist und wie man sie dorthin zurückbringen kann, wo sie herkommt.«
»Und wer sie umgebracht hat«, fügte ich hinzu.
»Ja, also dabei viel Glück. Da haben Sie sich ja was Schönes vorgenommen. Aber setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen ein Bier holen?«
»Im Moment nicht, danke.« Ich setzte mich in einen der Korbschaukelstühle. Er knarrte unter meinem Gewicht. »Ich kann gut verstehen, dass Sie gern hier draußen sitzen und zusehen, wie die Autos vorbeifahren. Echt nett.«
»Das ist das Schöne am Ruhestand. Immer wieder werde ich gefragt, ob mir die Arbeit nicht fehlt. Also, weiß Gott nicht. Ich könnte den Rest meines Lebens hier auf der Veranda verbringen. Außerdem habe ich dermaßen viel zu zu tun, dass ich überhaupt nicht mehr begreife, wie ich je Zeit für einen Job hatte. Mit Haushalt und Besorgungen geht schon der halbe Tag drauf.«
»Und was machen Sie sonst noch?«
»Lesen. Ich arbeite im Garten und spiele Bridge mit ein paar Mädels, die ich schon seit Jahren kenne. Und Sie? Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?«
»Ich bin nicht besonders scharf darauf, drinnen zu hocken, aber die praktische Arbeit macht mir Spaß.«
»So, jetzt aber. Was kann ich Ihnen sagen, was Sie nicht schon wissen?«
»Eines hat mich neugierig gemacht. Gull Cove liegt fünfzig Kilometer weiter südlich. Das ist doch eine ganz schön lange Anfahrt für einen Job, wie Sie ihn auch hier hätten finden können.«
Roxanne hustete erneut und räusperte sich. Wie bei anderen Rauchern, die ich kenne, war ihr Husten eine Gewohnheit und schien keines Kommentars zu bedürfen. »Das ist leicht zu erklären. Ich hatte was mit dem Besitzer. Deshalb hat er mich eingestellt.« Sie lachte. »Kam mir damals super vor. Dann hat er sich eine andere geangelt und mich rausgeworfen. Große Überraschung. Einzig und allein meine Schuld. Genau wie Pop immer gesagt hat: ›Spuck dir nicht in die eigene Suppe, Roxanne.‹«
»Man lernt nie aus.«
»Das können Sie laut sagen. Auf jeden Fall hab ich von sieben bis drei gearbeitet. Es war Sommer und tierisch heiß, obwohl eine Brise vom Meer her kam. Kennen Sie den Laden überhaupt?«
»Ich habe auf der Fahrt hierher dort vorbeigeschaut.«
»Dann haben Sie’s ja selbst gesehen. Kein schattiger Baum in Sicht, und der Bau steht mitten auf der Anhöhe. Im August brennt die Sonne so heiß, dass das Wasser von selbst zu kochen anfängt. Auf jeden Fall war es ein Freitagmorgen. Das weiß ich noch, weil ich einmal die Woche bezahlt worden bin und schon Rechnungen ohne Ende am Hals hatte. Also hab ich vor mich hin geschuftet – mutterseelenallein. Aber es war nie viel Kundschaft da, und ich hab’s allein geschafft. Dann kommt dieses Mädel rein. Sie guckt an den Regalen entlang und geht auf und ab, wie wenn sie einkaufen will. Dann seh ich sie nach hinten gehen, wo wir eine Kaffeemaschine und einen frei zugänglichen Kasten mit Sandwiches und Gebäck stehen hatten. Die Kunden haben sich immer selbst bedient und sind zum Bezahlen an die Kasse gekommen, wenn sie alles beisammen hatten, was sie gebraucht haben. Wir hatten draußen auf der Terrasse Tische und Stühle stehen, und die meisten haben ihre Einkäufe mit rausgenommen und beim Essen aufs Meer hinausgeguckt. Man hat zwar über den vierspurigen Verkehr hinwegschauen müssen, der auf der Straße vorbeigesaust ist, aber man konnte es auf jeden Fall sehen. Es war jeden Tag anders. Ich habe mich an dem Anblick selbst nie satt sehen können. Auf jeden Fall hat sie sich eine Tasse Kaffee und einen Doughnut genommen und beides verputzt gehabt, bis sie vorne ankam. Den Becher hatte sie hinten irgendwohin geschmissen; vielleicht hat sie gedacht, ich würde nicht merken, dass sie sich bedient hat. Und im nächsten Moment ist sie schon halb zur Tür draußen. Ich hab den fälligen Betrag eingetippt und bin ihr nach. Da hat sie mir gesagt, dass sie pleite ist. Mann, was soll’s, hab ich mir gedacht. Ich bin auch schon mal pleite gewesen, und ich gönne jedem ’ne Tasse Kaffee und ’nen Happen zu essen, also hab ich ihr gesagt, dass es auf mich geht. Sie hat gesagt: ›Danke. Das mein ich ernst.‹ Wortwörtlich. ›Danke. Das mein ich ernst.‹ Und weg war sie. Alles in allem kann es nicht mehr als vier Minuten gedauert haben, und zwar von dem Moment an, als sie reingekommen ist.«
»Es wundert mich, dass Sie sich überhaupt daran erinnern.«
»Wenn jemand abhauen will, ohne zu bezahlen? Da können Sie aber Gift drauf nehmen, dass ich mir das gemerkt hab. Vor allem, als sie dann auf einmal tot war.« Sie hielt inne, um ihre Zigarette auszudrücken und sich eine neue anzuzünden. »Entschuldigen Sie meine Manieren. Ich hoffe, es stört Sie nicht. Rauchen Sie?«
»Nein, aber wir sitzen ja im Freien, und es zieht in die andere Richtung. Woran können Sie sich noch erinnern? Irgendwas Besonderes?« Ich fragte mich, wie man sich nach so langer Zeit überhaupt an eine so kurze Begegnung erinnern konnte.
