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Es war ein Mittwoch in der zweiten Aprilwoche, und Santa Teresa stellte sich hemmungslos zur Schau. Die üppige Flora des Winters mit ihrem Überfluss an magenta- und lachsfarbenen Bougainvilleen war erneut zu einem bunten Blütenmeer aus Krokussen, Hyazinthen und blühenden Pflaumenbäumen angeschwollen. Der Himmel zeigte sich in einem sanften Blau, und die Luft war mild und duftete. Veilchen tupften den Rasen. Ich hatte es satt, meine Tage abgeschottet im Stadtarchiv zu verbringen und Übertragungsurkunden oder Unterlagen über Steuerpfandrechte für Klienten zu suchen, die unterdessen garantiert fröhlich Tennis oder Golf spielten oder anderen Freizeitvergnügungen nachgingen.

Vermutlich litt ich an einer neuartigen, vielleicht sogar unheilbaren Form von Frühjahrsmüdigkeit, die sich darin äußerte, dass ich mich angeödet, unruhig und vom Rest der Menschheit wie abgeschnitten fühlte. Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich bin Privatdetektivin und lebe. in Santa Teresa, hundertfünfzig Kilometer nördlich von Los Angeles. Am fünften Mai, also in vier Wochen, würde ich siebenunddreißig Jahre alt werden, ein Ereignis, das vermutlich zu meinem allgemeinen Unbehagen beitrug. Ich führe ein aufs Nötigste beschränktes Leben, unbelastet von Kindern, Haustieren oder echten Zierpflanzen.

Am 15. Februar, erst vor zwei Monaten, hatte ich ein neues Büro bezogen, nachdem ich meine Verbindung zur Anwaltskanzlei Kingman und Ives gelöst hatte. Lonnie Kingman hatte ein Haus an der unteren State Street gekauft, und obwohl er angeboten hatte, mich mitzunehmen, hatte ich das Gefühl gehabt, dass es an der Zeit war, mich unabhängig zu machen.

Das war mein erster Fehler.

Mein zweiter Fehler war eine unselige Begegnung mit zwei Vermietern, die nicht ganz koscher gewesen waren, wodurch ich erneut auf der Straße stand.

Mein dritter Irrtum in Sachen Büro war derjenige, mit dem ich nun konfrontiert war. In meiner Ratlosigkeit hatte ich Räume in einem nichts sagenden Häuschen an der Caballeria Lane gemietet, wo ein paar identische Steinbungalows am Straßenrand aufgereiht standen wie die drei kleinen Schweinchen. Der Häuserblock – kurz, schmal und von Autos gesäumt – lag zwischen der Santa Teresa und der Arbor Street, einen Block nördlich der Via Madrina, also mitten im Stadtzentrum. Obwohl der Preis stimmte und die Lage hervorragend war – einen Katzensprung von dem Gerichtsgebäude, dem Polizeirevier und der Stadtbibliothek entfernt –, blieb das Büro selbst in betrüblicher Weise hinter meinem Ideal zurück.

