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Am Freitagmorgen wachte ich eine Minute vor sechs Uhr auf und stellte einen Augenblick, bevor der Radiowecker mit Musik losplärren sollte, die Alarmfunktion ab. Ich schaute zu dem Oberlicht über meinem Bett hinauf. Kein Regen. Mist. Ich hatte keine Lust auf Sport, doch ich schloss ein Abkommen mit mir selbst: Ich würde joggen, mir aber das Fitnessstudio sparen. Ich bückte mich, hob den Jogginganzug auf, den ich ordentlich auf den Boden gelegt hatte, und wand mich in Hose und Oberteil. Dann setzte ich mich auf, zog ein paar Frotteesocken an, steckte die Füße in die Sauconys und band mir den Schlüssel an die Schuhbänder, bevor ich mich vom Bett erhob. Wenn ich einfach gleich in Jogginganzug und Frotteesocken schliefe, würde ich eine Menge Zeit sparen. Dann müsste ich nämlich nur noch meine Laufschuhe anziehen, und schon könnte ich aufbrechen. Ich ging ins Badezimmer, benutzte die Toilette, putzte mir die Zähne, spritzte mir Wasser ins Gesicht und kämmte mir mit den nassen Händen die vom Schlaf erzeugten Gipfel und Täler aus den Haaren. Schließlich trottete ich die Wendeltreppe hinab, sicherte das Schnappschloss an der Haustür, zog es zu und ging dann um die Ecke herum zum Tor.

In der Umgebung herrschte Ruhe, und die Luft war feucht. Ich ging einen halben Häuserblock geradeaus und einen nach rechts und überquerte den Cabana Boulevard, wodurch ich auf den Fahrradweg am Strand gelangte. Ich begann zu joggen, obwohl ich mir schwerfällig vorkam und jeden Schritt und jeden Ruck spürte, der mir durch die Knochen fuhr. Laufen ist bei mir fast immer Ehrensache. Ich stehe auf und laufe – außer wenn es regnet, dann vergrabe ich mich wieder im Bett. Sonst schüttle ich an fünf Morgen die Woche den Schlaf ab und mache mich auf die Socken, bevor mir die Lust vergeht, da ich weiß, dass das, was ich zu Beginn eines Dauerlaufs spüre, verschwunden sein wird, wenn ich an seinem Ende angelangt bin. Auf das Fitnessstudio kann ich verzichten, obwohl ich in den vergangenen Monaten brav Krafttraining gemacht habe.

Der Sonnenaufgang hatte sich bereits mit einem überwältigenden Lichterspiel gezeigt und den Himmel in weitem und makellosem Blau hinterlassen. Die Brandung sah abschreckend aus, kalt und voller aufgewühltem, nassem Sand, was nur bei den Seelöwen Beifall fand, die vor der Küste herumlungerten und ihre Begeisterung kundtaten. Ich joggte zweieinhalb Kilometer bis zum Cabana Recreation Center, kehrte dort um und lief die zweieinhalb Kilometer zurück, an deren Ende ich zu raschem Gehen verlangsamte und mich wieder auf den Heimweg machte.

