Читать книгу Der Geschmack von Kaktusfeigen - Susanne Aernecke - Страница 7
2. Kapitel
ОглавлениеSie erkannte ihn sofort. Das Foto war nicht geschönt. Der Typ sah auch im wirklichen Leben verdammt gut aus. Wenn auch schon etwas angegraut, aber die Figur war top und der Blick strahlend. Sollte dieser Scheißtag doch noch ein gutes Ende nehmen? Für Vincent war es völlig normal, sich per Internet zu verabreden. Für sie hatte es noch immer den Beigeschmack von „Die kriegt sonst keinen mehr ab“, obwohl auch viele ihrer Freundinnen und Kolleginnen paarshippten oder tinderten. Ihre beste Freundin Lucie chattete oft ganze Abende lang mit mehreren Typen gleichzeitig, nicht um sie zu treffen, nur um sie heiß zu machen. Miriam sah darin eher Zeitvergeudung, aber wie sonst, fand man heute sein Glück?
Sie hatten sich in einem kleinen, italienischen Kellerlokal mit weißen Tischdecken, Stoffservietten und Kerzenleuchtern verabredet. Ralf, so zumindest sein Profilname, küsste ihr galant die Hand, half ihr aus dem Mantel, rückte ihr den Stuhl zurecht und setzte sich ihr charmant lächelnd gegenüber. Kein schlechter Anfang. So etwas war heute rar gesät. Der Mann hatte Geschmack. Er trug einen teuren Anzug von Boss mit passendem Hemd und seidenem Einstecktuch. Mit ihrem Einverständnis bestellte er für sie beide Spaghetti Vongole als Vorspeise und anschließend einen Wolfsbarsch in Salzkruste. Dann begann er von sich zu erzählen –und zwar ohne Punkt und Komma: Er war Architekt und arbeitete mit am Wiederaufbau des Stadtschlosses in Berlin, dem zukünftigen Humboldt Forum. Sein Vater war bereits ein berühmter Architekt gewesen, und er trat nun in seine Fußstapfen.
Miriam, die keine Chance bekam, ihn zu unterbrechen, machte auf angemessen beeindruckt. Schnell war ihr klar, dass sie mal wieder auf einen Selbstdarsteller erster Rangordnung getroffen war. Sie schien diese Exemplare anzuziehen wie das Licht die Motten. Der Typ war ein Schwätzer, wie er im Buche stand. Mit dem Berliner Stadtschloss hatte er sich eine Art Dauerstellung für die nächsten zehn Jahre verschafft und musste sich nicht mal mehr um andere Aufträge kümmern.
„Oft fühlt man sich ja als Sohn nicht gerade angehalten, dem Weg des Vaters zu folgen, aber in meinem Fall war es die richtige Entscheidung“, nahm er sich weiter wichtig. „Mein Vater hat mir früh das Geschäft hinterlassen, aber mich bis heute auf dezente Weise beraten. Das habe ich ihm immer hoch angerechnet.“
Ah, und einen Berater mit offensichtlich lokalpolitischem Einfluss hatte er noch gratis dazu. Tolle Leistung, dachte Miriam. Eigentlich kein Grund, mit so stolz geschwellter Brust herumzulaufen.
„Haben denn deine Eltern auch schon mit Film zu tun gehabt?“, fragte er und erinnerte sich offensichtlich daran, dass zu einem Gespräch eigentlich zwei gehörten.
Miriam schüttelte den Kopf. „Nein. Außerdem sind sie schon früh gestorben.“
„Das tut mir leid.“
„Schon ok.“ Aber eigentlich war es natürlich nicht ok. Immer wieder, wenn sie hörte, wie Eltern ihre Kinder bei ihrer Berufsfindung unterstützten, wurde sie traurig. Und immer wieder musste sie sich in solchen Momenten zusammenreißen, damit man es ihr nicht anmerkte.
Zum Glück kam gerade der Kellner mit einer silbernen Platte, auf der ein Prachtexemplar von einem Fisch lag, begann ihn zu filetieren und auf zwei Teller zu verteilen. Sie sahen ihm stumm dabei zu und machten sich dann beide gleichzeitig über ihre Speisen her.
Es schmeckte köstlich. Miriam war fast versöhnt und dachte sogar darüber nach, ob sie sein narzisstisches Getue nicht einfach ignorieren sollte. Immerhin sah er gut aus, wusste sich zu benehmen und schien etwas von gutem Wein und gutem Essen zu verstehen. Das war, wenn sie sich die allgemeine Marktlage ansah, schon einiges. Doch was er ihr dann eröffnete, ließ sie schleunigst den inneren Rückwärtsgang einlegen.
