Читать книгу Ein Trip quer durch das Chaos - Summer Alesilia - Страница 8
ОглавлениеKapitel 1
Samstag
Das fiese Klingeln wollte nicht aufhören. Völlig verschlafen suchte Mike nach seinem Smartphone und wischte über den Bildschirm. Er hasste seinen Handywecker, den er mit Absicht laut gestellt hatte, um ihn überhaupt zu hören. Dennoch verfluchte er seine Entscheidung jedes Mal aufs Neue. Träge schob er das Telefon wieder unter das Kissen und dämmerte kurz darauf weg.
Als es das nächste Mal läutete, riss ihn das Telefon aus einem angenehmen Traum. Er fummelte erneut nach dem klingelnden Gerät und warf einen Blick darauf. Am Ton erkannte er, dass es ein Anruf war, und versuchte durch den schmalen Lidschlitz einen Namen auf dem Display zu erkennen. Als er die Buchstaben zu einem Wort zusammenfügte, schreckte er hoch.
»Ja«, rief er ins Handy und verschluckte sich beinahe an seinem Speichel.
»Es ist acht Uhr, ich hoffe, du bist bereits auf dem Weg«, fragte die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Aber natürlich«, log er und schwang die Beine aus dem Bett.
»Das ist schön. Deine Geschwister sind seit gestern hier. Alle warten auf dich«, erklärte die Frau weiter.
»Ich weiß, aber ich musste gestern noch ein paar Sachen erledigen. Ich bin bis heute Abend bei euch. Versprochen.«
Ein leises Seufzen erklang. »Mike, du weißt, dass manches einfacher wird, wenn man einen Partner an seiner Seite hat. Du bist schon zweiunddreißig, es wird Zeit, dass du endlich erwachsen wirst und eine Familie gründest. Du magst doch Kinder oder?«
»Mama, lass uns jetzt nicht damit anfangen. Ich … ich muss Auto fahren«, schwindelte er und holte mit der anderen Hand seine Reisetasche unter dem Bett hervor. Es funktionierte.
»Ja du hast recht. Nicht dass du noch einen Unfall baust. Fahr vorsichtig und wir sehen uns heute Abend.« Ein Küsschen kam durch die Leitung.
»Warte Oma!«, kreischte eine Mädchenstimme im Hintergrund. »Will mit Onkel Mikey tetefonieren.«
»Oh das hätte ich beinahe vergessen«, sagte Mikes Mutter. »Deine Nichte will dich etwas fragen.« Es raschelte kurz im Lautsprecher.
»Onkel Mikey, ich bin es«, sagte das Mädchen und kicherte.
»Ja, das habe ich mir fast gedacht«, antwortete Mike und lachte. »Wie geht es dir? Freust du dich schon auf Weihnachten?« Für seine Nichte hielt er mit seinem Tun inne und setzte sich auf das Bett.
»Klaro. Ich bekomme bestimmt was für die Spielküche. Da brauche ich doch noch Töpfe und so.«
»Warst du auch brav und hast gemacht, was dir deine Mama gesagt hat«, erkundigte er sich.
»Na logo. Wann bist du da?«
»Heute Abend, ich hoffe, wir sehen uns noch.«
»Ich darf diese Woche immer lange aufbleiben.« Die Kleine lachte vergnügt. »Du, Onkel Mike, gehst du mit mir ins Spaßbad. Du hast es das letzte Mal versprochen.«
»Habe ich das? Hm?«, scherzte Mike.
»Klaro! Hoch und heilig versprochen, hast du es.«
»Gut, gut, wenn du dir so sicher bist, muss es stimmen. Ich nehme meine Badehose mit, also ich meine, die habe ich dabei«, korrigierte er sich eilig. Nicht das sich Emma aus Versehen verplauderte.
»Juhu, danke Mikey.«
»Für dich mache ich doch fast alles. Also bis bald, aingeal beag.«
»Tschüssi.«
Schnell drückte er den roten Button auf seinem Smartphone und warf es aufs Bett. Nicht das seiner Mutter einfiel sich nochmals zu Wort zu melden. Außerdem war er viel zu spät dran. Eine lange Fahrt lag vor ihm.