Ich hatte mich dagegen gewehrt, über die Ereignisse des Vortags nachzugrübeln, doch jetzt merkte ich, wie meine Gedanken abschweiften. Dolan und Stacey hatten beide bei dem Namen »Kinsey« aufgehorcht, sowie Johanson ihn erwähnt hatte, aber mein Gesichtsausdruck musste sie veranlasst haben, ihre Beobachtungen für sich zu behalten. Ich hatte wenig oder gar nichts gesagt, als der Vormann der Ranch uns die Scheune zeigte, die alten Obstgärten und das Gewächshaus, das fast ganz brachlag. Die meisten Glasscheiben waren noch intakt. Die Luft war feucht und roch nach Mulch, Torfmoos, Kompost und Lehm. In dieser beschützten Umgebung waren fremdländische Weinstöcke und opportunistische Schößlinge gediehen und hatten einen hoch aufragenden Dschungel gebildet, der auf allen Seiten gegen das Glas drückte und es zu durchbrechen drohte. Sobald wir diesen Raum betreten hatten, wusste ich, dass ich schon einmal da gewesen war. Die Cousinen, die ich bei Ermittlungen in einem früheren Fall kennen gelernt hatte, hatten geschworen, dass ich mit vier Jahren in Grands Haus gewesen war. Ich konnte mich nur äußerst vage daran erinnern, aber ich wusste, dass meine Eltern auch dabei gewesen sein mussten. Die drei – mein Vater, meine Mutter und ihre Schwester Virginia – waren aus der Familie ausgestoßen worden, nachdem meine Eltern durchgebrannt waren und geheiratet hatten. Mein Vater war ein fünfunddreißigjähriger Briefträger gewesen, meine Mutter, Rita Cynthia Kinsey, eine achtzehnjährige Debütantin, deren Mutter der Überzeugung war, dass sie für jemand Besseren bestimmt war als Randy Millhone. Stattdessen lief meine Mutter mit ihm davon und drehte dem gesamten Kinsey-Clan eine lange Nase. Virginia stellte sich auf die Seite des jungen Paares. Danach wurden sie alle drei ins Ewige Eis der Familie Kinsey verbannt.

Obwohl sie verstoßen waren, machten meine Eltern offenbar geheime Besuche auf der Ranch, wenn meine Großeltern verreist waren. Angeblich hatten zahlreiche Begegnungen mit den jüngeren Schwestern stattgefunden, aber ich wusste nur von zwei Gelegenheiten. Bei der ersten war ich von der Veranda gefallen und hatte mir das Knie aufgeschlagen. Ich konnte mich noch an den Anblick der Schramme mit ihren verschiedenfarbigen Streifen aus Schmutz und nach Eisen riechendem Blut erinnern. Außerdem erinnerte ich mich an den brennenden Schmerz, als meine Mutter mir die aufgeschürfte Stelle mit einem Wattebausch abtupfte, der auf meiner Haut zu zischen schien. Sie und ich wechselten uns darin ab, auf die Wunde zu blasen, und schnaubten und pusteten um die Wette, um die medizinische Tinktur zu trocknen und ihr Brennen zu lindern. Auf der einzigen anderen Fahrt nach Lompoc, an die ich mich erinnern konnte, kamen meine Eltern ums Leben, bevor wir dort eintrafen. Meine Großmutter wusste seit dem Tag meiner Geburt von meiner Existenz. Es tat mir immer noch weh, dass sie sich nie die Mühe gemacht hatte, Kontakt aufzunehmen.

Während wir mit Arne Johanson über das Anwesen spazierten, graute mir vor dem Gedanken, das Haus zu betreten, und ich hoffte, es vermeiden zu können, als ich merkte, dass Stacey auf einmal schwer atmete und sämtliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen war. Ich legte ihm eine Hand auf den Arm und rief: »Con?«

Dolan wandte sich um und sah her. Stacey schüttelte den Kopf und machte eine dieser Gesten, die bedeuten sollten, dass wir uns keine Sorgen um ihn zu machen bräuchten. Johanson war weitermarschiert und plapperte immer noch über die Ranch, als Dolan ihn einholte. »Mr. Johanson? Tut mir Leid, wenn ich Sie unterbreche, aber ich habe einen Termin in der Stadt, und wir müssen zurück.«

»Es dauert nicht lang. Sie wollen sich doch das Haus nicht entgehen lassen.«

»Vielleicht ein andermal. Wir verschieben es.«

»Tja. Das war’s dann wohl. Wie Sie wollen.«

Binnen Minuten hatte er uns an Dolans Wagen abgeliefert, und wir waren wieder auf dem Highway. Die Rückfahrt verlief in gedämpfter Stimmung. Stacey saß zusammengesunken auf der Rückbank, die rote Strickmütze heruntergezogen, um seine Augen zu beschirmen.

»Alles in Ordnung, Stace?«, fragte ich.

»Das Gehen hat mich geschafft. Wieder mein verfluchtes Kreuz. Es wird gleich besser.«Ohne die Lebhaftigkeit wirkte sein Gesicht alt.

