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ОглавлениеDen frühen Nachmittag verbrachte ich in meinen neuen Büroräumen und hackte auf meiner tragbaren Smith-Corona herum. Ich tippte zwei überfällige Berichte, machte die Ablage, schrieb Rechnungen und räumte den Schreibtisch auf. Um drei begann ich mit den unbezahlten Rechnungen, und um fünf nach halb vier stellte ich den letzten Scheck aus. Ich steckte ihn in den Rückumschlag und leckte den Kleberand derart unvorsichtig ab, dass ich mir fast in die Zunge geschnitten hätte. Als das erledigt war, ging ich in den vorderen Raum und stellte sämtliche unausgepackten Kisten in den Wandschrank. Es geht doch nichts über ein bisschen Motivation, um den Hintern hochzukriegen.
Mein Abendessen bestand aus einem Sandwich mit Erdnussbutter und Essiggurken, begleitet von einem Pepsi light auf Eis. Ich aß in meinem winzigen Wohnzimmer, gemütlich aufs Sofa gekuschelt, das in der Fensternische steht. Statt Geschirr benutzte ich ein zusammengefaltetes Stück Küchenkrepp, das sich nach Beendigung der Mahlzeit prima zum Mundabwischen verwenden ließ. Da der Frühling nahte, war es noch nicht ganz dunkel. Die Luft war immer noch kühl, vor allem nach Sonnenuntergang. Durch das einen Spaltbreit geöffnete Fenster konnte ich von weiter weg einen Rasenmäher und gelegentliche Gesprächsfetzen von Passanten hören. Ich wohne einen Block vom Strand in einer Seitenstraße, die zusätzliche Parkplätze bietet, wenn es am Cabana Boulevard zu voll wird.
Ich lümmelte mich bequem auf die Polster und legte die besockten Füße auf den Couchtisch, während ich mich an die Arbeit machte. Zuerst blätterte ich die Akte nur rasch durch, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Ein Detective namens Brad Crouse war Leiter der Ermittlungen in dem Fall. Die anderen Ermittlungsbeamten neben Stacey Oliphant waren Detective Keith Baldwin, Sergeant Oscar Wallen, Sergeant Melvin Galloway und Deputy Joe Mandel. Eine große Besetzung. Crouse hatte den größten Teil der Berichte verfasst und mehrere Durchschläge angefertigt, die Stacey offenbar aus der alten Mordakte kopiert hatte. Angesichts der vielen Durchstreichungen musste ich vermuten, dass Detective Crouse in seinem Schreibmaschinenkurs nicht der Beste gewesen war. Wenn ich das Ohr an die Seite hielt, könnte ich womöglich den missmutigen Widerhall seiner in die getippten Zeilen eingebetteten, lange verklungenen Flüche hören.
Es ist seltsam, alte Akten durchzublättern – wie wenn man einen Krimi liest, dessen Ausgang man sich selbst verdirbt, indem man verfrüht auf die letzte Seite späht. Das letzte Dokument, ein Brief von einem Bodenexperten aus San Pedro, Kalifornien, stammte vom 28. September 1971 und führte aus, dass es unmöglich sei, die vom Sheriffbüro Santa Teresa County eingereichte Probe von Proben zu unterscheiden, die von ähnlichen Ablagerungen in anderen Gegenden Kaliforniens stammten. Hochachtungsvoll. Mit Bedauern. Ende der Fahnenstange für dich, Kumpel. Ich wandte mich wieder dem Anfang zu und begann erneut zu lesen. Diesmal machte ich mir Notizen.
Laut dem ersten Beamten am Fundort war die Leiche des Mädchens über die Kante eines Erdwalls gerollt worden und etwa viereinhalb Meter weiter unten zum Stillstand gekommen, ungefähr fünfzehn Meter von der Landstraße entfernt. Con Dolan und Stacey Oliphant hatten sie an jenem Sonntag gegen fünf Uhr nachmittags gefunden – beziehungsweise gegen 17.00 Uhr, wenn man es offiziell formulieren will, wie es der Bericht tat. Sie lag auf der linken Seite auf einer zerknitterten Plane aus Segeltuch, die Hände vor dem Körper mit einem Stück weißem, plastikbezogenem Kabel gefesselt. Sie trug eine dunkelblaue Dacron-Bluse und eine weißgrundige Baumwollhose mit einem Muster aus dunkelblauen Margeriten mit einem roten Tupfen in der Mitte. Am rechten Fuß hatte sie eine lederne Sandale; die zweite fand man in einem Gebüsch in der Nähe. Spuren auf der Erde ließen vermuten, dass sie über das Gras am Straßenrand herübergezerrt worden war. Selbst vom oberen Ende des Abhangs konnten Dolan und Oliphant zahlreiche Stichwunden in ihrem Brustkorb erkennen. Außerdem war klar zu sehen, dass man ihr die Kehle durchgeschnitten hatte.