Das Objekt bestand aus zwei Räumen. Den größeren hatte ich als mein eigentliches Büro vorgesehen; den kleineren nutzte ich als eine Kombination aus Bibliothek und Empfangsbereich. Dazu kam noch eine kombüsenartige Küche, in der ich einen kleinen Kühlschrank, meine Kaffeemaschine und den Trinkwasserspender stehen hatte. Außerdem gab es ein kleines, muffiges Kabuff mit einer trostlos aussehenden Toilette und einem Waschbecken. Dort drinnen roch es nach Moder, und ich vermutete, dass nachts, wenn alle Lichter aus waren, winzige Tierchen um die Fußleisten herumwuselten. Zum Ausgleich hatte mir der Hausbesitzer eine unbegrenzte Menge von Dosen mit Billigfarbe angeboten, und so hatte ich den größten Teil der Woche damit zugebracht, mehrere Schichten weiße Latexfarbe über das vorherige schreiende Pink zu streichen, einen Farbton, der mich an pulsierende innere Organe erinnert hatte. Außerdem hatte er eingewilligt, die Teppiche reinigen zu lassen – nicht, dass man danach einen Unterschied gemerkt hätte. Der beige Nylonteppichboden aus Hoch-Tief-Schlingenware war vom langen Gebrauch verfilzt und schien geradezu Verzweiflung auszudünsten. Ich hatte den Schreibtisch, den Drehstuhl, die Aktenschränke, das Sofa und das Sortiment an künstlichen Pflanzen wieder und wieder umgestellt, doch nichts konnte die umfassende Ausstrahlung von Trostlosigkeit vertreiben, die die Räume befallen hatte. Ich hatte genug Geld auf dem Sparbuch (fünfundzwanzigtausend Dollar, falls es jemanden was angeht), also hätte ich mich theoretisch nach einem wesentlich schickeren Büro umsehen können. Andererseits waren die Räume für dreihundertfünfzig im Monat bezahlbar und kamen einem meiner Lebensgrundsätze entgegen, nämlich niemals, niemals, niemals über meine Verhältnisse zu leben. Ich will nicht gezwungen sein, Aufträge anzunehmen, um meine laufenden Kosten decken zu können. Das Büro soll ja mir dienen, nicht umgekehrt.

Da die Bungalows rechts und links von mir leer standen, fühlte ich mich isoliert, was meine jüngst aufgekommene Ambivalenz angesichts meines Singledaseins in einer Welt von Ehepaaren hätte erklären können. Abgesehen von zwei kurzen, gescheiterten Ehen war ich den größten Teil meines Lebens ungebunden gewesen. Das hatte mich noch nie gestört. Meistens genoss ich meine Freiheit, meine Mobilität und das Alleinsein. Doch in letzter Zeit hatten sich die Umstände dazu verschworen, mich aus meiner gewohnten Zufriedenheit zu reißen.

Ein paar Tage zuvor war ich meiner Freundin Vera mit ihrem Mann (Dr.) Neil Hess begegnet. Ich war am späten Nachmittag gerade auf dem Fahrradweg am Strand entlanggejoggt, als ich sie vor mir dahinschlendern sah. Vera war früher bei der California Fidelity angestellt gewesen, bei der auch ich gearbeitet hatte. Sie hatte Neil kennen gelernt, war zu dem Schluss gekommen, dass er zu klein für sie sei, und hatte versucht, ihn mir aufzudrängen. Ich wusste auf den ersten Blick, dass die beiden schwer ineinander verknallt waren, und trotz aller Proteste hatte ich sie davon überzeugt, dass er der ideale Partner für sie war, was sich als zutreffend erwiesen hatte. An diesem Nachmittag befanden sich die beiden in Begleitung ihres achtzehn Monate alten Sohns im Kinderwagen und eines grinsenden Golden-Retriever-Welpen, der herumhüpfte wie ein Gummiball und an seiner Leine zerrte. Vera – massig, unbeweglich, milchig und heiter – war eindeutig schon wieder schwanger und stand offenbar nur wenige Tage vor der Niederkunft, nach ihrem geschwollenen Leib zu urteilen. Wir blieben stehen, um ein bisschen zu plaudern, und mir wurde klar, dass sich mein Leben in den dreieinhalb Jahren, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, nicht im Geringsten verändert hatte. Dieselbe Wohnung, dasselbe Auto, derselbe Beruf und derselbe abwesende Freund in einer Beziehung, die zu nichts führte. Die Erkenntnis löste nagende Reuegefühle in mir aus.

Gleichzeitig befand sich Henry, mein geliebter Vermieter, in Begleitung seiner Geschwister und seiner Schwägerin Rosie, der das Restaurant einen halben Block von meiner Wohnung gehört, auf einer Karibik-Kreuzfahrt. Ich hatte seinen Briefkasten geleert und einmal die Woche seine Topfpflanzen sowie alle zwei Tage seinen Garten gegossen. Rosies Restaurant würde noch weitere fünf Tage geschlossen bleiben, also konnte ich, bis die drei wieder zu Hause waren, nicht einmal in vertrauter Umgebung zu Abend essen. Ich weiß, das alles klingt leicht nach Gejammer, aber ich fühle mich moralisch verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.