Dolan verstellte den Rückspiegel und achtete mit einem Auge auf Stacey und mit dem anderen auf die Straße. »Ich hab doch gesagt, du sollst nicht mitkommen.«

»Hast du nicht. Du hast gesagt, die frische Luft würde mir gut tun. Du hast gesagt, ich soll alles mitnehmen, solange ich noch kann.«

»Ist Ihnen warm genug?«, erkundigte ich mich.

»Nur keine Sorge.«

Ich wandte mich Lieutenant Dolan zu. »Und was nun?«

Stacey antwortete, bevor Dolan dazu kam. »Wir treffen uns morgen früh bei mir. Ist zehn Uhr okay?«

»Passt mir prima«, antwortete ich.

Dolan sagte: »Klingt gut.«

Zuerst setzten wir Stacey ab. Er wohnte in der Nähe des Stadtzentrums von Santa Teresa, fünf Blocks von meinem Büro entfernt in einem kleinen, gemieteten pinkfarbenen Steinhaus, das über einer pinkfarbenen Betonmauer thronte. Dolan ließ mich im Wagen warten, während er Staceys Pistole aus dem Kofferraum holte und ihm die sechs Stufen zu dem Fußweg folgte, der das Grundstück umgab. Stacey musste sich mit aller Kraft an das Geländer klammern, um hinaufzukommen. Die beiden gingen nach hinten weiter und verschwanden aus meinem Blickfeld. Dolan blieb zehn Minuten weg, und als er zurückkam, wirkte er abwesend. Keiner von uns sagte während der Fahrt zu meiner Wohnung ein Wort. Den Rest des Donnerstagnachmittags verbrachte ich mit persönlichen Erledigungen.

Als ich mit Joggen fertig war, schlenderte ich zu meiner Wohnung zurück. An der Tür angelangt, nahm ich die Morgenzeitung und schloss auf. Ich warf den Dispatch auf den Küchentresen und setzte eine Kanne Kaffee auf. Sowie der Kaffee durch den Filter zu tröpfeln begann, stieg ich die Wendeltreppe hinauf, um mich zu duschen und anzuziehen.

Ich hatte meine Schüssel Cheerios am Tresen sitzend zur Hälfte aufgegessen, als das Telefon klingelte. Ich hasse Unterbrechungen beim Frühstück und war versucht, zu warten und den Anrufbeantworter übernehmen zu lassen. Stattdessen beugte ich mich hinüber und nahm den Hörer von dem an der Wand montierten Apparat. »Hallo?«

»Hallo Kinsey. Hier ist Tasha aus Lompoc. Wie geht’s?«

Ich schloss unwillkürlich die Augen. Es war eine meiner Cousinen, Tasha Howard, das einzige Familienmitglied, mit dem ich je ausführlicher zu tun hatte. Sie ist Nachlassanwältin und hat eine Kanzlei in Lompoc und eine in San Francisco.

Ein paar Jahre zuvor hatte ich ihre Schwester Liza kennen gelernt und bei unserem einzigen Gespräch bislang unausgelotete Tiefen der Verdrossenheit in meinem sonst ausgeglichenen Naturell entdeckt. Meine Reaktion war vermutlich nur eine Nebenwirkung davon, dass Liza mir Dinge erzählte, die ich nicht hören wollte. So berichtete sie mir zum Beispiel völlig unbeschwert, dass meine Mutter bei ihren Nichten und Neffen als Idol galt. Obwohl dies als Schmeichelei gemeint war, hatte ich das Gefühl, es entmenschliche die Frau, die ich nie richtig gekannt hatte. Mich ärgerten ihre älteren Ansprüche, genau wie die Tatsache, dass mein Kosename für unsere Tante Virginia, nämlich »Tante Gin«, ein Name war, der unter denselben Familienmitgliedern bereits weit verbreitet war. Genauso wie der Hang zu Erdnussbutter-Essiggurken-Sandwiches, den ich für ein geheimes Band zwischen meiner Mutter und mir gehalten hatte. Sicher, meine Reaktion war alles andere als rational, aber ich fühlte mich von den lockeren Geschichten, die Liza erzählte, einfach herabgesetzt.

