Читать книгу Der Geschmack von Kaktusfeigen - Susanne Aernecke - Страница 11

6. Kapitel

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Der nächste Morgen begrüßte sie mit strahlendem Sonnenschein. Miriam war gewohnheitsmäßig schon früh wach. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nicht gleich aus dem Bett zu springen und sofort zu überlegen, was tagsüber alles schiefgehen könnte und wie sich das verhindern ließ. Stattdessen hörte sie den Kanarienvögeln zu, die draußen bereits munter zwitscherten, und drehte sich wohlig auf die andere Seite. Lange hielt sie das allerdings nicht aus, dann kribbelte es sie überall und sie musste aufstehen und vor die Tür gehen.

Von anderen Gästen war weder etwas zu sehen noch zu hören. Die Uhr zeigte auch erst acht. Um diese Zeit hatten sie oft schon drei Klappen geschlagen oder sogar eine ganze Szene abgedreht. Ob die rehäugige Schauspielerin Markus wohl weiter aushalten konnte und ob die nächsten Kussszenen besser liefen? Nein, das hatte hier nichts zu suchen.

Miriam sog den Blick auf das blaue Meer auf und überpinselte schnell alles, was sich da gedanklich nach vorne drängte. Dann machte sie ein paar Dehnungsübungen, die sie sich sonst nur an freien Tagen gönnte und ging nach kurzer Katzenwäsche in den Gemeinschaftsraum – eine mit Palmenwedel überdachte Terrasse, eingerahmt von unzähligen Blumentöpfen. Sie machte sich einen Kaffee in der dafür bereitstehenden Espressomaschine, setzte sich in einen der Korbsessel und ließ den Morgen auf sich wirken. Kleine Eidechsen wuselten über den Boden, eine getigerte Katze strich gemächlich an ihr vorbei und rieb sich dann kurz vertraulich an ihren Waden. Unzählige Bienen waren lautstark auf Nektarsuche, und in der Ferne hörte sie die Wellen des Atlantiks gegen die Steilküste schlagen. Eigentlich wunderbar, doch damit ließ sich doch kein ganzer Tag füllen. Wenigstens nicht für sie.

Die stete Macherin und unverzichtbare Organisatorin tausender Kleinigkeiten war hier eindeutig unterfordert. Und plötzlich schien es ihr gar nicht mehr so eine gute Idee, diese Reise so spontan und vor allem allein unternommen zu haben. Doch wer hätte schon so kurzfristig mitkommen können?

Sie blätterte einige Prospekte durch, die aufgefächert in einem Regal standen. Von geführten Wanderungen über Weinproben, Museumsbesuche, Whale Watching bis zu Mountain-Biking stand ihr natürlich eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Auswahl. Doch so richtig hatte sie keine Lust, schöne Orte aufzusuchen, die Erinnerungen hervorrufen könnten, die sie möglicherweise traurig stimmten. Und dann war da die brennende Frage, wie sie Carlos ausfindig machen sollte, und ob er überhaupt etwas mit ihr zu tun haben wollte.

„Guten Morgen, na, gut geschlafen?“

Miriam blickte auf. Vor ihr stand ein gut aussehender Typ in abgeschnittenen Jeans und einem engen weißen T-Shirt, unter dem ein sehr ansehnlicher Oberkörper steckte. „Hi, ich bin Achim. Hab dich schon gestern Abend gesehen, als du angekommen bist.“

„Miriam.“ Sie streckte ihm die Hand hin und registrierte erfreut den festen Druck.

„Bist du allein hier?“, kam auch sofort die typische Frage männlicher Single-Urlauber mit klaren Absichten.

„Und du?“, gab Miriam frech zurück.

Er grinste. „Nicht ganz.“

„Hast du deine Mutter dabei?“

Er lachte schallend. „Nö, nur mein Bike.“

Miriam hatte gestern auf dem Weg zum Strand schon mehrere Biker gesehen. Das schien jetzt auf der Insel der neueste Trend zu sein. Obwohl sie sich das Radeln bei den vielen Steigungen und Kurven gar nicht so angenehm vorstellte.

„Sportlich, sportlich“, ließ sie sich auf Achims Humor ein.

„Ist ein E-Bike. Sonst würde ich das in meinem Alter auch nicht mehr packen.“

„Ach sooo“, gab Miriam zurück.