Eine halbe Stunde später, nach einer zügigen Dusche, stand Mike vor seinem hellen dreitürigen Kleiderschrank und ging in Gedanken seine Packliste durch. Sein Blick, den er auf das Bett mit den verstreuten und bereits herausgesuchten Kleidungsstücken warf, half ihm nur wenig bis gar nicht. Er fuhr sich mit einer Hand durch seine braunen, lockigen und länger gewordenen Haare und hinterließ auf seinen Kopf ein noch größeres Durcheinander, als dort ohnehin herrschte.
Seine Augen glitten über die vielen Bilder, die an einer der Wände in seinem Schlafzimmer hingen. Es befanden sich dort selbstgezeichnete Landschaftsbilder von der wunderschönen Umgebung Füssens. Diese wurden durch Porträts von Personen aus seinem Freundeskreis sowie seiner Familie ergänzt.
Es war zu früh für ihn und er hatte schlecht geschlafen. Dann dieser abrupte Weckruf seiner Mutter. Gähnend schweiften seine Gedanken ab.
Hier im Allgäu hatte es Anfang November das erste Mal geschneit und das frostige Weiß war einige Tage liegen geblieben. Deswegen war das erste große Verkehrschaos auf den Straßen entstanden und hatte all jene bestraft, die zu dieser Zeit noch mit Sommerreifen unterwegs waren. Das Telefon in der Kfz-Werkstatt hatte geglüht und kurzzeitig für mehr Arbeit gesorgt, als von seinen Kollegen und ihm zu bewältigen war. Noch bevor der letzte Reifenwechsel durchgeführt wurde, war der Schnee und die Minusgrade Geschichte.
Hier war es nichts Ungewöhnliches, dass Väterchen Frost im Spätherbst zu Besuch kam und weiße Flocken verteilte.
Ganz anders war es an seinem Reiseziel. Bei seiner Familie würde er vielmehr Gummistiefel, Regenschirm und eine wind- und wasserdichte Jacke brauchen. Die Aussicht war nicht gerade prickelnd im Dauerregen und ohne Schnee Weihnachten zu verbringen.
Pullover, T-Shirts, Jeans, Shorts und Socken in allen Varianten hatte er schon auf sein Bett geworfen. Der Haufen war ziemlich unübersichtlich.
Seine überschaubare Kulturtasche hatte er nach seiner morgendlichen Dusche gepackt. Seine warmen Boots würde er auf der Fahrt anziehen und das Paar Turnschuhe lag auf dem Boden am Fußende des Bettes.
Beinahe hätte er die Badehose vergessen. Schnell kramte er diese hervor und warf sie auf den Haufen aus Kleidungsstücken. Ein Schal und eine Mütze ergänzten das wilde Sammelsurium auf seiner Decke, die ebenfalls noch nicht ordentlich gefaltet war.
Für wen auch? Er wohnte hier alleine, und wenn Freunde zu Besuch kamen, störten sie sich nicht daran.
Zumindest hatte er gestern Morgen noch an die Mülltonne gedacht und sie herausgestellt. Oder besser gesagt, er war mit besagter Tonne bis zum übernächsten Haus gerannt, denn dort leerte der Müllwagen bereits die der Nachbarn.
Nun fragte er sich, warum er gestern nicht mehr seine Tasche gepackt hatte. Der Besuch bei seinem Kumpel schien ihm wichtiger. Die Playstation und die Aussicht auf einen lustigen Spieleabend waren zu verführerischer gewesen, als Kleidung in eine Tasche zu stopfen.
Er war absolut unorganisiert und dennoch gab es für ihn nichts Schöneres, als seine Unabhängigkeit. Herr über sein eigenes Leben und seine Entscheidungen zu sein, auch wenn es mitunter das pure Chaos war. Alles war besser, als sich mit über dreißig ständig Vorhaltungen von seinen Eltern anhören zu müssen. Diese wurde nur von den altklugen Sätzen seiner Geschwister übertroffen; zumindest von den meisten.