An diesem Mittwochmorgen kam ich zu dem Schluss, dass es meine Stimmung massiv heben würde, wenn ich das Selbstmitleid ablegte und mein Büro auf Vordermann brachte. Also war ich in einen Trödelladen gegangen und hatte noch zwei (gebrauchte) Aktenschränke, ein hohes hölzernes Regal mit vielen Fächern und einen tollen bemalten Schrank für meine Sammlung von Büromaterialien gekauft. Umringt von Kisten, die ich nicht mehr ausgepackt hatte, seit ich vor dreieinhalb Jahren in Lonnies Büro eingezogen war, kauerte ich auf einem niedrigen Hocker. Das Gefühl erinnerte mich ein bisschen an Weihnachten, da ich Sachen entdeckte, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass ich sie besaß.

Ich war gerade auf dem Grund von Kiste Nummer drei (von insgesamt acht) angelangt, als es an der Tür klopfte. »Ich bin hier!«, brüllte ich. Als ich mich umwandte, stand Lieutenant Dolan auf der Schwelle, die Hände in den Taschen seines braunen Regenmantels vergraben.

»Hey, was machen Sie denn hier? Wir haben uns ja Monate nicht gesehen.« Ich richtete mich auf und wischte mir die Hand hinten an der Jeans ab, bevor ich sie ihm entgegenstreckte.

Sein Händedruck war fest und warm und sein Lächeln fast verlegen, da er sich ebenso freute, mich zu sehen, wie ich mich freute, ihn zu sehen. »Im Gericht ist mir Lonnie über den Weg gelaufen. Er hat mir erzählt, dass Sie das Büro hier gemietet haben, also wollte ich mal vorbeischauen.«

»Freut mich. Nett, dass Sie mich besuchen.«

»Sie richten sich also gerade ein.«

»Wird langsam Zeit. Ich bin am fünfzehnten Februar eingezogen und habe noch nichts auf die Reihe gekriegt.«

»Ich habe gehört, die Geschäfte sollen schlecht gehen.«

»Das stimmt – zumindest was die Aufträge angeht, die mir gefallen.«

Ich sah Con Dolan dabei zu, wie er eine Runde durch den Raum drehte. Er schien sich unbehaglich zu fühlen und kaschierte seine Unsicherheit, indem er einen endlosen Strom von Smalltalk von sich gab. Er faselte über Lonnie, das Wetter und diverse andere Themen, während ich Antworten darauf gab, von denen ich hoffte, dass sie angemessen waren. Ich hatte keine Ahnung, was er wollte, aber ich nahm an, dass er zu gegebener Zeit darauf zu sprechen kommen würde. Er war noch nie der Typ gewesen, der einfach unangemeldet hereinplatzt. Ich kannte ihn seit zehn Jahren, in denen er die meiste Zeit Chef des Morddezernats der Polizei von Santa Teresa gewesen war. Momentan war er krankheitsbedingt außer Dienst, nachdem ihn mehrere Herzinfarkte außer Gefecht gesetzt hatten. Ich hatte gehört, dass er unbedingt wieder Vollzeit arbeiten wollte. Den Gerüchten zufolge lagen seine Chancen dafür zwischen minimal und null.

Er blieb stehen, um den zweiten Raum zu inspizieren, spähte in die Toilette und kam dann wieder auf mich zu. »Lonnie hat gesagt, Sie wären nicht gerade begeistert von den Räumen hier. Das kann ich nachfühlen. Sie sind trist.«

»Ja, nicht? Es ist mir ein Rätsel, warum. Ich weiß, dass etwas fehlt, aber ich komme einfach nicht dahinter, was.«

»Sie brauchen Bilder.«

»Glauben Sie?« Ich ließ den Blick die kahlen Wände entlangschweifen.