„Vielleicht hast du ja Lust, eine kleine Tour mit mir zu machen. Man kann sich hier ganz in der Nähe Räder ausleihen.“

Der ging ja ganz schön ran. Oder war das der normale Ton hier auf der Insel, an den sie sich wieder gewöhnen musste? Aber warum eigentlich nicht? Miriam überlegte nicht lange. Sie fuhr im Sommer so oft es ging mit dem Rad umher. Und eins mit Elektromotor erleichterte die Sache auf der hügeligen Insel bestimmt ungemein.

„Glück gehabt, das ist mein letztes“, sagte der Mann vom Quick-Bike-Fahrradverleih.

„Und Glück ist das Einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt.“ Achim grinste Miriam wieder eindeutig an.

Puh, wenn das so weiterging, würde das ihr erster und zugleich letzter gemeinsamer Tag werden. Schnell schwang sie sich auf den Sattel des Rads und startete zu einer Probefahrt durch die engen Gassen von Tazacorte. Schon nach wenigen Minuten hatte sie ein Gefühl für das E-Bike und war total begeistert. Bergauf war plötzlich kein Problem mehr. „Macht Spaß!“, rief sie Achim begeistert zu, als sie wieder bei dem Fahrradverleih angekommen war.

„Na, dann nichts wie los.“

Kurz entschlossen mietete Miriam das Rad plus Aufladegerät für eine ganze Woche. Es war günstiger als jeder Leihwagen und vor allem gesünder. Auf diese Weise würde sie vielleicht sogar einige Pfunde um ihre Mitte herum loswerden. Dass Markus sie deshalb vor versammelter Mannschaft gedemütigt hatte, saß noch immer tief. Doch daran wollte sie jetzt überhaupt nicht denken.

„Ich kenne eine angenehme Tour für den Anfang, auf dem Wasserkanal, mitten durch die Bananenplantagen“, schlug Achim vor.

Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, wie man auf einem Wasserkanal radeln konnte, stimmte sie zu. „Und zum Mittagessen lade ich dich irgendwohin ein, wo es gut schmeckt.“

„Auf keinen Fall. Ich lade dich ein“, bestimmte Achim und trat in die Pedale seines Bikes.

Miriam folgte ihm. Schon bald befanden sie sich oberhalb des kleinen Städtchens, mitten in den Plantagen, die von einem zugemauerten Kanal bewässert wurden. Darauf konnte man prima fahren und blieb von Autos und Fußgängern verschont. Inzwischen waren auch einige Wolken aufgezogen, so dass die Sonne nicht direkt auf sie herunter brannte. Immer wieder kamen sie an den Wohnhäusern der Bananenbauern vorbei, deren Hunde jedes Mal ordentlich in Rage gerieten, wenn sie vorbei radelten.

Plötzlich bremste Miriam stark ab. Achim, der hinter ihr fuhr, wäre ihr beinahe hinten drauf gefahren.

„Bist du verrückt?“, schimpfte er.

„Nein, nur schon mal hier gewesen. Vor langer Zeit. Glaube ich wenigstens.“ Sie stieg ab und lehnte ihr Rad an einen Torpfosten und blickte sich um. Vor ihr stand ein quadratisches, einstöckiges Haus mit grünen Fensterläden und einem Flachdach, auf dem Wäsche flatterte. Davor standen zwei Drachenbäume und eine alte, halb zusammengebrochene Bank. War sie eben noch unsicher gewesen, gab es jetzt keinen Zweifel mehr. Das war die Finca von Carlos’ Familie. Auch wenn das Wohnhaus verändert aussah. Wahrscheinlich hatte man angebaut, vielleicht für ihn und seine eigene Familie. Ob sie hineingehen sollte? Irgendwas hielt sie zurück. Möglicherweise erinnerte sich ja niemand mehr an sie. Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als zwei nicht gerade freundlich aussehende Hunde auf sie zuschossen, gefolgt von einem älteren Mann am Stock mit einem Strohhut auf dem Kopf.

„Aqui privado“, rief er Miriam mit Ablehnung in der Stimme zu.

Sie wartete, bis er näherkam, um sich ganz sicher zu sein. Ja, das war Carlos’ Vater. Sie begrüßte ihn auf Spanisch und fragte, ob er sich an sie erinnern würde. Der alte Mann schien sie jedoch nicht zu erkennen und sagte immer nur „privado, privado.“ Erst als Miriam Carlos erwähnte, blickte er ihr direkt in die Augen. Dann begann er zu zittern. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, und er hob seinen Stock mit einer Drohgebärde, sodass Miriam sofort einen Schritt zurückwich. Dann ließ er einen unverständlichen, aber nicht missverständlichen Wortschwall los. Die beiden Hunde taten noch das ihrige, indem sie ohrenbetäubend bellten und die Zähne fletschten. Miriam blieb nichts anderes übrig, als schleunigst auf ihr Rad zu steigen und die Flucht zu ergreifen. Achim folgte ihr.

