Читать книгу Der Geschmack von Kaktusfeigen - Susanne Aernecke - Страница 10
5. Kapitel
ОглавлениеDer schon etwas betagte Fiat Panda ächzte, während er die steile und kurvenreiche Straße die Cumbre hinauffuhr, den gigantischen Gebirgszug, der die Ost- von der Westseite der Insel trennte. Miriam saß zwischen Koffer und Taschen eingeklemmt auf der Rückbank und sah konzentriert nach vorne, damit ihr nicht schlecht wurde. Jetzt erinnerte sie sich wieder daran, dass schon damals die vielen Kurven und die gigantischen Höhenunterschiede ihr gehörig zugesetzt hatten.
Zu Anfang war sie alles andere als begeistert von dieser Insel gewesen. Dicke Wolkenfetzen zogen an den bis oben hin bewaldeten Bergformationen vorbei und ließen die Landschaft mystisch erscheinen. Sie sog den Geruch feuchter Erde ein, eine Wohltat im Gegensatz zur Feinstaub geschwängerten Münchner Luft. Nachdem sie einen längeren Tunnel passiert hatten, war es fast so, als würde sich eine andere Welt auftun: Strahlender Sonnenschein und ein blitzblauer Himmel, an dem sich keine Wolke zeigte.
Miriam hatte noch im Gedächtnis, dass die Cumbre eine Art Wetterscheide war. Die Wolken blieben dort hängen und bescherten der Westseite höhere Temperaturen und auch weniger Regen. Die Vegetation bestand hier in tieferen Lagen vor allem aus Sukkulenten, dicken fleischblättrigen Gewächsen und Kakteen, die selbst um diese Jahreszeit noch große, knallrote Früchte trugen. Die Tuneras, wie sie hier auf La Palma genannt wurden, wuchsen beinahe überall. Am Straßenrand, zwischen den Häusern. Fast jedes Fleckchen unbebauten Landes nahmen sie für sich in Anspruch.
Miriam erinnerte sich noch genau, wie ein alter Palmero ihr damals zum ersten Mal Kaktusfeigen angeboten hatte. Wie er mit Grasbüscheln die groben Stacheln abgekehrt, dann unter einem Wasserstrahl die feinen und anschließend die Frucht in der Mitte aufgeschnitten hatte, um ihr das rot gelbe Fruchtfleisch zu geben. Irgendwann hatte sie es dann selbst mal versucht und sich dabei viele kleine Stacheln eingefangen, die sie noch tagelang in der Hand gespürt hatte. Carlos hatte sie damals herzlich ausgelacht, als sie ihm davon erzählte. Schon wieder waren ihre Gedanken bei ihm.
„So, wir sind da. Und dort steht auch der Bus Richtung Tazacorte“, riss Silvia sie aus ihren Gedanken. Ohne dass sie es so richtig bemerkt hatte, waren sie am Busbahnhof von Los Llanos angekommen, der heimlichen Hauptstadt der Insel, ein kleines Städtchen mit 20 000 Einwohnern. Miriam bedankte sich herzlich bei den beiden Frauen, schulterte ihren Rucksack und stieg in den Bus.
Sie hatte Glück, denn kaum saß sie – sogar am Fenster – ging es auch schon los Richtung Küste. Das Blau des Himmels und des Meeres verschmolzen in einem Dunststreifen, sodass sie nicht sagen konnte, wo das eine ins andere überging.
Man hörte hauptsächlich spanisch, denn die Lautstärke, in der hier auf der Insel gesprochen wurde, übertönte problemlos den Dieselmotor. Miriam lächelte. Sie verstand sogar ein paar Sätze. Mit Carlos hatte sie hauptsächlich deutsch gesprochen, einer seiner Cousins arbeitete in Rüsselsheim bei Opel und hatte ihm dort für eine Weile einen gut bezahlten Job verschafft. Die Finca seiner Eltern warf damals nicht genug für die ganze Familie ab. Erst als die Subventionen aus Brüssel kamen, ging es wieder aufwärts für die Bananenbauern. Das war der Grund für Carlos gewesen, in die Heimat zurückzukehren.
Das Geschäft mit den Bananen blühte offensichtlich bis heute. Denn so weit das Auge reichte, erblickte Miriam Plantagen. Manche waren vollständig mit Plastiknetzen überdeckt, andere in windgeschützteren Lagen, reckten ihre Blätter frei in den Himmel. An den meisten hingen schwere Stauden mit grünen Bananen, die in diesem Zustand geerntet wurden. Sie reiften erst während der Reise an ihrem Bestimmungsort und wurden dann dort gelb. Am liebsten hatte sie immer die ganz kleinen süßen gegessen, die Ladyfingers. Schon jetzt freute sie sich darauf, sie auf dem sonntäglichen Bauernmarkt zu kaufen, falls es den überhaupt noch gab.
Der Trubel der letzten Tage geriet immer mehr in den Hintergrund, und das Ambiente der Insel breitete sich auf angenehme Weise in ihr aus. In Tazacorte Pueblo, einem kleinen Dorf mit bunten Häusern, mitten in den Plantagen, stieg sie aus und folgte dann der Beschreibung, die Isiris ihr per WhatsApp geschickt hatte. Vom Hauptplatz ging es durch kleine Gässchen, die mit steilen Stufen durchsetzt waren, immer weiter nach oben, bis sie an ein Tor kam mit dem Schild: „Villa Isiris“. Sie betätigte den Türklopfer und hörte auch schon kurz darauf Schritte, die sich näherten.