„Also, Miriam, ich will ehrlich sein. Ich bin verheiratet, und ich liebe meine Frau, aber sie schläft nicht mehr mit mir. Na ja, und da suche ich mir eben auf diesem Weg das, was ich zu Hause nicht bekomme. Was denkst du? Könntest du dir vorstellen, mit mir …?“
Miriam versuchte einen aufsteigenden Heul-Lach-Anfall zu unterdrücken, legte Gabel und Fischmesser auf den Tellerrand und atmete tief durch. Das passte ja zu diesem Tag. Und nein, eigentlich konnte sie sich das nicht vorstellen. Aber da der Mann immerhin ehrlich war, ließ sie sich weder Entrüstung noch Enttäuschung anmerken. Doch ehrlich sein wollte sie nun auch. Sie sah ihm direkt in die Augen.
„Ich hatte eher an etwas Festes gedacht. An jemanden, mit dem ich abends in Löffelchenstellung einschlafen kann. Mit dem ich mich an einem regnerischen Tag auf die Couch kuscheln und bei Sonnenschein Abenteuer erleben kann. Mit dem ich durch dick und dünn gehe und der mir, wenn ich krank bin, eine kräftige Suppe kocht.“ Ja, das wünschte sie sich wirklich, auch wenn sie es bisher nie so klar ausgesprochen hatte.
„Das hat sich aber in deinem Profil anders angehört.“
„Schon möglich“, erwiderte Miriam, „aber heute ist wohl mein Erkenntnistag.“
„Tja, dann bin ich wohl der Falsche“, sagte Ralf mit leicht gepresster Stimme.
Miriam nickte nur, denn sie wollte es sich nicht ganz verderben. Schließlich stand das Dessert noch aus.
„Du kannst es dir ja noch mal überlegen. Vielleicht bist du ja gerade auf einem ganz falschen Trip. Was will denn eine so unabhängige Frau wie du mit einer festen Beziehung? Was glaubst du, was da auf dich zukommt? Beziehungen schleifen sich so schnell ab wie billige Schuhsohlen. Und dann heißt es ständig Rücksicht nehmen und ewig Verständnis haben. Das kann auf Dauer recht anstrengend werden. Glaub mir, ich bin seit 15 Jahren verheiratet.“
„Aber nicht treu.“
„Treue ist letztlich auch keine Lösung“, gab er grinsend zurück.
Miriam sah sich nicht in der Position, ihm zu widersprechen. Vielleicht hatte er ja recht mit dem, was er zuvor gesagt hatte, und sie war längst beziehungsunfähig. Vielleicht war die große Liebe in diesem Leben einfach nicht für sie vorgesehen. Zumindest sah es bis dato danach aus.
Als sie gegen elf nach Hause kam, saß Vincent, statt wie gewohnt vor seinem Computer, im Wohnzimmer vor dem Fernseher.
„Warst du nicht auch mal auf La Palma?“, rief er Miriam zu, die im Flur ihren Mantel aufhängte. Sie musste unwillkürlich lächeln.
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie erstaunt und betrat das Wohnzimmer.
„Da läuft gerade eine Doku über die Kanaren. Du hast doch früher immer so geschwärmt von dieser Insel.“
Miriam ließ sich neben ihren Sohn auf die Couch fallen und öffnete erleichtert ihren Hosenknopf.
Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu. „Und, wie war’s?“
„Nett.“
„Nett ist die kleine Schwester von scheiße.“
„Na, dann brauche ich es ja nicht weiter ausführen“, erwiderte sie. Irgendwie hatte sie auch keine Lust über den Abend zu reden, zumal die Bilder, die über den Bildschirm flimmerten, sie sofort gefangen nahmen: Schwarze Strände, bizarre Felsformationen, saftig grüne Bananenplantagen, so weit das Auge reichte. Dann Obstbäume, die sich unter der Last ihrer Früchte bogen. Orangen und Zitronen, Avocados, Mangos, Papayas. Und Kakteen und natürlich unzählige Palmen, die der Insel ihren Namen verliehen haben.
Früher hatte Miriam immer mal wieder an jene Zeit gedacht, die sie mit Anfang zwanzig dort verbracht hatte, aber dann verblasste die Erinnerung langsam, bis jene Zeit nur noch eine Ferienreise von vielen war. Plötzlich zuckte sie jedoch zusammen. Der dunkelhaarige Mann, der gerade interviewt wurde und von der Arbeit auf den Bananenplantagen erzählte, zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sie. Er war es nicht, aber er sah ihm verdammt ähnlich. Jemandem, der ihr einmal sehr nahestand: Carlos. Ein richtiger Platanero, wie die Bananenbauern auf La Palma genannt werden.
Von einem Moment auf den anderen war er wieder in ihrem System. Sie hatte mit ihm die leidenschaftlichsten und zugleich romantischsten vier Wochen ihres Lebens verbracht. Er war damals für sie der Mann aller Männer. Miriam schloss die Augen und genoss das warme und zugleich prickelnde Gefühl, das ihren ganzen Körper erfasste. Völlig unerwartet liefen Tränen ihre Wangen herunter, was sie allerdings erst bemerkte, als Vincent sie darauf aufmerksam machte.
„Alles in Ordnung, Ma?“
Schnell wischte sie sich mit dem Ärmel die Augen trocken.