»Klar. Besorgen Sie sich ein paar große Reiseplakate und dazu doppelseitiges Klebeband. Das peppt die Räume sofort auf. Und wenn das nichts nützt, könnten Sie wenigstens mal die künstlichen Pflanzen abstauben.«

Er war Anfang sechzig, und seine Herzprobleme hatten seine Gesichtsfarbe fahl werden lassen. Die altbekannten Ringe unter seinen Augen waren dunkelgrau angelaufen, sodass sein gesamtes Gesicht aussah, als sei es in zirkulierender Düsternis versunken. Offenbar nutzte er die Zeit seiner Abwesenheit vom Revier, um sich nur jeden zweiten Tag zu rasieren, und heute war keiner davon. Sein Gesicht war schon in den besten Zeiten leicht pausbackig gewesen, aber jetzt hingen die Mundwinkel mit dauerhaft missvergnügtem Ausdruck nach unten. Ganz mein Typ.

Ich wusste, dass er nach wie vor rauchte, weil sein Mantel bei jeder Bewegung Nikotingeruch verströmte. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er in einem Krankenhausbett gelegen. Der Besuch war peinlich gewesen. Bis dahin hatte mich der Mann stets eingeschüchtert, aber schließlich hatte ich ihn zuvor auch nie in einem baumwollenen Krankenhaushemd gesehen, aus dessen Rückenschlitz sein runzliger Hintern herausguckte. Seitdem empfand ich mehr Zuneigung ihm gegenüber. Ich wusste, dass er mich mochte, obwohl sein Verhalten mir gegenüber früher immer zwischen griesgrämig und barsch geschwankt hatte.

»Also, was gibt’s?«, fragte ich. »Sind Sie den ganzen Weg hier rüberspaziert, um mir Einrichtungstipps zu geben?«

»Ehrlich gesagt bin ich auf dem Weg zum Mittagessen und dachte, Sie hätten vielleicht Lust mitzukommen – natürlich nur, falls Sie nichts anderes vorhaben.«

Ich sah auf die Uhr. Es war erst fünf vor halb elf. »Klar, kann ich machen. Ich hole nur schnell meine Tasche und meine Jacke, dann treffen wir uns draußen.«

Wir brachen zu Fuß auf und bogen an der nächsten Ecke rechts ab, um in nördlicher Richtung die Santa Teresa Street hinaufzugehen. Ich dachte, wir würden das Del Mar oder das Arcade aufsuchen, zwei Lokale, wo die Männer vom Polizeirevier oft zu Mittag aßen. Stattdessen marschierten wir noch drei Häuserblocks weiter und betraten schließlich eine kleine Kneipe, die unter dem Namen »Sneaky Pete’s« bekannt war, obwohl auf dem Schild etwas anderes stand. Das Lokal war fast leer: ein Paar an einem Tisch und ein paar Vormittagstrinker am anderen Ende der Bar. Dolan setzte sich ans vordere Ende, und ich schnappte mir den Hocker links von ihm. Die Bedienung legte ihre Zigarette in einen Aschenbecher, griff nach einer Flasche Old Forrester und schenkte ihm ein, bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Er zündete sich eine Zigarette an und fing dann meinen Blick auf. »Was?«

»Hm, na ja, Lieutenant Dolan, ich habe mich nur gefragt, ob das zu Ihrer Herzinfarkt-Reha gehört.«

Er wandte sich der Bedienung zu. »Sie findet, ich achte nicht besonders gut auf mich.«

Sie stellte das Glas vor ihn hin. »Wie sie darauf nur kommt?«

Ich schätzte sie auf Mitte vierzig. Sie hatte dunkle Haare, die sie aus dem Gesicht gekämmt und mit zwei Hornkämmen festgesteckt hatte. Ich konnte ein paar graue Strähnen ausmachen. Nicht viel Make-up, aber sie sah aus wie jemand, dem man im Barkeeper-Sinne vertrauen konnte. »Und was kann ich Ihnen Gutes tun?«

»Ich nehme ein Coke.«

Dolan wies mit dem Daumen auf mich. »Kinsey Millhone. Sie ist Privatdetektivin hier. Wir wollen zu Mittag essen.«