»Was zum Beispiel? Stellen Sie mir Fragen. Dann geht es leichter.«
»Wie alt war sie Ihrer Meinung nach?«
»Anfang zwanzig.«
»Kein Teenager?«
»Könnte auch sein. Sie war ziemlich massiv.«
»Sie meinen dick?«
»Dick würde ich nicht gerade sagen, aber stämmig. Breite Handgelenke, große Füße. Und das, was Pop gebärfreudige Hüften nennen würde.«
»Können Sie sich an ihre Kleidung erinnern?«
»O Mann, ich glaube, das habe ich damals alles schon diesem Ermittler vom Sheriffbüro erzählt. Warum fragen Sie nicht den?«
»Ich wollte es lieber noch mal mit Ihnen durchgehen und sehen, ob sich dabei noch was Neues ergibt.«
»Eine Hose und eine Art Bluse – sie wissen schon, mit weiten Ärmeln.«
»Einen Gürtel?«
Sie tat genervt und warf mir einen scherzhaft bösen Blick zu. »Sie gehen der Sache haarklein auf den Grund, was? Narben, Muttermale oder andere unverwechselbare Kennzeichen? Was wollen Sie denn? Ich hab das Mädchen nur einmal aus der Nähe gesehen.«
»Tut mir Leid. Dann hat sie also keinen Gürtel getragen.«
»Ich glaube nicht.«
Ich merkte, dass sie sich entzog, und wusste, dass ich sie zurückholen musste. »Was hatte sie für Schuhe an?«
»Ich würde sagen Boots, wenn ich raten müsste.«
»Das hier ist kein Multiple-Choice. Sagen Sie einfach, was Ihnen einfällt. Zum Beispiel ihre Hose. War die gemustert oder einfarbig?«
Ihre Gesicht leuchtete auf. »Also das weiß ich. Das habe ich nämlich damals schon der Polizei gesagt. Margeriten.«
»Erinnern Sie sich an die Farbe?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Margeritenfarben. Sie wissen schon, gelb und weiß. Wahrscheinlich irgendwo noch ein bisschen Grün dazwischen. Ist das wichtig?«
»Ich taste mich nur voran. Und die Bluse?«
»Einfarbig. Ich hoffe, Sie haben nicht vor, mich nach jeder kleinen Einzelheit zu fragen.«
Ich schmunzelte. »Ehrlich nicht. War die Bluse hell oder dunkel?«
»Dunkelblauer Voile.«
»Was ist das? Tut mir Leid, aber das Wort sagt mir nichts.«
»Ich weiß es auch nicht genau, aber ich weiß, dass es stimmt, weil ich es noch mal nachgelesen habe.«
»Sie haben sich Notizen gemacht?«
»Ich habe den Zeitungsausschnitt aufgehoben. Er liegt drinnen.«
Ich hörte eine leise Alarmglocke läuten. Was ich hier vorgesetzt bekam, war einstudiert. »Hatten Sie den Eindruck, dass sie von hier war, oder war sie auf der Durchreise?«
»Eindeutig auf der Durchreise. Ich habe sie vorher trampen sehen, als ich zur Arbeit gekommen bin. Und ich bin mir sicher, dass sie schon lange nichts mehr gegessen hatte. Sie hat die Sachen regelrecht hinuntergeschlungen.«
»Vielleicht war sie bekifft.«
»Oh. Daran habe ich gar nicht gedacht. Wahrscheinlich war sie das, jetzt, wo ich’s mir überlege. Das könnte auch erklären, wo ihr Geld geblieben war. Sie hat es alles für Shit ausgegeben.«
»Wäre denkbar. Aber ich frage mich, wie weit sie ohne Geld gekommen ist. Oder glauben Sie, sie hatte Geld und wollte es nur nicht für Essen ausgeben?«
»Schwer zu sagen. Wenn ich nicht für sie eingesprungen wäre, wäre sie eben abgehauen, also hatte ich eh keine Wahl. Ich wette, sie hat auch geschnorrt. Aber bei Ihrem Alter können Sie sich wahrscheinlich gar nicht mehr an die Zeit erinnern.«