Nachdem sie außer Reichweite waren, hielt sie an und atmete tief durch.

„Was war das denn, bitte schön?“, fragte Achim, nicht minder geschockt.

„Hast du ihn etwa verstanden?“

„Allerdings.“

Sie sah ihren Begleiter erstaunt an. „Du sprichst spanisch?“

„Ja. Meine Mutter hat mal eine Weile hier gelebt. Deshalb zieht es mich auch immer wieder auf die Insel.“

„Und was genau hat er gesagt?“

Miriam war ziemlich sicher, puta, das spanische Wort für Hure herausgehört zu haben, aber der Alte hatte, wie hier auf La Palma üblich, die Hälfte von jedem Wort verschluckt, so dass sie sich nur ungefähr den Inhalt der Tirade zusammenreimen konnte.

„Er hat gesagt, dass du seinen Sohn in tiefstes Unglück gestürzt hast, und wie er dich betitelt hat, das möchte ich lieber nicht wörtlich übersetzen. Was hast du dem armen Jungen bloß angetan?“

Miriam gab keine Antwort.

„Na, in deiner Haut möchte ich nicht stecken.“

„Wieso denn?“, fragte sie kleinlaut.

„Na ja, immerhin hat er dir angedroht, dich zu vierteilen, zu teeren, zu federn und dann den Giftschlangen zum Fraß vorzuwerfen, wenn du dort noch mal auftauchen solltest.“

Miriam sah ihn erschrocken an. „Du machst Scherze.“

Er schüttelte den Kopf. „Vergiss nicht, das hier ist noch immer eine sehr machistische Gesellschaft, in der die Männer das Sagen haben. Wenn eine Frau da nicht spurt, hat sie nichts Gutes zu erwarten.“

„Und was heißt das jetzt?“

„Der Familienzusammenhalt wird großgeschrieben. Wenn ein Mitglied mit jemandem im Zwist ist, dann nimmt das die ganze Familie persönlich. Fehden können sich über Generationen, sogar Jahrhunderte hinziehen.“

„Aber ich habe doch niemandem etwas getan!“

„Doch, du hast offensichtlich den Stolz dieses Mannes verletzt und damit den seiner ganzen Familie. Das ist jedenfalls, was der Alte gesagt hat.“

In Miriams Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn. „Und was soll ich jetzt tun?“

„Na ja, ich würde mich auf alle Fälle von hier fernhalten“, sagte Achim grinsend. „Am besten bleibst du in meiner Nähe. Ich pass schon auf dich auf“, meinte er dann gönnerhaft.

Darauf gab es jetzt wenig zu erwidern. Von weitem hörte man noch immer die beiden Hunde bellen. „Komm, lass uns weiterfahren, bevor er die Bestien doch noch auf uns hetzt“, sagte sie nur.

Erst als sie unten am Strand angekommen waren, fühlte sich Miriam wieder etwas wohler. Natürlich hatte sie keine Ahnung gehabt, was sie vor so langer Zeit angerichtet hatte und vor allem nicht, dass es heute noch von so großer Bedeutung war. Ob Carlos es genauso sah wie sein Vater? Dann war es wahrscheinlich das Beste, sie reiste sofort wieder ab, bevor sie ihm noch vor die Füße lief und wer weiß was passierte. Oder sollte sie ihn ausfindig machen und versuchen zu klären, was zu klären war? Aber wie sollte sie ihn finden? Bei seiner Familie konnte sie sich jedenfalls nicht mehr blicken lassen.

„Wie wäre es mit einem erfrischenden Bad?“, schlug Achim vor.

Miriam fühlte sich zwar nicht verschwitzt, aber bestimmt würde der Atlantik ihr aufgewühltes Gemüt etwas abkühlen. Sie hatte nur leider kein Badezeug eingepackt.

„Kein Problem“, meinte Achim, „da vorne gibt es einen FKK-Strand und ich habe immer zwei Handtücher dabei.“

Miriam zögerte einen Moment. Schließlich kannte sie den Typ gerade erst ein paar Stunden und sollte sich ihm jetzt gleich nackt präsentieren.