»Tannie Ottweiler«, stellte sie sich vor. »Nett, Sie kennen zu lernen.« Wir gaben uns die Hand, dann fasste sie nach unten und holte zwei in Papierservietten gewickelte Bestecke hervor, die sie vor uns hinlegte. »Bleiben Sie hier sitzen?«

Dolan nickte mit dem Kopf zur Seite. »Wir nehmen den Tisch da drüben am Fenster.«

»Ich komme sofort.«

Dolan steckte sich die Zigarette in den Mund. Als er nach seinem Whiskey griff und sich von der Bar entfernte, stieg ihm der Rauch ins rechte Auge und er musste blinzeln. Ich folgte ihm und bemerkte, dass er einen Tisch ausgesucht hatte, der so weit wie möglich von den anderen Gästen entfernt stand. Wir setzten uns, und ich legte meine Tasche auf den Stuhl neben mich. »Gibt’s hier eine Speisekarte?«

Er legte den Regenmantel ab und trank einen Schluck Whiskey. »Das Einzige, was sich zu bestellen lohnt, ist die pikante Salami auf einer Kaisersemmel mit zerlaufenem Paprikakäse. Die Mischung ist so scharf, da zieht’s Ihnen die Schuhe aus. Tannie legt noch ein Spiegelei obendrauf.«

»Klingt toll.«

Tannie kam mit meinem Coke. Es gab eine kurze Unterbrechung, als Dolan unser Essen bestellte.

Während wir darauf warteten, fragte ich: »Also, was ist los?«

Er drehte sich zur Seite und taxierte aufmerksam das ganze Lokal, bevor er den Blick wieder mir zuwandte. »Können Sie sich an Stacey Oliphant erinnern? Er war bei der Sheriffbehörde und ist vor etwa acht Jahren in den Ruhestand gegangen. Sie müssten ihm mal begegnet sein.«

»Ich glaube nicht. Ich weiß, wer er ist – Stacey ist ja in aller Munde –, aber er war schon in Rente, als ich bei Shine und Byrd eingestiegen bin.« Morley Shine war Privatdetektiv gewesen und hatte mit einem Kollegen namens Benjamin Byrd eine Detektei betrieben. Beide hatten ziemlich gute Verbindungen zum Sheriffbüro gehabt. Sie hatten mich 1974 eingestellt und ausgebildet, bis ich so viele Stunden beisammen hatte, dass ich selbst eine Lizenz beantragen konnte. »Er muss schon über achtzig sein.«

Dolan schüttelte den Kopf. »Er ist erst dreiundsiebzig. Offenbar treibt ihn das Nichtstun in den Wahnsinn. Er hat es nicht ausgehalten, also ist er in Teilzeit wieder zum Sheriffbüro gegangen und bearbeitet alte Fälle für die Kriminalpolizei.«

»Schön.«

»Bis dahin schon. Weniger schön ist, dass man bei ihm Krebs diagnostiziert hat – nicht-Hodgkinsches Lymphom. Und zwar schon zum zweiten Mal. Er war jahrelang symptomfrei, doch vor etwa sieben Monaten ging es wieder los. Als endlich die Diagnose gestellt war, war er schon im vierten Stadium – wobei das fünfte der Tod ist, nur damit Sie im Bilde sind. Seine Langzeitprognose ist miserabel: eine Überlebenschance von zwanzig Prozent, falls die Behandlung anschlägt, was keineswegs garantiert ist. Er hat schon sechs Runden Chemo und einen Haufen neuartige Medikamente hinter sich. Der Mann hat gelitten wie ein Hund.«

»Klingt schrecklich.«

»Ist es auch. Er hatte sich wieder halbwegs gefangen, aber kürzlich ging es ihm auf einmal absolut mies. Vor ein paar Tagen haben sie ihn wieder ins Krankenhaus gebracht. Die Blutbilder haben eine schwere Anämie ergeben, also hat man beschlossen, ihm eine Transfusion zu verabreichen. Weil er sowieso schon da war, haben sie sich gedacht, sie könnten doch gleich noch ein paar Untersuchungen machen, um abzuklären, wie es um ihn steht. Er ist natürlich Pessimist, aber in meinen Augen gibt es immer Hoffnung.«

»Das tut mir Leid.«

»Nicht so Leid wie mir. Ich kenne ihn seit fast vierzig Jahren, länger als ich meine Frau gekannt habe.« Dolan zog an seiner Zigarette, nahm sich den Blechaschenbecher vom Nebentisch und streifte ein paar Millimeter Asche ab.