Tasha war in Ordnung. Sie hatte mir einmal aus der Patsche geholfen und mich bei anderer Gelegenheit für einen Fall engagiert. Der war zwar nicht gut ausgegangen, aber das war nicht ihre Schuld.

Verzögert antwortete ich: »Gut. Und dir?« Wir führen immer Gespräche, die sich anhören, als würden sie durch transatlantische Störungen unterbrochen.

»Alles bestens, danke. Hör mal, voraussichtlich kommen meine Mutter und ich zum Einkaufen in deine Gegend, und wir wollten dich fragen, ob du Zeit hättest. Wir könnten zusammen Mittag essen, wenn du Lust hast, oder uns vielleicht später am Nachmittag auf einen Drink treffen.«

»Heute? Ah. Nett, dass du fragst, aber ich habe gerade mit der Arbeit an einem neuen Fall begonnen und bin den ganzen Tag beschäftigt. Vielleicht ein andermal.« Ich hoffte, ich klang nicht so unehrlich, wie ich mir vorkam.

»Muss ja ziemlich viel los sein zurzeit.«

»Entweder zu viel oder zu wenig«, erwiderte ich. »So läuft der Hase eben.« Ich versuchte wirklich mein Bestes, mich ihr gegenüber nicht gereizt zu zeigen. Selbst bei den kürzesten Gesprächen schafften wir es meistens, uns über verwandtschaftliche Verhältnisse in die Haare zu geraten. Sie wünscht sich eine engere Bindung, ich dagegen überhaupt keine.

»Ich nehme an, du hättest in jedem Fall abgelehnt.«

»Aber nein.« Ich ließ das Schweigen im Raum stehen.

Wir atmeten uns gegenseitig in die Ohren, bis sie sagte: »Also. Meine Mutter ist am Dienstag wieder unten. Sie möchte dich wirklich gern sprechen. Hast du noch das Büro an der Capillo?«

»Nein. Ich habe einen Bungalow an der Caballeria gemietet. Ich bin erst vor zwei Monaten eingezogen.«

»Ich sag’s ihr.«

»Gut. Das ist schön. Kein Problem.«

»Nimm’s mir nicht übel, aber ich hoffe, du bist höflich zu ihr.«

»Mann, Tasha, ich werde schon versuchen, mich zu benehmen. Aber es wird mir natürlich schwer fallen.«

Ich hörte das Schmunzeln in ihrer Stimme. »Halt mir wenigstens meine Hartnäckigkeit zugute.«

»Okay. Hab’s registriert. Du kriegst Pluspunkte dafür.«

»Du brauchst nicht so sarkastisch zu sein.«

»Das ist nur mein trockener Humor.«

»Warum musst du ein solches Ekel sein? Könntest du nicht versuchen, mir auf halbem Weg entgegenzukommen?«

»Ich weiß nicht, warum du mich unbedingt verfolgen musst.«

»Aus demselben Grund, aus dem du mich unbedingt zurückstoßen musst. Eigensinn liegt in der Familie.«

»Da hast du allerdings Recht. Es ärgert mich immer noch tierisch, dass Grand sich einbildet, sie hätte meine Eltern wie Dreck behandeln und dann Jahre später angetanzt kommen können, als hätte sich alles in Luft aufgelöst.«

»Was hat denn das mit uns zu tun? Pam, Liza und ich haben weder deinen Eltern noch Tante Gin irgendwas angetan. Warum werden wir für Grand verantwortlich gemacht? Ja, sie hat sich übel verhalten. Ja, sie ist ein Giftzahn, aber was soll’s? Vielleicht haben es ihr deine Mutter und Tante Gin mit gleicher Münze heimgezahlt. Als deine Eltern umgekommen sind, waren wir noch Kinder. Wir wussten nicht, was los war, und du auch nicht. Es kommt mir lächerlich vor, diesen Groll aufrechtzuerhalten. Zu welchem Zweck denn? Wir sind Verwandte. Du gehörst zu uns, ob es dir passt oder nicht.«