Oliphant hatte sofort über Funk die Polizei in Lompoc gerufen. Da der Fundort in diesem Landkreis lag, wurden zwei Dienst habende Vertreter des Sheriffs dorthin beordert. Hilfssheriff Joe Mandel und Sergeant Melvin Galloway trafen zwanzig Minuten nach dem Anruf dort ein. Die Tote sowie die Umgebung des Fundorts wurden fotografiert. Dann wurde der Leichnam in eine Leichenhalle nach Lompoc gebracht, wo er auf den Leichenbeschauer wartete. In der Zwischenzeit suchten die Beamten die Umgebung ab, nahmen Bodenproben und packten die Plane mitsamt dem abgebrochenen Zweig eines Strauchs sowie zwei Stücke aus dem Stamm des Strauchs ein, an denen Blutflecken zu kleben schienen.
Am Dienstag, dem 5. August 1969, kehrten Mandel und Galloway an den Leichenfundort zurück, um Messungen vorzunehmen – die Distanz von der Landstraße zu der Stelle, wo man die Tote gefunden hatte, die Breite des Asphaltbelags sowie die Position der zweiten Sandale. Sergeant Galloway machte weitere Bilder von den verschiedenen Stellen, die den Abhang, die beschädigten Sträucher sowie die Schleifspuren zeigten. Es waren keine Zeichnungen vom Fundort dabei, aber vielleicht waren die im Lauf der Jahre irgendwie vom Rest der Akte getrennt worden.
Ich nahm mir kurz Zeit, um die Fotos durchzusehen. Es waren wenige, und sie gaben erstaunlich wenig her: acht Schwarz-Weiß-Abzüge, darunter einer von der Straße, einer von einem Beamten, der auf einen beschädigten Strauch zeigt, einer von dem Abhang, wo die Leiche gefunden worden war, und vier von der Leiche selbst aus einer Distanz von viereinhalb Metern. Es gab keine Nahaufnahmen vom Gesicht der Unbekannten, keine Bilder von ihren Wunden oder dem verknoteten Kabel, mit dem ihre Hände gefesselt waren. Man konnte die Plane unter ihr erkennen, doch war schwer zu beurteilen, wie viel von ihrem Körper, wenn überhaupt etwas, davon bedeckt war. Da haben sich die Zeiten geändert. Heutzutage verlangen die Modalitäten fünfzig solcher Fotos mitsamt einem Video und einer detaillierten Zeichnung des Fundorts. Im selben Umschlag fand ich weitere fünf Fotos in verblichenen Farben, die die Sandalen des Mädchens, ihre Hose, die Bluse, den BH und den Slip zeigten, ausgebreitet auf etwas, das aussah wie ein Bogen weißes Papier.
Die Autopsie war am 4. August 1969 um 10 Uhr 30 durchgeführt worden. Ich blinzelte, zog Schlussfolgerungen, spekulierte und kämpfte mich irgendwie durch den Bericht, wobei ich genug von dem Fachjargon entschlüsseln konnte, um zu verstehen, was gemeint war. Da die Leiche schon in einen fortgeschrittenen Verwesungszustand übergegangen war, waren sämtliche Maße Schätzungen. Die Größe des Mädchens wurde auf eins sechzig bis eins fünfundsechzig und ihr Gewicht auf vierundfünfzig bis siebenundfünfzig Kilo geschätzt. Ihre Augen waren blau, die Haare rotblond gefärbt, wiesen aber dunkle Ansätze auf. Im linken Ohr trug sie einen dünnen Goldring in Hufeisenform. Im rechten Ohr hatte sie einen ähnlichen Goldring mit einer verbogenen Klammer am unteren Ende. Ihre Gesichtszüge waren infolge von Hautablösung, Gasbildung und Verwesung nicht zu erkennen. Die Untersuchung der Leiche ergab acht tiefe Stichwunden in der Mitte des Rückens unterhalb der Schulterblätter, zwei Stichwunden auf beiden Seiten des Halsansatzes, fünf Stichwunden zwischen ihren Brüsten und eine große Stichwunde unter der linken Brust, die das Herz durchbohrt hatte. Es hatten sich bereits zahlreiche Maden eingenistet. Aufgrund der Verwesung konnte der Pathologe nicht feststellen, ob Narben oder unverwechselbare Kennzeichen vorhanden waren. Sie hatte weder Brüche oder Verformungen am Knochenapparat noch sichtbare Verletzungen an den äußeren Genitalien. Ihre Eileiter und Eierstöcke waren ohne Befund und ihre Gebärmutter leer. Als Todesursache wurden mehrere Stichwunden in Hals, Brustkorb, Herz und Lunge angegeben.
Zum Abschluss seiner Untersuchung entfernte der Pathologe der Unbekannten die Finger, deren Nägel silbern lackiert waren. Sie wurden von einem Beamten mit einem Etikett versehen und an die Identifizierungsabteilung des FBI in Washington, D. C., weitergeleitet. Aufnahmen ihres Ober- und Unterkiefers zeigten zahlreiche Reparaturen mithilfe von Metall. Außerdem hatte sie vorstehende Zähne sowie einen krummen Eckzahn auf der linken Seite. Ein später zu Rate gezogener Zahnarzt mutmaßte, dass die umfassenden Zahnreparaturen wahrscheinlich in den zwei Jahren vor ihrem Tod gemacht worden waren – also zwischen 1967 und 1968. Er schätzte sie auf knapp unter bis knapp über zwanzig. Ein Zahnspezialist der Gerichtsmedizin, der Ober- und Unterkiefer zu einem späteren Zeitpunkt untersucht hatte, legte das Alter des Mädchens auf fünfzehn Jahre plus minus sechsunddreißig Monate fest und merkte an, dass sie vermutlich umgekommen war, bevor sie mit achtzehn volljährig geworden wäre.