»Doch, schon. Ich war damals knapp zwanzig.«
»Auf jeden Fall sind überall Hippies rumgehangen und haben einem sämtliches Kleingeld abgeschwatzt, das man hatte. Dann haben sie so große, dicke Joints geraucht. Ich hab vergessen, wie sie die genannt haben. Daumen, glaub ich. Ich hatte damit nichts am Hut. Na ja, vielleicht ein bisschen Gras, aber nie LSD.«
Ich murmelte eine Erwiderung und fragte dann: »Hat sie Schmuck getragen?«
»Nö. Glaub ich nicht.«
»Keine Uhr oder ein Armband? Oder vielleicht Ohrringe?«
»Oh. Jetzt fällt’s mir wieder ein. Keine Ohrringe. Aber ihr linkes Ohrläppchen war gespalten. Als hätte jemand nach dem Ring gegriffen und ihn einfach rausgerissen.«
»War das eine eher frische Verletzung?«
»Nö. Es war alles verheilt, aber es war eindeutig gespalten.«
»Und ihre Fingernägel?«
»Bis aufs Fleisch abgekaut. Mir wäre fast schlecht geworden. Sie war nicht besonders sauber, und sie muss an ihren Nagelhäutchen gezupft haben, bis sie geblutet haben. Haben Sie so was schon mal gesehen? Nägel, die so kurz sind, dass die Fingerkuppen ganz geschwollen aussehen. Da dreht’s einem den Magen um.«
»Und Sie sind sicher, dass Sie sie noch nie zuvor hier gesehen haben?«
»Weder vorher noch nachher.«
»Und wie sind Sie dann darauf gekommen, Kontakt zum Sheriffbüro auf zunehmen?«
»Ich bin auf gar nichts ›gekommen‹. Ich habe in der Zeitung von der Toten gelesen und mich an sie erinnert. Wie gesagt, der Vorfall ist mir im Gedächtnis geblieben, weil sie versucht hat, mich zu übervorteilen.«
»Was hat sie zu der Überzeugung gebracht, dass es dasselbe Mädchen war?«
»Wer hätte es sonst gewesen sein können?«
»Ah. Tja, Sie haben mir sehr geholfen. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Ich streckte ihr die Hand entgegen.
Sie schüttelte sie zögerlich. »Glauben Sie mir nicht? Sie haben sich ja gar keine Notizen gemacht.«
»Das hab ich alles hier drin«, antwortete ich und tippte mir an den Kopf.
Im Wagen sah ich auf die Straßenkarte. Roxanne saß immer noch auf der Veranda, schaute zu mir her und wunderte sich vermutlich über die Verzögerung. Vielleicht glaubte sie, ich würde mir doch endlich Notizen machen und mir die unsinnigen Pseudoerinnerungen aufschreiben, die sie sich im Lauf der Jahre zusammengebastelt hatte. Ich glaubte nicht direkt, dass sie log. Sie hatte ihre Geschichte nur einfach zu oft erzählt. Inzwischen fantasierte sie entweder wild ins Blaue oder erinnerte sich an ein anderes Mädchen. Ich faltete die Karte in der Mitte und versuchte abzuschätzen, wie weit ich von der Ranch entfernt war. Wenn ich auf der Riverside weiter in südlicher Richtung fuhr und nach rechts abbog, käme ich auf eine Straße, die nach Südosten verlief und fast genau bei Gull Cove auf den Highway 101 stieß. Der Karte zufolge hieß die Straße Calle LeGrand und war vermutlich nach meinem Urgroßvater LeGrand benannt, dessen 9300 Hektar einen beträchtlichen Teil des Gebiets ausmachten. Gewundene, haarfeine blaue Linien standen für die Bäche, die das Land durchzogen.