»Woher kennen Sie sich? Ich dachte, er hätte im Norden des Bezirks gearbeitet. Sie waren hier bei der Polizei.«

»Er war schon beim Sheriffbüro, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Das war 1948. Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie, nichts Gebildetes oder Intellektuelles. Als ich aus der Army kam, war ich ganz schön hochnäsig. Großspurig und frech. Zwei Jahre bin ich herumgehangen, ohne was Vernünftiges auf die Beine zu stellen. Schließlich habe ich an einer Tankstelle in Lompoc einen Job als Tankwart bekommen. Sackgasse war gar kein Ausdruck dafür.

Eines Abends ist ein Typ reingekommen und hat dem Geschäftsführer von der Nachtschicht eine Pistole an den Kopf gehalten. Ich war im Hinterzimmer und habe zum Schichtende aufgeräumt, bis ich kapiert habe, was los ist. Da habe ich mir einen Schraubenschlüssel geschnappt und mich zur Seitentür raus und vorn wieder rein geschlichen. Der Kerl war derart darauf fixiert, aufzupassen, dass mein Boss nicht die Cops ruft, dass er mich überhaupt nicht hat kommen sehen. Ich habe ihm so sauber eins übergebraten, dass er auf dem Hintern gelandet ist. Stacey war der Hilfssheriff, der ihn anschließend verhaftet hat.

Er ist nur zehn Jahre älter als ich, aber er war zeit meines Lebens der Einzige, der so eine Art Mentor für mich war. Er hat mich auch dazu überredet, zur Polizei zu gehen. Ich bin im Zuge der G. I. Bill aufs College gegangen und habe mich bei der Polizei einstellen lassen, sobald eine Stelle frei war. Er hat mich sogar mit Grace bekannt gemacht, und ein halbes Jahr später habe ich sie geheiratet.«

»Klingt, als hätte er Ihr Leben verändert.«

»In mehr als einer Hinsicht.«

»Hat er hier in der Gegend Angehörige?«

»Keine nahen Verwandten. Verheiratet war er auch nie. Vor kurzem hatte er eine Freundin – falls man das in unserem fortgeschrittenen Alter noch so nennen kann. Nette Frau, aber irgendwie hat es nicht geklappt. Seit Grace tot ist, haben wir zwei viel Zeit miteinander verbracht. Wir gehen jagen und fischen, so oft wir können. Jetzt, wo ich krank geschrieben bin, haben wir viel in der Richtung unternommen.«

»Wie kommt er mit alldem zurecht?«

»Mal so, mal so. Er hat zu viel Zeit und nicht viel zu tun – außer zu grübeln. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich die Geschichte schon gehört habe: Ein Mann geht nach dreißig Jahren in den Ruhestand, und ehe man sich’s versieht, wird er krank und stirbt. Stacey redet nicht viel darüber, aber ich weiß, wie er denkt. Er ist tierisch deprimiert.«

»Ist er religiös?«

»Er doch nicht. Er behauptet, er wäre Atheist, aber das werden wir ja sehen. Ich für meinen Teil bin immer in die Kirche gegangen, zumindest, solange Gracie noch gelebt hat. Ich weiß nicht, wie man dem Tod gegenübertreten soll, ohne irgendwas zu glauben. Sonst hat das doch gar keinen Sinn.«