Am Mittwoch, dem 6. August, übergab Sergeant Galloway dem für die Asservatenkammer verantwortlichen Beamten folgende Kleidungs- und Beweisstücke:
1 eine marineblaue, hüftlange Bluse mit Puffärmeln aus Dacron-Voile – Hersteller unbekannt – mit Blutflecken.
2 eine selbst genähte weiße Damenhose mit blauen Blumen mit roten Tupfen in der Mitte – Größe unbekannt.
3 einen Bikini-Slip, pinkfarben, Größe M, Marke Penney’s.
4 einen schwarzen BH Größe 85A, Marke Lady Suzanne.
5 ein Paar braune, lederne Damensandalen mit Schnallen und vier Messinggliedern an Lederriemen. Größe 38. Mit Goldaufdruck »MADE IN ITALY« auf der Decksohle.
6 eine verschmutzte Plane aus Segeltuch mit Blut und verschiedenen anderen Flecken.
Die Ohrringe des toten Mädchens, eine abgeschnittene Haarsträhne und das mit Plastik bezogene Kabel, das man ihr von den Handgelenken gewickelt hatte, wurden ebenfalls als Beweismaterialien aufbewahrt.
Das Sheriffbüro musste die grundlegenden Angaben über die Tote an andere Polizeidienststellen geschickt haben, da eine Reihe nachfolgender Berichte in den nächsten Wochen alle möglichen Vermissten erwähnte, von denen man glaubte, dass sie der Beschreibung der Unbekannten entsprächen. Drei gestohlene Autos wurden in der Gegend aufgefunden, wobei in einem verschiedene weibliche Kleidungsstücke auf dem Rücksitz lagen. Handschriftlichen Anmerkungen zufolge, die später hinzugefügt worden waren, erwies sich dies als irrelevant für den vorliegenden Fall. Das zweite Fahrzeug, ein rotes Mustang-Cabrio Baujahr 1966 mit Kennzeichen aus Arizona, das von einer Autosattlerei in Quorum, Kalifornien, als gestohlen gemeldet worden war, wurde anschließend seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben. Der dritte gestohlene Wagen, ein roter Chevrolet Baujahr 1967, wurde mit einem Mord in Venice, Kalifornien, in Verbindung gebracht. Der Fahrer wurde unverzüglich verhaftet und später wegen dieses Mordes verurteilt.
Ein Landstreicher wurde aufgegriffen und verhört, aber wieder frei gelassen. Es gab auch einen Bericht über einen fünfundzwanzigjährigen Angestellten, der mit 46 Dollar und 35 Cent durchgebrannt war, die er einem Tankstellenbesitzer bei Seagate gestohlen hatte. Der Aufseher einer öffentlichen Strandanlage in der Nähe wurde angesprochen und befragt, ob ihm irgendwelche Personen in der Umgebung aufgefallen seien, doch wusste er nichts Außergewöhnliches zu berichten. Unabhängig voneinander wurden drei Tramper aufgegriffen und verhört, aber keiner von ihnen wurde inhaftiert. Das alles spielte sich im Sommer 1969 ab, als ein ständiger Strom von Hippies auf dieser Route nach Norden zog. Hippies wurden gemeinhin mit Argwohn betrachtet, da man vermutete, dass sie alle high waren, was vermutlich zutraf.
Um 10 Uhr 30 am 6. August 1969 verhörte Detective Crouse eine Angestellte namens Roxanne Faught, die in einem kleinen Lebensmittelladen am Highway 101 arbeitete. Sie hatte sich beim Sheriffbüro gemeldet, nachdem sie in der Zeitung von dem Mord gelesen hatte, und berichtet, dass sie am Freitag, dem 1. August, ein Mädchen gesehen habe, auf das die Beschreibung der Unbekannten passte. Miss Faught sagte aus, dass sich das Mädchen Kaffee und einen Doughnut genommen habe, aber nicht dafür bezahlen konnte. Faught hatte die Sachen dann aus ihrer eigenen Tasche bezahlt, weshalb ihr der Vorfall im Gedächtnis geblieben war. Zuvor hatte sie gesehen, wie dasselbe Mädchen versucht hatte, in Richtung Norden zu trampen, allerdings war sie verschwunden, als Faught um drei Uhr nachmittags zu arbeiten aufhörte. Das Mädchen im Laden hatte weder Gepäck noch Geldbörse oder Handtasche bei sich gehabt. Mehrere weitere Personen hatten sich mit Hinweisen bei der Polizei gemeldet, aber keiner davon führte zu etwas.