»Bis jetzt bin ich sehr gut ohne Verwandte zurechtgekommen. Warum kannst du das Thema nicht sein lassen und einfach weiterleben?«

»Warum kannst du es nicht?«Sie hielt inne und musste wohl um Beherrschung ringen. »Tut mir Leid. Versuchen wir’s noch mal. Ich verstehe nicht, warum wir jedes Mal, wenn ich anrufe, zu streiten anfangen müssen.«

»Wir fangen nicht jedes Mal zu streiten an.«

»Doch.«

»Nein!«

»Nenn mir ein Gespräch, bei dem wir uns nicht gestritten haben.«

»Ich kann dir drei nennen. Du hast mir einen Auftrag gegeben. An diesem Tag haben wir zusammen zu Mittag gegessen und sind bestens ausgekommen. Seitdem haben wir zwei- oder dreimal telefoniert, ohne uns anzugiften.«

»Stimmt«, sagte sie zögerlich, »aber mir ist ständig dieser Groll bewusst, der direkt unter der Oberfläche brodelt.«

»Na und? Pass auf, Tasha, vielleicht finden wir ja mit der Zeit eine Möglichkeit, unsere Differenzen beizulegen. Bis dahin bringt es uns aber nicht weiter, wenn wir uns darüber streiten, ob wir uns streiten oder nicht. Ich behaupte nicht, dass ich rational wäre. Ich hab eben ’ne Meise. Warum lässt du es nicht dabei bewenden?«

»Okay. Genug geredet. Wir wollten dir nur sagen, dass wir immer noch Interesse haben. Wir hatten gehofft, dein gestriger Besuch auf der Ranch würde einen Ansatzpunkt bedeuten.«

»Ach, das. Woher weißt du davon?«

»Arne Johanson hat Pam angerufen. Er meinte, er hätte eine Frau gesehen, die deiner Mutter dermaßen ähnlich sah, dass er eine Gänsehaut bekommen hat. Es hat mich erstaunt, dass du überhaupt einen Fuß auf die Familienranch setzt.«

»Das hätte ich auch nicht, wenn ich es gewusst hätte.«

»Oh, das kann ich mir denken.«

»Abgesehen davon ist mir durchaus klar, was es dich kostet, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Ich will eigentlich gar nicht so feindselig sein.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

»Ähm, Tasha? Das war keine Entschuldigung.«

»Vergiss es. Schon kapiert. Mein Fehler«, sagte sie. »Aber ich bin eben Anwältin. Ich habe tagaus, tagein mit Feindseligkeit zu tun.«

»Ich dachte, du machst Nachlassverwaltung. Wie kann irgendjemand bei etwas feindselig werden, was derart langweilig klingt?«

»Hast du eine Ahnung. Immer wenn es um Geld geht, muss man damit rechnen, dass die Leute bösartig werden. Niemand will übers Sterben reden, und niemand will die Kontrolle über das Familienvermögen aufgeben. Und bei den Begünstigten schwingen meistens die Ansprüche mit«, erklärte sie und zögerte dann. »Zu einem ganz ähnlichen Thema – du hast wahrscheinlich gehört, dass man davon spricht, die Manse abzureißen.«

»Die ›Manse‹? Nennt man das Haus so? Ich dachte, das hätte was mit Presbyterianern zu tun.«

»Hat es auch. Unser Ur-Ur-Großvater Straith war Presbyterianer-Prediger. Damals hatte die Kirche nicht das Geld, ein Pfarrhaus zu bauen, also hat er es selbst finanziert. Ich glaube, er hatte vor, es nach seinem Tod der Kirche zu vermachen, doch die kühleren Köpfe haben gesiegt. Auf jeden Fall ist das Haus völlig heruntergekommen. In diesem Zustand kommt es billiger, es abzureißen.«

»Ich nehme an, Grand hat keine Lust, das Geld auszuspucken, um es wieder so herzurichten, wie es früher war.«