„Ich tu dir schon nichts. Nur wenn du mich anflehst, dann natürlich schon“, las er ihre Gedanken.

Miriam musste lachen. „Also gut, was soll’s.“ Diesen Mann konnte sie wenigstens einigermaßen einschätzen.

Sie lehnten ihre Räder an die Mauer aus dicken, schwarzen Lavasteinen, die die Promenade von Puerto de Tazacorte vom Strand trennte, und liefen zwischen hohen Felsbrocken zum ausgeschilderten Nacktbadestrand.

„So etwas gab es damals auch noch nicht“, bemerkte Miriam. „Unvorstellbar. Die waren alle schwer katholisch hier.“

„Sind sie immer noch. Aber sie müssen sich halt auch nach der Decke strecken. Viele Touristen schätzen die nahtlose Bräune. Ich übrigens auch“, sagte Achim und bewies es ihr auch gleich, indem er T-Shirt und Hose fast gleichzeitig auszog.

„Bei mir ist es nahtlos weiß“, konterte Miriam, entledigte sich allerdings erst einmal nur ihrer Schuhe und Strümpfe und genoss es, ihre Zehen in den warmen Sand zu bohren. Dann beobachtete sie Achim, der betont langsam und selbstbewusst die letzten Meter zum Meer lief, als wäre er auf einem Catwalk. Ein wirkliches Schnittchen, das musste sie neidlos zugeben. Vielleicht sollte sie sich doch noch mal auf einen Urlaubsflirt einlassen und nicht Gespenstern der Vergangenheit hinterherjagen.

Nein. Schnell verbot sie sich diesen Gedanken. Schließlich hatte sie sich nach ihren etlichen Fehlgriffen vorgenommen, mit dem nächsten Mann nicht gleich ins Bett zu gehen, sondern ihn sich erst mal in Ruhe anzusehen und eine Freundschaft aufzubauen. Doch wenn sie dieses Prachtexemplar genauer betrachtete, so schien das eher nicht die Ansage zu sein.

Seufzend zog sie sich bis auf ihr Fußkettchen aus, das sie noch vom letzten Griechenlandurlaub ums Fußgelenk trug, und trat nun ebenfalls bewusst selbstbewusst den Gang ins kühle Nass an, wohl wissend, dass Achim ihr von dort entgegenblickte. Obwohl sie nicht prüde war, kam es ihr sehr entgegen, dass man nicht lange ins Tiefe laufen musste, sondern ziemlich schnell los schwimmen konnte. Und das tat sie auch. Das Wasser war frisch, aber nicht kalt. Und wirklich stellte sich schon bald ein Gefühl ein, als ob das unschöne Ereignis von eben, sich im Wasser auflöste. In langen ruhigen Zügen schwamm sie erst auf dem Bauch und dann in ihrer Lieblingsstellung auf dem Rücken, mit Blick zum Himmel mit den für die Kanaren so typischen Federwolken.

Miriam war eine gute Schwimmerin und hatte Achim bald eingeholt, der ihr einen anerkennenden Blick zuwarf. „Sportlich, sportlich für so ’ne Filmtussi.“

Das konnte sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen, schwamm blitzschnell auf ihn zu, und bevor er sich umsah, hatte sie ihn auch schon untergetaucht. Mit der Retourkutsche rechnend, startete sie sofort durch und kraulte so schnell sie konnte zurück in Richtung Strand. Kurz davor holte Achim leider auf, und sie bekam nun selbst die entsprechende Abreibung. Schließlich spülte eine heftigere Welle beide an den Strand, wo sie prustend und lachend wie die Kinder nebeneinander liegen blieben.

„Wer zuerst angezogen ist ...!“ Achim sprang auf. „Der andere zahlt heute Abend die Drinks!“

Ein echter Kindskopf, dachte Miriam, folgte ihm jedoch und fing das Handtuch auf, das er ihr zuwarf. Klar war er eher fertig, aber das machte ihr relativ wenig aus. Eine bessere Ablenkung als diesen Charmeur konnte sie sich im Augenblick nicht vorstellen, und sie tat innerlich Abbitte. Als sie im Trebol, dem Restaurant, das Achim für das beste hielt, Platz nahmen, verspürte sie zwar noch keinen großen Hunger, doch als kurz darauf ein Teller mit knusprig gebackenen Chiperones, kleinen Tintenfischen und ein Töpfchen Ayoli, der typischen Knoblauch-Mayonnaise, vor ihr stand, konnte sie nicht widerstehen. Bikinifigur hin oder her.