Als die Tage ins Land zogen, kamen immer wieder Anrufe, in denen von Fahrzeugen verschiedenster Marken, Bauart und Beschreibung berichtet wurde, die sowohl vor als auch nach Entdeckung der Leiche in der Nähe des Steinbruchs gesehen worden waren. Wie bei allen Ermittlungen förderten die Nachforschungen in Bezug auf das Verbrechen eine Reihe geringfügigerer Vergehen zutage-Landstreicherei, widerrechtliches Eindringen, öffentliche Trunkenheit, Kleindiebstahl –, die sich allesamt als irrelevant für den Fall erwiesen. Es war nicht zu übersehen, dass viele Einheimische bemüht waren, sich an seltsame und ungewöhnliche Vorfälle zu erinnern, die in den Wochen vor dem Mord geschehen waren. Es war ja durchaus denkbar, dass einer dieser Berichte einen ausschlaggebenden Hinweis auf das Mädchen enthielt, das ermordet worden war, oder auch auf die Person oder die Personen, die sie umgebracht hatten.
Jedem Anruf, jeder Anfrage aus einem anderen Bundesstaat und jedem Gerücht wurde gewissenhaft nachgegangen. Am Ende jedes Berichts war eine Liste angehängt, auf der die Namen, Adressen und Telefonnummern der befragten Personen standen. Die Geschäftsführer der JCPenney-Läden in Lompoc und Santa Teresa wurden hinsichtlich der Kleidungsstücke mit dem Penney’s-Etikett befragt, doch kam lediglich heraus, dass die Artikel in jeder Filiale der Kette erhältlich waren. Schließlich blieb das Mädchen unidentifiziert, und als der Herbst in den Winter überging, kamen immer weniger neue Hinweise. Die verfleckte Plane hatte keinerlei Etiketten. Das mit Plastik überzogene Kabel wurde zur Untersuchung ins kriminalwissenschaftliche Labor geschickt. Das Labor kam zu dem Schluss, dass ein derartiges Kabel »am gebräuchlichsten bei niedriger Spannung und Stromstärke ist, wo wenig oder gar keine Belastung auf das Kabelstück ausgeübt wird und höchster Schutz vor Abschürfungen und Feuchtigkeit erforderlich ist, vielleicht in einem Autolichtsystem oder einer kleinen Niedervolt-Beleuchtungsanlage«. Gegen Dezember 1970 waren die Abstände zwischen den Berichten länger geworden, und neue Informationen trafen nur noch ganz vereinzelt ein.
Stacey hatte in den folgenden Jahren verschiedentlich an dem Fall gearbeitet. Er hatte die Zeugenliste bereinigt, und es sah danach aus, als hätte er die Zeugen in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit angeordnet, zumindest aus seiner Sicht. Viele waren gestrichen worden, weil die Angaben, die sie gemacht hatten, zu vage oder ihre Mutmaßungen zu weit hergeholt waren. Manchmal ging aus späteren Akteneinträgen hervor, dass ihre Fragen und Befürchtungen nichts mit den Ermittlungen zu tun hatten. Stacey war jedem Anruf nachgegangen, in dem von einem vermissten Mädchen die Rede war. In einem Fall passten die zahnärztlichen Unterlagen nicht zu der Unbekannten. In einem anderen berichtete die Polizei dem Sheriffbüro, dass das Mädchen eine chronische Ausreißerin war und nach wenigen Tagen wieder zu Hause eingetroffen war. In einem dritten Fall rief die Mutter des Mädchens an und erklärte den ermittelnden Beamten, dass ihre Tochter lebte und unversehrt war. Stacey hatte sogar bei den in den Berichten vermerkten Telefonnummern angerufen, da er hoffte, so mit Personen in Kontakt zu kommen, deren Angaben anscheinend etwas mit dem Fall zu tun hatten, doch viele Nummern waren abgemeldet oder von anderen Teilnehmern übernommen worden. Als ich beim letzten Bericht angelangt war, ging ich alles noch einmal von vorne durch und übertrug die wichtigen Daten auf einen Stapel leerer Karteikarten, indem ich die Fakten aus der Erzählform herauslöste und zu separaten Informationseinheiten machte, die ich später analsysieren würde.
Als ich die Akte schließlich zuschlug und auf die Uhr sah, war es erst Viertel nach sieben – noch früh genug, um Dolan im CC’s zu erwischen. Ich zog Schuhe an, schnappte mir Jacke und Umhängetasche und ging zum Auto hinaus.