»Genau. Sie hat versucht, die Unterstützung verschiedener Gruppen zu bekommen, die sich für die Erhaltung historischer Gebäude einsetzen, aber niemand zeigt Interesse. Das Grundstück ist total abgelegen, und das Haus selbst ist nicht stilecht. Es ist nicht einmal ein gutes Beispiel für seine Art.«

»Warum lässt man nicht einfach alles, wie es ist? Das Land gehört doch ihr, oder?«

»Noch gehört es ihr, aber sie ist neunzig Jahre alt und weiß, dass keiner ihrer Erben das Geld oder den Elan aufbringt, die Arbeit auf sich zu nehmen. Außerdem hat sie noch ein Haus in der Stadt. Sie braucht ja wohl keine zwei.«

»Das stimmt. Jetzt fällt es mir wieder ein. Liza hat mir erzählt, dass der größte Teil der Familie nur ein paar Blocks von ihr entfernt wohnt.«

»Wir sind ein kuscheliger Haufen«, sagte sie trocken. »Inzwischen schnüffeln alle möglichen Interessenten dort herum. In erster Linie lokale Weinbauern, die ein Auge auf die Hänge geworfen haben. Es hat sich herausgestellt, dass der Boden ideal ist. Außerdem gibt es dort jede Menge Küstennebel, was eine längere Vegetationsperiode bedeutet.«

»Wie viel Grund hat sie denn?«

»Gut 9300 Hektar.«

Es herrschte Schweigen, während ich zu verarbeiten suchte, was sie gerade gesagt hatte. »Das soll wohl ein Witz sein.«

»Nein, ganz im Ernst.«

»Davon hatte ich keine Ahnung.«

»Momentan spielt das sowieso keine Rolle, weil sie es niemals verkaufen wird. Unser Urgroßvater hat ihr das Versprechen abgenommen, dass sie es so lässt, wie es ist. Die Angelegenheit wird erst heikel, wenn sie nicht mehr ist.«

»Hat sie denn den Nachlass nicht in einer Art Treuhandvermögen angelegt?«

»Nein. Die meisten der alten Treuhandvermögen sind in den Dreißigerjahren eingerichtet worden – von Leuten an der Ostküste, die schon seit Generationen Reichtum in der Familie hatten. Bei uns hier gab’s nur Rancher, bodenständige Leute, die eher dazu neigten, Kommanditgesellschaften in der Familie zu gründen. Auf jeden Fall wird nichts passieren, solange sie lebt«, schloss sie. »Und falls du dir das mit dem Drink anders überlegst, sag mir einfach Bescheid. Hast du meine Nummer noch?«

»Ich schreibe sie mir lieber noch mal auf.«

Als ich aufgelegt hatte, musste ich mich setzen und mir aufs Brustbein klopfen. Gegen Ende hatte ich doch tatsächlich ein paar warme Gefühle für sie entwickelt. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich die Frau am Ende noch gern haben, und wo stünde ich dann?

Auf dem Weg zu Stacey fuhr ich kurz beim Büro vorbei, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Ich machte kurz ein Fenster auf, um ein bisschen frische Luft hereinzulassen, und sah nach, ob auf dem Anrufbeantworter neue Nachrichten waren. Nachdem ich ein paar Routinearbeiten erledigt hatte, schloss ich wieder hinter mir ab. Ich ließ den Wagen stehen und ging die fünf Blocks zu Staceys Haus zu Fuß, wo ich noch vor Con Dolan eintraf. Stacey hatte die Haustür unversperrt und das Fliegengitter offen gelassen. Ich klopfte an den Türrahmen. »Hey, Stacey? Ich bin’s. Darf ich reinkommen?«

Er antwortete mit einem dumpfen »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«