Natürlich kamen sie noch einmal auf Carlos zu sprechen, doch Achim wischte ihn gekonnt schnell vom Tisch. „Das ist so lange her, der hat sich bestimmt längst mit einer anderen getröstet.“

Miriam atmete tief durch. Hoffentlich hatte er recht, obwohl ihr dieser Gedanke auch nicht wirklich gefiel.

Achim legte die Hand auf ihre. „Heute Abend ist ein Konzert auf der Plaza in Los Llanos. Der Sänger ist der berühmte Inselkünstler Luis Moreira. Hast du Lust, mit mir hinzugehen? Das bringt dich auf andere Gedanken.“

Natürlich sagte sie zu. Alles war besser, als irgendwo allein herumzusitzen, ins Grübeln zu kommen und dann vielleicht noch in Anbetracht ihres vergeudeten Lebens in Tränen auszubrechen. Na ja, so vergeudet war es ja nun auch wieder nicht. Immerhin hatte sie einen wunderbaren Sohn, einige gute Freunde, aber eben keine Aufgabe mehr, wenn sie das Versprechen, was sie sich selbst gegeben hatte, hielt.

Als sie zurück radelten, kam ihr zum ersten Mal so richtig zu Bewusstsein, dass es im Augenblick nichts mehr gab, wofür sie so richtig brannte, was sie aus- und erfüllte, was ihr Dasein rechtfertigte und sie davor bewahrte, jene innere Leere zu spüren, die sich immer mal in ihr breit machte und vor der sie sich fürchtete. Sie musste sich eingestehen, dass sie schon wieder kurz davorstand, diese Leere mit Achim zu füllen. Vielleicht lag es ja in der Natur des Menschen, sich an einem anderen zu berauschen, die Welt so interessant zu machen und sich vom eigenen Ich zu entlasten und vom eigenen Leben. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie sich immer solche Männer gesucht hatte. Doch irgendwo musste doch auch die bedingungslose, nie enden wollende Liebe und Leidenschaft auf sie warten. Das echte Beziehungsglück, das der Normalität von unnötigen Streitgesprächen oder profanen Chipsabenden auf der Couch trotzte.

Miriam hatte gar nicht bemerkt, dass sie bereits wieder am Tor von Isiris Finca angekommen waren. Der kleine batteriegespeiste Unterstützungsmotor leistete wahre Wunder. Man konnte die Gedanken schweifen lassen und kam nicht bei jeder kleinsten Steigung gleich außer Atem.

„Wir sehen uns in zwei Stunden. Dann hast du auch noch Zeit für eine kleine Siesta. Das gehört hier zum Tagesprogramm“, verabschiedete sich Achim.

War das wirklich so oder hielt er sie etwa schon für eine Oma, die ihr Mittagsschläfchen brauchte, um am Abend durchzuhalten? Egal. Sie würde sich auf keinen Fall mit ihm einlassen. Miriam lehnte das Rad gegen die Frontwand ihrer Hütte und betrat ihre kleine Unterkunft, in der es angenehm kühl war. Seufzend ließ sie sich auf das Bett fallen, dass irgendeine indische Göttin inzwischen gemacht haben musste.

Wie oft hatte sie sich in letzter Zeit über die Liebe Gedanken gemacht. Sich im Internet durch die Seiten verschiedenster Coaches und Lebensratgeber gearbeitet, sich immer wieder mit Männern getroffen und wiederholt neue Enttäuschungen erlebt. Wahrscheinlich lag es an ihr. An ihren zu hohen Erwartungen, an ihrer Unfähigkeit, mit Männern umzugehen, die sich oft kindischer verhielten als Vincent mit zehn Jahren. Ihre Freundin Isabell, die drei Kinder hatte, sagte immer – da kommt es auf das vierte auch nicht mehr an. Aber das war schließlich nicht, was sie anstrebte. Das Gedankenkarussell in ihrem Kopf wollte und wollte nicht aufhören. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit einem kleinen Trick auf eine grüne Wiese zu beamen und immer nur grün zu denken, grün ... grün ... grün ... was tatsächlich half und sie in einen kurzen, unruhigen Schlaf fallen ließ.