„Du weinst doch nicht etwa wegen dem vermasselten Date?“
„Nein.“ Sie lächelte ihren Sohn an. „Deswegen nicht.“
Was war heute nur mit ihr los? War Merkur rückläufig? Wüteten gerade irgendwelche Sonnenstürme oder gab es einen Mondknoten, der ihr ihre Emotionen so vollständig aus der Hand nahm? Sie hatte sich eigentlich immer ganz gut unter Kontrolle, das brachte schon ihr Beruf mit sich. Aber heute schien alles aus dem Ruder zu laufen. Zuerst die Szene am Morgen, dann das mit dem Paarship-Typ und jetzt noch die Erinnerung an eine Urlaubsliebe, die lange her war und sie trotzdem noch derart aus der Fassung brachte.
Miriam musste in die Küche fliehen und bei offenem Fenster eine rauchen. Es war eine sternenklare Nacht und, als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich daran, wie sie mit Carlos am Strand Sternschnuppen gezählt, wie sie den Sonnenaufgang miteinander erlebt und nach wunderbaren Liebesstunden ein morgendliches Bad im kühlen Atlantik genommen hatten. Ihr Blick fiel auf die große Topfpflanze, die in der Ecke stand. Ein kanarischer Drachenbaum. Er hatte alle Umzüge überlebt. Als Carlos ihn ihr damals geschenkt hatte, war er gerade mal 20 Zentimeter hoch. Jetzt überragte er sie bereits und brauchte alle zwei Jahre einen größeren Topf, weil die Wurzeln den alten sprengten.
Noch einmal stiegen die Bilder aus dem Film vor ihrem inneren Auge hoch und vermischten sich mit Carlos’ strahlenden Augen, mit seinem frechen Lachen, dem Gefühl, in seinen Armen zu liegen und dem Geruch von Strand, Meer und Sonne. Alles war plötzlich wieder gegenwärtig, als wäre sie erst gestern von diesem Urlaub zurückgekehrt. Auch die Gefühle, vor allem auch die Schuldgefühle, waren wieder da. Sie hatte ihm versprochen, zurückzukommen – und es nie getan. Zuerst hatten sie noch hin und wieder telefoniert, dann war ihr das Handy gestohlen worden und sie verloren den Kontakt. Markus hatte sie inzwischen wieder an der Angel und wollte sie sogar als Regieassistentin einarbeiten. Und Miriam träumte damals noch von einem Glamourleben: Blitzlichtgewitter, roter Teppich in Cannes und vielleicht selbst mal irgendwann Regie führen. Doch nichts war aus all dem geworden. Sie war inzwischen zwar eine der besten Regieassistentinnen und konnte, wenn sie wollte, das ganze Jahr lang arbeiten, aber eben immer nur in der zweiten Reihe. Niemand traute ihr mehr zu oder hatte ihr irgendwann mal eine Chance gegeben. Doch vielleicht lag es auch an ihr. Vielleicht war sie einfach nicht ehrgeizig genug. Es fehlte ihr an Durchsetzungskraft oder sie war einfach nur einer Illusion hinterhergejagt. Lag darin der Grund, dass sie immer tiefer in die Sackgasse der Unzufriedenheit geraten war?
Miriam konnte lange keinen Schlaf finden. Befand sie sich auf einem völlig falschen Lebensweg? Die Gedanken wirbelten nur so durcheinander. Und immer wieder tauchte er auf. Carlos. Wie wäre wohl ihr Leben verlaufen, wenn sie damals zurückgekehrt und bei ihm geblieben wäre? Ob sie sich dann auch mit vierzig so ausgebrannt gefühlt hätte? Wie es ihm wohl ging? Ob er verheiratet war, Kinder hatte? Ja, bestimmt! Er war ein Familienmensch. Letztlich genauso wie sie selbst.
Und dann drängte sich ein Gedanke nach vorne und wurde immer dringlicher und ließ sich nicht mehr beiseiteschieben. Warum flog sie nicht einfach für ein paar Wochen nach La Palma? Nicht wegen Carlos. Natürlich nicht. Aber diese Insel war schon einmal ein Scheideweg in ihrem Leben gewesen, und galt es nicht, im Augenblick wieder eine Entscheidung zu treffen? Nämlich die, was sie mit ihrer zweiten Lebenshälfte anfangen sollte.
La Palma war genau der richtige Ort dafür. Zumal dort um diese Jahreszeit traumhaft schönes Wetter war. Sie würde Wanderungen in den Vulkankrater unternehmen und sich auf dem Roque de los Muchachos auf 2400 m Höhe vom Wind den Kopf frei pusten lassen. Von dort hatte man diesen wunderbar freien Rundblick auf die anderen Kanarischen Inseln, Teneriffa, La Gomera und El Hiero. Sie konnte sich noch genau erinnern, wie sie auf dem Mirador, dem höchsten Aussichtspunkt der Insel, gestanden hatte. Hand in Hand mit Carlos.