Das Caliente Café – auch CC’s genannt – ist eine Nachbarschaftskneipe, die eine umfangreiche Speisekarte aus amerikanischen Gerichten mit spanischen Beinamen zu bieten hat. Das Essen sollte vermutlich einen Versuch der Geschäftsleitung darstellen, die Gäste nüchtern genug zu halten, dass sie nach Hause fahren konnten, ohne wegen Trunkenheit am Steuer belangt zu werden. Das umliegende Grundstück hatte sich seit meinem letzten Besuch vor zwei Jahren verändert. Das Lokal ist in einer ehemaligen Tankstelle untergebracht. Die Zapfsäulen und die unterirdischen Benzintanks waren beim Umbau zwar entfernt worden, doch hatte man den kontaminierten Boden einfach nur mit einer neuen Asphaltschicht überzogen, damit die restliche Fläche als Gästeparkplatz genutzt werden konnte. Mit der Zeit begannen sich die Nachbarn über die giftigen Sickerstoffe zu beschweren, die aus der Erde aufstiegen – ein chemischer Sirup, der so stark war, dass er einem die Schuhsohlen dunkel färbte. In der drückenden Sommerhitze wurde der Asphalt weich und begann wie Oolongtee zu riechen – beziehungsweise wie schwelende Reifen. Im Winter warf sich der Boden auf, bekam Buckel und Risse, und darunter kam eine mehlige Substanz zum Vorschein, die derart beißend war, dass man davon Nasenbluten bekam. Streunende Katzen verfielen beim Kontakt damit in heftige Hustenanfälle. Ausgebüxte Hunde begannen plötzlich im Kreis herumzutorkeln, als hätten sie neurologische Ausfallserscheinungen. Natürlich hatte der Besitzer des Geländes kein Interesse daran, die Hunderttausende von Dollars lockerzumachen, die nötig gewesen wären, um diesen Höllenschlund von vergiftetetem Erdreich auszubaggern, doch schließlich war die Umweltschutzbehörde eingeschritten, und nun war der Parkplatz aufgerissen worden, damit man versuchen konnte, den gesamten kontaminierten Boden abzutragen. Dabei hatte man zahlreiche Artefakte der Chumash-Indianer gefunden, und plötzlich war das Gelände zum Zankapfel zwischen verschiedenen Parteien geworden: dem Stamm, dem Grundstücksbesitzer, der Stadt und den Archäologen. Diese Streitigkeiten nahmen derartig komplexe Ausmaße an, dass nicht mehr zu überblicken war, wer auf wessen Seite stand.
Es war ein Beleg für die Loyalität der Gäste, dass sie monatelang weiter über diesen übel riechenden Boden getrottet waren, Umwege und Unannehmlichkeiten erduldet sowie Mahnwachen, offizielle Warnschilder, Protestplakate, giftige Dämpfe, verklebte Schuhe und gelegentliche Stürze über sich hatten ergehen lassen, nur um zu ihrem täglichen Drink zu kommen. Der Parkplatz war jetzt eingezäunt, und der Zugang zur Eingangstür bestand aus einem schmalen Plankenweg, der die ganze Strecke überbrückte. Als ich mich der Kneipe näherte, fühlte ich mich wie eine Turnerin, die auf dem Schwebebalken einem schlecht koordinierten Absprung entgegen eiert.
Das rote Neonschild über dem Eingang zischte und knisterte immer noch wie ein Anti-Mücken-Licht im Garten, und die Luft, die herauswaberte, roch nach Zigarettenrauch und im Fett von letzter Woche frittierten Mais-Tortillas. Ein kreischendes Duett zweier Mixermotoren wurde vom Kastagnettenklang klirrender Eiswürfel begleitet, die mit Tequila und Margarita-Mixtur verquirlt wurden. Das Caliente Café macht jeden Morgen um sechs Uhr auf und schließt erst gegen zwei Uhr nachts. Ein weiterer seiner Vorzüge besteht darin, dass es knapp jenseits der Stadtgrenze liegt und daher für Polizisten, die ihren Dienst hinter sich haben und am Ende eines harten Tages – oder nach dem Mittagessen oder Frühstück – Entspannung brauchen, ein stets erreichbares Refugium abgibt.
Ich muss gestehen, dass ich, als ich über die Schwelle trat, hoffte, Cheney Phillips zu begegnen, einem Polizisten vom Drogendezernat Santa Teresa. Zwar war aus unserer langen Bekanntschaft nie eine Affäre geworden – zum Beispiel weil er eine Freundin hatte – , aber man konnte ja immer hoffen. Gerüchten zufolge hatten sich die beiden getrennt, also dachte ich mir, es könne nicht schaden, mich mal sehen zu lassen.
Angefacht wurde mein Interesse zum Teil dadurch, dass ich seit Monaten nichts mehr von Robert Dietz gehört hatte. Er ist Privatdetektiv im Halb-Ruhestand und hat 1983 als mein Bodyguard fungiert, als ein Billigkiller auf mich angesetzt worden war. Seitdem ist unsere Beziehung gleichermaßen intensiv wie sporadisch, mit langen, unerklärlichen Intervallen zwischen den einzelnen Besuchen. Erst vor zwei Wochen hatte ich ihn in Carson City, Nevada, angerufen und eine Nachricht auf seinem Band hinterlassen. Bislang hatte er sich nicht dazu aufgerafft, mich zurückzurufen, was bedeutete, dass er entweder verreist war oder sich eine andere angelacht hatte. Obwohl ich tierisch auf Dietz stand, hatte ich ihn nie als meinen Verehrer, meinen festen Freund, meinen Lebensgefährten oder meine Beziehung (was auch immer das heißen mag) gesehen. Ja, sicher, Dietz und ich hatten im Laufe der letzten vier Jahre einiges miteinander angestellt, aber es gab keinerlei Verpflichtungen zwischen uns und weder er noch ich hatten dem anderen irgendetwas versprochen. Natürlich kränkte mich sein Schweigen ein wenig, aber es war genauso meine eigene Schuld.