Ich trat ein und schloss die Fliegentür hinter mir. Die Böden waren nackt, und an den Fenstern hingen weder Vorhänge noch Gardinen, daher schien bereits meine bloße Anwesenheit ein Echo zu erzeugen. Ich roch, dass gerade Kaffee gekocht wurde, doch ansonsten wirkte das Haus unbewohnt. Der Raum war kahl, als zöge gerade jemand ein oder aus und wäre nicht ganz fertig geworden. Die Wohnfläche des Hauses konnte kaum mehr als fünfundsiebzig Quadratmeter betragen, und das meiste davon war von meinem Standort aus zu überblicken. Das Innere war unterteilt in Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer und Bad, obwohl die Tür zu Letzterem geschlossen war. Der Fußboden bestand aus Linoleum und hatte ein Muster aus miteinander verbundenen Quadraten und Rechtecken in Blau auf Grau mit einem schmalen mauvefarbenen Streifen in den Zwischenräumen. Die Balken hatten dunkle Flecken, und die Tapete an den Wänden war vergilbt. An manchen Stellen konnte ich Risse sehen, die den Blick auf drei Generationen von Wandverkleidung freigaben: eine Blümchentapete, darüber eine Lage Nadelstreifentapete, die wiederum von üppigen Bouquets verblichener Zentifolien überdeckt wurde.

Unter den Fenstern zu meiner Rechten lag eine ordentlich als Bett hergerichtete Matratze. Ein Fernseher stand daneben auf dem Fußboden. Zu meiner Linken sah ich einen Schreibtisch aus Eichenholz und einen Drehstuhl. Viel mehr gab es nicht. Sechs identische Pappkartons waren an der Wand gegenüber aufgestapelt. Jeder von ihnen war mit Klebeband verschlossen und trug ein handgeschriebenes Etikett, das den Inhalt auflistete. Eine Tür des Wandschranks stand offen, und ich sah, dass er bis auf zwei Kleiderbügel leer war.

Auf Zehenspitzen schlich ich zur Küchentür und spähte hinein. Um einen kleinen Holztisch gruppierten sich vier nicht zusammenpassende Stühle. Ein Pyrex-Kaffeebereiter stand auf dem Herd, unter ihm eine kleine Gasflamme. Das durchsichtige Glas zeigte ein Gebräu, das so dunkel war wie Bitterschokolade. Die Türen zu sämtlichen Küchenschränken standen offen, und viele Regalbretter waren leer. Stacey war offensichtlich gerade dabei, Gläser und Geschirr in Kisten zu packen. Ein dicker Packen Seidenpapier lag auf der Arbeitsfläche, breite Bogen, die bestimmt neunzig auf eins zwanzig maßen. Es war nicht zu übersehen, dass er seinen Haushalt auflöste und seine Besitztümer zusammenpackte, um sie an einen unbekannten Ort zu expedieren.

»Wenn Sie irgendwas sehen, was Ihnen gefällt, nehmen Sie’s mit. Ich kann das Zeug nicht brauchen«, sagte Stacey auf einmal hinter mir.

Ich wandte mich um. »Was macht Ihr Kreuz?«

Er verzog das Gesicht. »So lala. Ich habe ein paar Tylenol genommen, die helfen.«

»Sie waren ganz schön fleißig. Ziehen Sie um?«

»Nicht direkt. Sagen wir mal, ich gehe vielleicht weg, und darauf will ich vorbereitet sein.« Heute hatte er eine dunkelblaue Strickmütze auf. Mit seinen gebleichten Brauen und dem langen, verwitterten Gesicht sah er aus wie ein Farmer, der auf einem brachliegenden Feld steht. Er trug eine weiche Stone-washed-Jeans, ein hellblaues Sweatshirt und braune Lammfellstiefel.

»Gehört Ihnen das Haus?«

»Gemietet. Ich wohne schon seit Jahren hier.«

»Sie haben alles geordnet.«

»Langsam wird’s. Ich will kein Chaos hinterlassen, das hinterher jemand anders aufräumen muss. Con kümmert sich dann drum.« Der unausgesprochene Zusatz wenn ich tot bin stand zwischen uns im Raum.