Es öffnete eine Frau mit langen weißen Haaren und blitzblauen Augen in einem alterslosen Gesicht. Sie trug ein weites Oberteil aus beigefarbenem fließenden Stoff über einer bunten Hose und war barfuß.
„Bienvenido – herzlich willkommen. Du musst Miriam sein.“ Isiris umarmte sie, für Miriams Geschmack vielleicht einen Tick zu lang. „Silvia hat mir schon Bescheid gesagt, dass du im Anmarsch bist. Ja, die Insel ist klein und die Handys sind die Buschtrommeln von damals.“
Na, das konnte ja heiter werden, wenn hier jeder ihrer Schritte überwacht wurde, dachte Miriam. Als reine Stadtpflanze, die in einem anonymen Wohnblock lebte, war sie daran so gar nicht gewöhnt.
Sie betraten einen gepflegten Garten, durch den sich weiße Kieswege entlang mehrerer Holzhäuschen zogen, die größtenteils grün bewachsen waren oder im Schatten wuchtiger Palmen standen. Neben jeder Eingangstür befand sich eine Figur aus der indischen Götterwelt, und aus einem der Fenster tönte leise Meditationsmusik, die dazu passte.
„Das ist dein Zuhause für die nächsten zwei Wochen.“ Ihre Gastgeberin deutete auf ein Hüttchen, neben dessen Eingang eine sitzende Elefantenfigur stand. „Ganesha, der indische Gott, den man für Glück, Erfolg und gutes Gelingen vor allem am Anfang neuer Unternehmungen braucht“, beantwortete sie Miriams fragenden Blick. „Ich hoffe, du wirst dich bei mir wohlfühlen. Wenn es irgendetwas gibt, was dir fehlt, lass es mich wissen.“
Das klang ja wirklich nett. Und ein Gott, der einem beim Wiederanfang half, konnte auf keinen Fall schaden. Miriam betrat neugierig ihre neue Bleibe und sah sich um. Der Raum war einfach, aber liebevoll gestaltet und wie auf den Fotos im Internet in angenehmen Gelb- und Orangetönen gehalten. Auf dem Tisch stand eine Schale mit frischen Mangos, Papayas und Bananen. Sie roch daran und sog das Aroma mit geschlossenen Augen ein.
Wann hatte sie das zum letzten Mal gemacht?
Sie konnte sich nicht daran erinnern. In ihrem bisherigen Leben musste immer alles schnell gehen, es war oft bis auf die letzte Minute durchgetaktet. Fremdbestimmt von anderen. Eigentlich ging das von Anfang an so – von einem Film zum nächsten. Und wenn sie sich zwischendurch mal einen Urlaub gegönnt hatte, so war der früher auf ihren kleinen Sohn abgestimmt und in letzter Zeit von ihren jeweiligen Lovern oder auch Freundinnen gebucht und gestaltet worden. Lucie, die sie schon aus der Schulzeit kannte, stand auf extreme Bergwanderungen, ihr letzter Freund Torge auf Tauchen. Und damit war bereits vorgegeben, wie ihre wertvollste Zeit des Jahres verbracht wurde. Wenn Miriam genauer darüber nachdachte, wusste sie gar nicht mehr, worauf sie selbst eigentlich Lust hatte. Aber möglicherweise würde sie es ja auf der Insel herausfinden.
Da sie nur ihren Rucksack dabei hatte, ging das Auspacken relativ schnell, und so beschloss sie, bevor es dunkel wurde, hinunter nach Puerto zum Strand zu gehen und dort bei einem Vino Tinto auf den Sonnenuntergang zu warten.
Der einstige Fischerhafen von Tazacorte war heute einer der Haupttouristenorte der Insel. Wo früher die Jünger Petris ihre Boote den Strand hinaufzogen, reihten sich heute bunt gestrichene, zwei bis dreistöckige Häuser aneinander. In fast jedem befand sich unten ein Restaurant mit Tischen und Stühlen davor. Es roch nach gebratenen Calamares und Knoblauch. Miriam hatte Glück. Ein älteres Ehepaar stand gerade auf und überließ ihr einen Platz in der ersten Reihe. Ihr Blick schweifte über den schwarzen Strand, wo sich auch jetzt noch Badende und Sonnenhungrige tummelten. Wenn man Reiseprospekte mit weißem Sand und Palmen vor Augen hatte, war das hier erst einmal gewöhnungsbedürftig. Doch Miriam mochte den besonderen Kontrast zwischen der weißen, schäumenden Brandung und dem schwarzen glitzernden Lavasand.
Sie bestellte bei einem jungen Kellner, der sofort mit geübtem Augenaufschlag mit ihr flirtete, einen roten Nispero sowie eine Platte Seranoschinken mit frischem Weißbrot und wartete darauf, dass der goldene Ball in absehbarer Zeit vor ihr im Meer versank. Die händchenhaltenden Paare vor ihr steigerten zwar nicht gerade ihr Wohlbefinden, aber da es sich zumeist um ältere Semester handelte, konnte sie damit ganz gut umgehen. Die meisten waren bestimmt schon viele Jahre verheiratet. Umso schöner, dass sie noch einen Sinn für Romantik hatten. Miriam machte mit ihrem Handy ein Foto in dem Moment, als die Sonne den Horizont berührte und kam sich etwas armselig vor, dass sie es an ihren Sohn und ihre Freundin Lucie schickte und nicht an einen Mann, mit dem sie gerne diesen Moment übers Handy geteilt hätte.