Dolan sah im selben Moment auf, als Tannie mit zwei großen Tellern mit frisch zubereiteten Sandwiches und Pommes kam, zusammen mit zwei Bestellungen für den anderen Tisch. Dolan unterbrach seine Geschichte, um kurz mit ihr zu plaudern. Ich beschäftigte mich damit, auf die Ketchupflasche zu schlagen, bis ein dicker roter Klumpen die südöstliche Ecke meiner Pommes bedeckte. Ich wusste, dass er auf etwas hinauswollte, doch er ließ sich jede Menge Zeit. Ich hob die obere Hälfte der Kaisersemmel an und salzte alles in Sichtweite. Beim Hineinbeißen spürte ich, wie das Eigelb in die Semmel rann. Die Kombination aus pikanter Salami und scharfem Paprikakäse erwies sich als essbares Pendant dazu, wenn jemand mitten auf meiner Zunge wüste Flüche ausgestoßen hätte. Ich gab einen meiner Essensstöhnlaute von mir. Peinlich berührt sah ich zu den beiden auf, doch sie schienen nichts bemerkt zu haben.

Als Tannie schließlich ging, drückte Dolan seine Zigarette aus und bekam einen derart heftigen Hustenanfall, dass sein ganzer Körper bebte. Ich sah seine Lunge als vor sich hin keuchenden schwarzen Comic-Blasebalg vor mir.

Er schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Ich hatte vor einem Monat eine schlimme Erkältung und kriege sie irgendwie nicht los.« Er trank einen Schluck Whiskey, um seine gereizte Kehle zu beruhigen. Dann nahm er sein Sandwich und setzte zwischen einzelnen Bissen seine Geschichte fort, indem er genau dort weitermachte, wo er aufgehört hatte. »Solange Stacey bettlägerig war, habe ich mein Möglichstes getan, um seine Wohnung in Ordnung zu bringen. Die Bude ist ein einziger Verhau. Er dürfte morgen aus dem Krankenhaus entlassen werden, und ich wollte nicht, dass er den ganzen Schotter sehen muss, wenn er heimkommt.«

Er legte sein Sandwich ab, um sich eine neue Zigarette anzustecken, die er gleich in den Mundwinkel schob, während er einen Packen zusammengerollter Blätter aus der Innentasche seines Sakkos zog. »Gestern habe ich einen Stapel Papiere auf seinem Küchentisch durchgesehen. Ich hatte gehofft, auf den Namen eines Freundes zu stoßen, dem ich Bescheid sagen könnte – jemanden, der ihn aufheitert. Stace bräuchte dringend etwas, worauf er sich freuen kann. Tja, ich habe zwar nichts in der Richtung gefunden, aber dafür das hier.«

Er legte den sich rollenden Stapel vor mir auf den Tisch. Ich steckte mir den letzten Bissen meines Sandwichs in den Mund und wischte mir die Hände an einer Serviette ab, bevor ich nach den Papieren griff. Auf den ersten Blick sah ich, dass es Kopien einer Akte aus dem Sheriffbüro waren. Die Titelseite trug die Bezeichnung 187 PC, was darauf hindeutete, dass es sich um einen Mord handelte. Dahinter folgte die Fallnummer. Die Seiten wurden von Klammern zusammengehalten, insgesamt etwa fünfundsechzig oder siebzig Blätter, denen hinten ein paar Seiten handschriftliche Notizen beigeheftet waren. Ich kehrte zum Deckblatt zurück.

Opfer: unidentifizierte Frau

Gefunden: Sonntag, 3. August 1969

Fundort: Grayson-Steinbruch, Highway 1, Lompoc

Unter »ermittelnde Beamte« waren vier Namen aufgeführt, darunter auch der von Stacey Oliphant.