Dolan saß an der Bar. Er trug eine abgewetzte Bomberjacke aus braunem Leder. Ich blieb kurz stehen, um die Gäste zu mustern und sah, wie sein Blick in meine Richtung wanderte. Dolan war schon so lange Polizist, dass er seine Umgebung zwangsläufig im Auge behielt und permanent Gesichter taxierte, während er darauf hoffte, eines zu entdecken, das zu einem der Verbrecherfotos passte, die über seinen Schreibtisch gewandert waren. Ob er im Dienst ist oder nicht – kein Polizist kann sich der Wunschvorstellung entziehen, ganz unversehens einen Kriminellen dingfest zu machen.
Dolan hob die Hand zum Gruß, und ich steuerte auf ihn zu, indem ich mich durch die Leute schlängelte, die auf einen Tisch warteten. Die Barhocker links und rechts von ihm waren besetzt, aber er warf den Männern einen scharfen Blick zu, sodass einer aufstand und mir seinen Platz anbot. Ich legte meine Tasche zu meinen Füßen ab und erklomm den Hocker neben Dolan. Der vor ihm stehende Aschenbecher war voller Kippen, und es bedurfte keiner meiner hoch entwickelten detektivischen Fähigkeiten, um abzuzählen, wie viele Zigaretten er geraucht hatte, einschließlich der, die er sich gerade an der noch brennenden anzündete. Er trank Old Forrester und roch wie ein Englischer Gewürzkuchen ohne die getrockneten Maraschino-Kirschen. Außerdem futterte er einen Teller Frittiertes: ausgebackene Jalapeño-Chilis mit einer Füllung aus geschmolzenem Käse. Ich würde mir verkneifen, ihn auf seine hartnäckigen Ernährungsirrtümer hinzuweisen. Es gibt nichts Ätzenderes als jemanden, der uns auf unsere offenkundigen Fehler aufmerksam macht.
»Ich dachte, ich begegne hier vielleicht Cheney Phillips«, sagte ich. »Haben Sie ihn gesehen?«
»Ich glaube, er ist gerade auf Flitterwochen in Vegas.«
»Flitterwochen? Ich dachte, die beiden hätten sich getrennt.«
»Er hat jetzt eine andere, ein Mädchen, das er vor fünf oder sechs Wochen hier kennen gelernt hat.«
»Das soll wohl ein Witz sein.«
»Leider nein. Vergessen Sie ihn lieber. Er ist sowieso nicht Ihr Typ.«
»Ich habe keinen speziellen Typ. Natürlich habe ich auch keinen Freund, aber das tut nichts zur Sache.«
»Nehmen Sie sich einen Happen.«
»Danke.« Ich nahm eine frittierte Chilischote und biss hinein. Zuerst nahm ich den herausspritzenden geschmolzenen Käse wahr, bevor die Schärfe des Jalapeños meine Zunge in Brand steckte. Die Jukebox dröhnte los, und ich spähte nach hinten, als die ersten Klänge einer Country-Western-Melodie durch den Raum tanzten. Die Wurlitzer war uralt, ein massiges, rundliches Teil mit einem sich drehenden Regenbogen in allen Schattierungen, an dessen Rand Blasen aufstiegen.
Ich wandte mich wieder Dolan zu und versuchte zu ergründen, wie viel er getrunken hatte. Er lallte zwar nicht, aber vermutlich war er von seinem gewohnten Alkoholkonsum derart abgehärtet, dass er nicht einmal dann Anzeichen von Betrunkenheit erkennen lassen würde, wenn er vom Hocker fiel. Ich wusste auch nicht, ob er seit Mittag konstant weitergetrunken hatte oder zwischendurch auf ein Nickerchen nach Hause gegangen war. Ein Blick auf die Uhr sagte mir zwar, dass es erst fünf nach halb acht war, aber er konnte ja schon seit vier Uhr nachmittags hier sitzen. Ich freute mich nicht darauf, mit ihm zusammenzuarbeiten, wenn er Tag für Tag blau war. Seine ständige Raucherei behagte mir auch nicht, aber ich konnte nichts dagegen tun, also war es besser, wenn ich mich so wenig wie möglich dazu äußerte. »Wie geht’s Stacey? Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«
»Ich habe ihn um sechs angerufen und ihm gesagt, dass wir ihn besuchen kommen. Er hat es satt, an sich herumpiken und -bohren zu lassen und will nur noch raus. Ich schätze, sie entlassen ihn morgen, wenn die Untersuchungsergebnisse da sind.«
»Haben Sie ihm von Ihrer Idee erzählt?«
»Kurz. Ich habe ihm gesagt, dass wir ihn instruieren, wenn wir bei ihm sind. Was halten Sie von dem Fall?«
»Ich bin ganz begeistert von den Unterlagen. Normalerweise bekomme ich nämlich keine Gelegenheit, Polizeiberichte direkt einzusehen.«
»Das Verfahren hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht groß geändert. Nur dass wir es jetzt besser handhaben – gründlicher und systematischer; außerdem haben wir neue Technologien, die uns helfen.«
Der Barmann kam zu uns herüber. »Was darf ich Ihnen bringen?«
»Nichts, danke«, antwortete ich.