Findest du es gut, von einem schlecht bezahlten Job in den nächsten zu stolpern?
Meinst du wirklich, sie haben auf dich und deine Bilder gewartet?
Warum bist du immer noch Junggeselle? Alle deine Geschwister sind liiert oder verheiratet!
Kinder bereichern dein Leben. Willst du nicht endlich Verantwortung übernehmen?
Das waren nur einige Beispiele für die Besserwisserei seiner Familie. Diese ganzen Vorwürfe wollte er nicht mehr über sich ergehen lassen. Je öfter er solche Aussagen hörte, desto weniger wollte er sich fügen. Das war einer von vielen Gründen, weswegen er ans andere Ende von Deutschland gezogen war. Außerdem versprach er sich hier die besseren Chancen, um mit seinen Gemälden als Künstler Karriere zu machen. Er träumte davon, mit dem Zeichnen Geld zu verdienen. Zu seinem Leidwesen belächelten es die meisten, anstatt ihn zu unterstützen oder zumindest Mut zuzusprechen.
Nachdem er seinen Kram gepackt hatte, zog er sich warm an und ging mit dem Gepäck zu seinem Auto. Da es nachts sehr kalt gewesen war und er keine Garage hatte, musste er erst seine Scheibe freikratzen. Während er das tat, ließ er seinen Blick über den Ort gleiten. Sein Wohnhaus befand sich auf einer kleinen Anhöhe. Von der Straße aus konnte er die umliegenden Alpen sehen, deren Hänge eingeschneit waren. Es war ruhig an diesem Samstagmorgen. Aber das störte ihn nicht, im Gegenteil, er mochte die idyllische Ruhe.
Die Sicht war gut und ihn überkam die Lust, seinen Bleistift zu nehmen und den Kirchturm, der vor den Bergen emporragte, zu zeichnen. Aber das hatte er bereits unzählige Male zu den unterschiedlichsten Tages- und Jahreszeiten getan. Viel lieber hätte er jemanden porträtiert. Die Feinheiten und Details eines Gesichts einzufangen, waren schwieriger. Auch wenn er sich als faul und bequem bezeichnete, liebte er besondere Herausforderungen. Ein Bereich, in dem das zu hundert Prozent zutraf, war das Zeichnen. Dort konnte es nicht schwierig genug sein. Er versuchte sich an allem, musste jedoch manchmal feststellen, dass er scheiterte. Dennoch gab er nicht auf.
In seinen arbeitslosen Phasen hatte er richtige Mal- und Zeichenexzesse. Er verbrachte dann etliche Tage am Stück in seiner Wohnung, ohne vor die Tür zu gehen oder Kontakt zu seinen Freunden zu suchen. Bei gutem Wetter fand man ihn draußen, wie er durch die Gegend streifte. Stets auf der Suche nach einem unentdeckten Fleck, einem hübschen Gebäude, das sich zu malen lohnte oder unberührte Natur, die mit ihren Farben beeindruckte und seinen Blick reizte. In solchen Momenten wünschte er sich, in seiner Heimat zu sein. Irlands Natur suchte seines Gleichen. Dann fühlte er sich zu hundert Prozent irisch, auch wenn es dank seiner Mutter nur die Hälfte war.
Am Ende solcher Tage kam er farbbekleckert in seine Wohnung, stellte seine neu entstandenen Werke auf und fiel nach einer schnellen Dusche ins Bett. Viele verstanden ihn nicht, aber die, die es taten, stärkten ihm den Rücken. Diese Handvoll Menschen nannte er zu Recht wahre Kameraden.
Das, was er selbst höchstens als gut empfand, lobten seine Freunde oft ehrfürchtig. Etwas mussten seine Bilder also haben. Und genau diese seltene Wertschätzung war es, die ihn zum Weitermachen animierte. Aufgeben war keine Option, zumindest noch nicht.
Als er seine Autoscheiben von der Raureifschicht befreit hatte, stieg er ein und fuhr gemächlich die geschwungene Gasse hinab. Mit gemischten Gefühlen machte er sich auf den Weg.