Ich ließ den VW an und winkte Roxanne beim Wegfahren zu. Sie saß auf der Hängeschaukel, hielt eine frisch angesteckte Zigarette in der Hand und trank noch einen Schluck Bier.
Ich bog auf die Calle LeGrand ein und folgte ihr in südlicher Richtung durch weite, flache, goldene Hügel, die so grün wie Irland werden würden, wenn der Regen zurückkehrte. Dort, wo weit und breit keine Bebauung in Sicht war, hatte ich das Gefühl, als sähe ich alles mit den Augen der frühen Siedler, die die enormen Flächen an jungfräulichem Land bestaunt hatten, leer und still, bis auf das Kreischen der Vögel. Ich verfehlte die Abzweigung zur Ranch und musste wenden, als ich gemerkt hatte, dass ich schon zu weit gefahren war. Auf dem Rückweg sah ich die Seitenstraße, wo Stacey, Dolan und ich uns mit Arne Johanson getroffen hatten. Das Tor stand jetzt offen, und ein Staubschleier über der Schotterstraße ließ vermuten, dass kürzlich ein Fahrzeug vorbeigekommen war.
Ich fuhr langsam hinein und merkte, wie meine Aufmerksamkeit zu dem Abhang schweifte, wo die Leiche der Unbekannten gefunden worden war. Jetzt sah ich, dass ein Teil der Straße nach links abzweigte und in einer Sackgasse endete, und ich musste daran denken, dass beiläufig die Rede von einem VW-Bus gewesen war, der auf dem Wendeplatz geparkt hatte. Genau wie ein rotes Cabrio mit Nummernschildern aus einem anderen Bundesstaat. Der Name des Mannes, der das gemeldet hatte, fiel mir nicht auf Anhieb ein, aber die Aussage war vielleicht ein Nachhaken wert, wie es Johanson angeregt hatte. Vogel oder so ähnlich. Ich würde den Namen heraussuchen müssen. Langsam fuhr ich den Hügel hinauf und folgte der Route, die Johanson mit dem Jeep eingeschlagen hatte. Ich hoffte schwer, dass die Schilder, die unbefugtes Eindringen verboten, nicht für mich galten.
Das Haus kam in Sichtweite. Es wirkte wie aus einem alten Horrorfilm. Ich parkte in der Einfahrt und näherte mich ihm mit einer seltsamen Mischung aus Beklommenheit und Vorfreude. Kahle hölzerne Spaliere, die in regelmäßigen Abständen an den Verandapfosten angebracht waren, ließen darauf schließen, dass sich dort einst Rosen oder Trichterwinden hochgerankt hatten. Jetzt waren die Beete von Unkraut überwuchert. Ich stieg die Treppe zur Veranda hinauf, die erstaunlich stabil wirkte. Auch wenn das Haus jetzt eine Ruine war, war es doch ein solider Bau gewesen. Irgendwann hatte man einmal erwogen, das Haus in die Stadt zu versetzen und es als mögliche Touristenattraktion zu restaurieren. Ich konnte nachfühlen, dass die Stadt vor diesem Plan zurückschreckte. Selbst das Vorhaben, das Haus an Ort und Stelle zu renovieren, wäre ein teurer Spaß. Und wozu auch?
Ich probierte die Haustür und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass sie unverschlossen war. Ich stieß sie auf und ging hinein. Sofort überfiel mich der massive Geruch von Ruß und Moder. Die nächste halbe Stunde schritt ich von einem Stockwerk zum anderen, mitunter voller Ehrfurcht vor der immer noch spürbaren Vornehmheit. Hohe Decken, die weit ausschwingende Treppe in der Halle, der Marmor und das Mahagoni, die immer noch die Räume zierten. Eine große Spülküche ging in eine riesige Küche über, hinter der sich Dienstbotenräume anschlossen. Eine zweite Treppe führte von dort aus in den ersten Stock. Ich merkte, wie die Erinnerungen aufstiegen. Nebulöse Bilder, formlos und voller Schatten, bewegten sich am Rand meines Gesichtsfelds. Ich hörte Geräusche, Leute, die in einem anderen Zimmer redeten und lachten, ohne dass ich imstande gewesen wäre, die Worte auszumachen.
Ich stand in dem breiten Flur im ersten Stock, als ich hörte, wie jemand unten die Halle betrat. Vom Fuß der Treppe rief jemand: »Kinsey?«
Einen wundervollen Augenblick lang gehörte die Stimme meiner Mutter, und sie war aus dem Reich der Toten zurückgekehrt.