»Con hat mir erzählt, Sie wollen neue Medikamente ausprobieren.«

Stacey zuckte mit den Schultern. »Klinische Versuche. Ein experimenteller Cocktail, der für Leute gedacht ist, die nichts mehr zu verlieren haben. Die Prozentzahlen sind nicht gut, aber ich hab mir gedacht, Mann, was soll’s, womöglich hilft’s ja irgendjemand anders. Manche überleben. Das ist eben Statistik. Ich finde es nur einfach dämlich, mir einzubilden, dass ich dazugehören würde.«

Con Dolan klopfte an der Haustür, trat unaufgefordert ein und stand eine Sekunde später in der Küchentür. Er hielt eine große, braune Einkaufstüte in der einen Hand und eine kleinere weiße Tüte in der anderen. »Na, was treibt ihr beiden?«

Stacey schob die Hände in die Hosentaschen und zuckte lässig mit den Schultern. »Wir überlegen gerade, ob wir zusammen durchbrennen sollen. Sie ist für San Francisco, damit wir über die Golden Gate Bridge fahren können. Ich hätte mehr Lust auf Vegas und barbusige Tänzerinnen. Wir wollten gerade eine Münze werfen, als du reingekommen bist.« Stacey wandte sich zum Herd und fragte mich über die Schulter: »Möchten Sie Kaffee? Milch hab ich keine.«

»Schwarz ist mir recht.«

»Con?«

Dolan hielt die weiße Tüte, die voller Fettflecken war, in die Höhe. »Doughnuts.«

»Feine Sache«, sagte Stacey. »Wir setzen uns ins Wohnzimmer und bereden alles.«

Con ging mit seinen zwei Tüten ins Wohnzimmer, während Stacey irgendwo einen Turm ineinander steckender Styroporbecher ausgrub und in drei davon Kaffee goss. Er trat noch einmal an die Arbeitsfläche und nahm den Stapel Seidenpapier und einen dicken Filzstift. »Schnappen Sie sich bitte die Papierhandtücher. Mir sind die Servietten ausgegangen, und die einzige Sorte, die ich gesehen habe, waren diese Sparpackungen. Vierhundert Stück auf einmal. Es ist ein Witz. Und wenn Sie schon dabei sind, können Sie auch noch das Paketband mitnehmen.«

Ich nahm die Rolle Klebeband und meine Kaffeetasse, während Dolan noch mal zurückkam und zwei Küchenstühle holte. Dann tauchte er ein weiteres Mal auf und schnappte sich die restlichen zwei Becher mit Kaffee, um sie auf den Wohnzimmertisch zu stellen. Er fasste in die größere der beiden Tüten und zog drei große schwarze Aktenordner mit Dreifachlochung heraus. »Ich bin in den Copy-Shop gegangen und habe für jeden von uns eine gemacht. Mordakten«, erklärte er und verteilte sie. Ich musste an meine Anfänge in der Grundschule zurückdenken. Das Einzige, was mir daran gefallen hat, war Schreibwaren kaufen: Hefter, liniertes Papier, die Füller- und Bleistift-Sets.

Stacey klebte zwei Bogen sauberes Seidenpapier an die Wand, faltete eine Landkarte von Kalifornien auseinander und befestigte sie daneben. Er hatte etwas von einem geborenen Lehrer. Dolan und ich nahmen uns jeder einen Doughnut und zogen unsere Stühle heran. Stacey sagte: »Ich ergreife mal die Initiative, falls niemand was dagegen hat.«

Con erwiderte: »Spar dir die Bescheidenheit und schieß los.«

»Okay. Skizzieren wir erst mal, was wir wissen. Dann sehen wir, wo die Lücken sind. Wahrscheinlich glaubt ihr jetzt, wir haben mehr Lücken als Fakten dazwischen, aber schauen wir uns einfach mal an, was da ist.« Er zog die Kappe von dem schwarzen Filzstift und schrieb das Wort »Opfer« oben auf das eine und das Wort »Mörder« oben auf das andere Blatt. »Wir fangen mit der Unbekannten an.«

Ich holte ein frisches Päckchen Karteikarten aus meiner Umhängetasche, riss das Zellophan auf und begann mir Notizen zu machen.

Totenstille

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