Dolan hob sein Whiskeyglas, um ihm zu bedeuten, dass er ihm nachschenken solle.
»Wollten wir nicht Stacey besuchen?«
»Jetzt gleich?«
»Na ja, es ist doch sinnlos, sich in die Sache zu vertiefen, wenn er nicht dafür zu haben ist.«
Ich sah Dolan an, dass er sein Verlangen nach dem nächsten Whiskey gegen die Sorge um seinen Freund abwog. Er schob sein Glas zurück, zog die Brieftasche hervor und nahm eine Hand voll Scheine heraus, die er auf den Tresen warf. »Bis später.«
Ich packte meine Tasche und folgte ihm zur Tür hinaus.
»Wir nehmen meinen Wagen«, erklärte er.
»Und wenn Sie länger bleiben wollen als ich? Dann sitze ich fest. Nehmen wir lieber beide Autos, und ich fahre hinter Ihnen her. Dann kann ich mich jederzeit verdrücken.«
Wir debattierten noch ein Weilchen, doch schließlich willigte er ein. Ich hatte einen halben Block entfernt geparkt, doch er wartete brav und und fuhr erst auf die Straße hinaus, als ich links von ihm auftauchte. Er chauffierte erstaunlich zurückhaltend, als wir mit unserer Kleinstkolonne die 101 entlangfuhren. Falls er angehalten und zum Blasen gebeten würde, läge er mit Sicherheit deutlich über der gesetzlichen Promillegrenze. Ich hielt mit einem Auge Ausschau nach Cops und hätte dabei fast vergessen, dass Dolan selbst einer war.
Beim St. Terry’s angelangt, fanden wir nur durch zwei Autos voneinander getrennt Parkplätze am Rand der Castle Street. Es war jetzt völlig dunkel, und das Krankenhaus war erleuchtet wie ein Luxushotel. Wir betraten es durch den Hintereingang und fuhren mit dem Aufzug bis 6 Central, zur Onkologischen Station. Die Lichter waren gedämpft, und der Teppichboden auf dem breiten Flur schluckte das Geräusch unserer Schritte. Drei unbenutzte Infusionsständer und zwei Blutdruckmonitore standen neben einem Wäschekarren und einem vom Abendessen übrig gebliebenen Essenswagen mit mehreren Etagen an der Wand. Ich sah ein paar Besucher, doch fehlte der lebhafte Austausch zwischen Patienten und Angehörigen. Genesen ist anstrengend, und niemand will Energie für oberflächliche Konversation verschwenden. Als wir am Schwesternzimmer vorbeigingen, nickte Dolan der Frau am Schreibtisch kurz zu.
Stacey lag in einem Einzelzimmer, das auf eine kaum beleuchtete Wohnstraße hinausging. Er schien zu schlafen, und das Kopfteil seines Betts war im Fünfundvierzig-Grad-Winkel hochgestellt. Unter seiner eng anliegenden roten Strickmütze sahen dünne Strähnen rötlichen Haares hervor. Zwei Genesungskarten standen auf dem breiten Fensterbrett, doch sonst war nichts Persönliches zu entdecken. Der Fernseher war dunkel. Auf seinem fahrbaren Nachttisch lagen ein Zeitschriftenstapel und ein Pappbecher mit schmelzendem Eis.
Dolan blieb in der Tür stehen. Staceys Augen öffneten sich. Er winkte und richtete sich dann im Bett auf. »Habt ihr’s also geschafft«, sagte er und dann zu mir: »Sie müssen Kinsey sein. Schön, Sie kennen zu lernen.« Ich beugte mich vor und schüttelte ihm die Hand. Sein Händedruck war kraftvoll und heiß, fast als verliefe sein Stoffwechsel mit doppeltem Tempo.
Während Dolan sich darum kümmerte, aus entgegengesetzten Ecken des Raums Stühle herbeizuschaffen, sagte ich: »Ich glaube, Sie kannten die Leute, die mich ausgebildet haben – Morley Shine und Ben Byrd.«
»Die kannte ich gut. Beides prima Männer. Ich fand es sehr bedauerlich, als ich von dem Mord an Morley erfahren habe. Eine ganz üble Geschichte. Setzen Sie sich doch.«
»Danke.«
Dolan hielt mir den einen Stuhl hin und nahm selbst den anderen. Während die beiden plauderten, musterte ich Stacey. Er hatte kleine, sanfte blaue Augen, blasse Brauen und ein langes Gesicht mit tiefen Falten. Seine Gesichtsfarbe war okay, allerdings hatte er sich wohl seit Tagen nicht rasiert. Er schien guter Laune zu sein und sprach mit der Vitalität eines aktiven Mannes.