Dolan beugte sich vor. »Wie Sie sehen, hat er ursprünglich zu den ermittelnden Beamten gehört. Stace und ich waren diejenigen, die die Leiche gefunden haben. Wir waren damals mit einem Jeep dort raufgefahren und hatten am Straßenrand geparkt, um auf Rotwildjagd zu gehen. Ich glaube, inzwischen ist die Zufahrt mit einem Tor abgesperrt, aber damals war das Grundstück offen. Sowie wir ausgestiegen waren, haben wir den Geruch wahrgenommen. Wir wussten beide, was es war – etwas, das schon seit Tagen tot war. Lang haben wir nicht gebraucht, um rauszufinden, was es genau war. Sie war wie ein Sack Müll einen kleinen Erdwall hinuntergeworfen worden. Und an diesem Fall hat er gearbeitet, als er krank geworden ist. Es hat ihm keine Ruhe gelassen, dass man nie herausgekriegt hat, wer sie war, geschweige denn, wer sie umgebracht hat.«

Durch meinen Kopf zogen vage Erinnerungsfetzen. »Ich kann mich daran erinnern. War sie nicht erstochen und dann abgeladen worden?«

»Genau.«

»Irgendwie seltsam, dass es nie gelungen ist, sie zu identifizieren.«

»Das fand er auch. Es ist einer dieser Fälle, die ihm nicht aus dem Sinn gegangen sind. Er war der Meinung, er müsse irgendetwas übersehen haben. Immer wieder hat er sich darüber hergemacht, aber er ist nicht viel weiter gekommen.«

»Und was meinen Sie – dass man die Sache noch mal anpacken sollte?«

»Wenn ich ihn dazu überreden kann. Ich glaube, es würde seine Stimmung enorm aufhellen.«

Ich blätterte die Kopien durch und verfolgte den Ablauf von Daten und Vorgängen. »Sieht aus, als wäre einfach alles mit drin.«

»Schwarz-Weiß-Abzüge der Fotos vom Fundort eingeschlossen. Er hatte zwar noch ein paar andere Akten da, aber die hier ist mir ins Auge gestochen.« Er hielt inne, um sich den Mund abzuwischen, und schob dann seinen Teller beiseite. »Es würde ihn aufheitern, wieder in den Fall einzusteigen und zu versuchen, neue Erkenntnisse aufzutreiben. Er kann als Ermittlungsleiter fungieren, und wir machen die Kleinarbeit.«

Ich ertappte mich dabei, wie ich die Augen aufriss. »Sie und ich.«

»Sicher, warum nicht? Wir können Sie für Ihren Zeitaufwand bezahlen. Fürs Erste schlage ich einfach nur vor, dass wir drei uns zusammensetzen und uns unterhalten. Wenn ihm die Idee gefällt, machen wir weiter. Wenn nicht, wird mir schon was anderes einfallen.«

Ich tippte auf die Unterlagen. »Ich will mich ja nicht in Binsenweisheiten ergehen, aber das hier ist achtzehn Jahre alt.«

»Ich weiß, aber abgesehen von Staceys Interesse hat es in dem Fall seit 1970 oder so keinerlei Vorstöße mehr gegeben. Was, wenn wir ihn aufklären könnten? Stellen Sie sich nur vor, was das für ihn bedeuten würde. Es könnte alles verändern.« Zum ersten Mal zeichnete sich eine gewisse Lebhaftigkeit auf seiner Miene ab.

Ich tat so, als müsse ich nachdenken, doch es gab nicht viel zu überlegen. Ich hatte genug von der Büroarbeit. Die Aktenrecherchen und die Personenüberprüfungen standen mir bis obenhin. »Stacey hat nach wie vor Zugang zum Sheriffbüro?«

»Sicher. Eine Menge Leute dort haben eine enorm hohe Meinung von ihm. Wahrscheinlich können wir alles kriegen, was wir haben wollen – in einem vernünftigen Rahmen natürlich.«

»Lassen Sie mich das hier mit nach Hause nehmen und lesen.«

Dolan lehnte sich zurück und bemühte sich, nicht allzu erfreut dreinzusehen. »Ich bin von sechs bis Mitternacht drüben im CC’s. Kommen Sie bis acht Uhr vorbei, dann können wir auf einen Sprung zum St. Terry’s fahren und Stacey auf den neuesten Stand bringen.«

Ich merkte, wie ich ebenfalls lächeln musste.

Totenstille

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