Nach ein paar einleitenden Sätzen kam Dolan auf die Ermittlungen im Fall der Unbekannten zu sprechen. »Ich habe Kinsey die Akte zum Lesen gegeben. Wir finden, wir sollten mal darüber sprechen, wie wir das Ganze anpacken. Bleibt der Doc dabei, dich morgen rauszulassen?«
»Sieht so aus.«
Die beiden plauderten über den Fall, während ich den Mund hielt. Ich weiß nicht, warum ich erwartet hatte, dass Stacey Einwände gegen Dolans Vorschlag anbringen würde, aber er schien überhaupt nichts dagegen zu haben, dass wir den Fall wieder aufleben ließen. Er sagte zu Dolan: »Apropos – Frankie Miracle ist rausgekommen. Sein Bewährungshelfer Dench Smallwood hat mich angerufen und mir gesagt, dass Frankie eine Wohnung in der Stadt gefunden hat. Mittlerweile hat er vermutlich auch einen legalen Arbeitsplatz.«
»Das wäre ja das erste Mal.«
»Was hat denn Frankie Miracle damit zu tun?«, erkundigte ich mich. »An den Namen kann ich mich aus der Akte erinnern.«
Dolan antwortete: »Man hat ihn am ersten August in Lompoc festgenommen, zwei Tage, bevor die Leiche der Unbekannten gefunden wurde. Wir haben immer für möglich gehalten, dass er der Täter war, auch wenn er es bestritten hat.«
Nun ergriff Stacey das Wort. »Am neunundzwanzigsten Juli hat er im Methedrin-Rausch seine Freundin umgebracht. Er hat x-mal auf die Frau eingestochen, sich dann ihr Auto und alle ihre Kreditkarten geschnappt und ist in Richtung Norden aufgebrochen. Sie wurde ein paar Tage später gefunden, als die Nachbarn sich über den Geruch beschwert haben.«
»Der Blödmann hat jedes Mal beim Tanken die Kreditkartenbelege mit ihrem Namen unterschrieben«, fuhr Dolan fort. »Eigentlich sollte man meinen, dass irgendwem eine ›Cathy Lee Pearse‹ ohne Busen, dafür aber mit Schnauzer und Zweitagebart auffällt.« Er setzte sich erst anders hin und stand dann auf. »Seht mal zu, dass ihr zwei euch kennen lernt. Ich muss mal rausgehen und eine rauchen.«
Als Dolan weg war, fragte ich: »Haben Sie eine Theorie, warum die Unbekannte nie identifiziert worden ist?«
»Nein. Wir hatten erwartet, dass es ganz schnell geht, dass jemand sie anhand der Beschreibung in der Presse erkennt. Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist, dass sie nie als vermisst gemeldet wurde. Oder dass die Vermisstenanzeige auf dem Schreibtisch irgendeines Polizisten im Papierkrieg verloren ging. Vermutlich gibt es eine Erklärung dafür, aber wer weiß schon, was für eine? Mittlerweile ist unwahrscheinlich, dass wir je herausfinden, wer sie ermordet hat, aber es ist immer noch denkbar, dass wir sie identifizieren und ihren Angehörigen übergeben können.«
»Wie gut stehen die Chancen?«
»Nicht so schlecht, wie Sie vielleicht glauben. Wenn erst einmal genug Zeit verstrichen ist, reden die Leute bereitwilliger. Vielleicht packen wir jemanden bei seinem schlechten Gewissen und bekommen so eine Spur.« Er zögerte und strich die Kanten seiner Bettdecke glatt. »Wissen Sie, Cons Frau, Gracie, ist vor einer Weile gestorben.«
»Das hat er erwähnt.«
»Es hat ihn seinerzeit hart getroffen, aber langsam ging es wieder ein bisschen aufwärts mit ihm. Seit er wegen dieser Herzgeschichte außer Dienst ist, ist er allerdings trübsinnig geworden. Solange Gracie noch gelebt hat, hat sie ihn irgendwie aufrecht gehalten, aber jetzt ist seine Raucherei und Sauferei außer Kontrolle geraten. Ich versuche schon ewig, mir etwas einfallen zu lassen, was ihn wieder auf Kurs bringt, also habe ich mich auf diese Geschichte gestürzt, sowie sie zur Sprache gekommen ist.«
»Sie meinen das mit der Unbekannten?«
»Genau. Es hat mich gefreut, als Sie eingewilligt haben mitzumachen. Das muntert ihn bestimmt auf. Er braucht dringend etwas zu tun.«
Ich lächelte verhalten und horchte auf Spuren von Ironie in seinem Tonfall. Offensichtlich war ihm nicht klar, dass Dolan genau die gleichen Befürchtungen in Bezug auf ihn geäußert hatte.
Als Dolan zurückkehrte, blieb er stehen und schaute erwartungsvoll von mir zu Stacey. »Na, wie sieht der Schlachtplan aus? Habt ihr zwei alles ausgetüftelt?«
»Darüber haben wir gerade gesprochen. Kinsey will den Fundort sehen, bevor wir weitere Schritte unternehmen.«
»Genau«, sagte ich.
»Gut«, meinte Dolan. »Dann organisiere ich das für morgen.«