Eine aufdringliche Fliege, die sich auf ihre Nase setzte, weckte sie glücklicherweise rechtzeitig auf, sodass sie noch eine Viertelstunde zum Duschen und Stylen hatte. Das Wasser war hier auch ohne Boiler glühend heiß, was daran lag, dass die Wasserleitungen über der Erde lagen und von der Sonne durchgewärmt wurden. Miriam blickte in den Spiegel.

Noch hatte sie etwas zu bieten. Selbst mit nassen Haaren sah sie gut aus. Hohe Wangenknochen, sinnliche Lippen, leicht gebräunter Teint, der sich sogar über den Winter hielt. Omi sagte immer, das käme davon, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft so viele Karotten gegessen hatte. Sie tippte eher auf einen aus südlichen Gefilden stammenden Vater. Doch genau wusste sie das auch nicht. Ihre Großmutter konnte es ihr nicht sagen, und ihre Mutter hatte dieses Geheimnis mit ins Grab genommen. Eine Therapeutin, die Miriam irgendwann mal mit Anfang dreißig aufgesucht hatte, als sie glaubte, das Leben wüchse ihr über den Kopf, mutmaßte, ihre Männerprobleme rührten daher, dass sie ihren Vater nie kennengelernt hatte. Doch so ganz überzeugt war Miriam davon nicht. Fast alle ihrer Freundinnen klagten über Männer, und die meisten davon waren immerhin mit Vätern aufgewachsen.

Nachdem sie sich angezogen hatte, öffnete sie ihr Schminktäschchen, holte Lidschatten, Lippenstift und Wimperntusche heraus und begann sich angemessen hübsch zu machen. Darin war sie eine Meisterin. Immerhin hatte sie beinahe zwanzig Jahre lang Maskenbildnerinnen über die Schulter geschaut, die selbst der abgewracktesten Schauspielerin, die zwei Tage durchgesoffen hatte, zu Schönheit verhalfen.

Es klopfte an ihre Tür. „Bist du so weit?“, ertönte Achims Stimme.

„Ja, komm ruhig rein.“

„Wow!“ Er scannte sie mit Kennerblick von oben bis unten.

Ihre kleine Einkaufstour vor ihrer Abreise hatte sich gelohnt. Sie trug eine Art Hemdblusenkleid aus schwarzem Satin, das ihre Kurven ziemlich vorteilhaft zur Geltung brachte, dazu matt silberne Sandaletten mit kleinen Riemchen, die bis über die Knöchel reichten. Ihre blonden Haare hatte sie gewollt unordentlich hochgesteckt, so dass die antiken silbernen Ohrringe, die ihre Großmutter ihr geschenkt hatte, gut zu sehen waren. Alles in allem hipp, trotzdem ein wenig elegant, aber nicht für den Anlass zu übertrieben.

„Du siehst klasse aus!“

Das war es, was Miriam hören wollte, auch wenn sie sich eher nicht mit ihm einlassen würde.

Offensichtlich waren sie nicht die Einzigen, die zu dem Konzert wollten, denn der Bus war gerappelt voll. Luis Moreira galt auf der Insel als eine anerkannte Größe auf mehreren Gebieten der Kunst. Es hieß, er wäre Schüler des berühmten Caesar Manrique gewesen, und was der auf der Nachbarinsel Lanzarote darstellte, galt für Moreira hier. Das erfuhr Miriam jedenfalls aus den Gesprächen der deutschen Touristen. Musiker, Dichter, Maler, Bildhauer, außerdem hatte Moreira mehrere Plätze mit prachtvollen Mosaiken gestaltet. Ein Multitalent. Zusätzlich kümmerte er sich noch um den Naturschutz, und durch seine Initiative sei angeblich schon so manche Bausünde verhindert worden.

Als sie am Busbahnhof ankamen, brauchten sie nur dem Menschenstrom zu folgen, sodass sie automatisch zur Plaza geleitet wurden. Der weitläufige Platz war auf der einen Seite von einer alten Kirche mit einem mächtigen, aus Lavasteinen gebauten Glockenturm und auf der anderen vom Ayuntamiento, dem Rathaus, gesäumt. In der Mitte hatte man eine riesige Bühne aufgebaut, vor der sich bereits das erwartungsvolle Publikum drängte. Weiter hinten standen unter riesigen, tagsüber schattenspendenden Lorbeerbäumen Tische und Stühle vor drei Bars, die ebenfalls gut besucht waren. Der Lautstärkepegel war schon jetzt so hoch, dass Miriam sich fragte, ob die Musiker, die gerade die Bühne betraten, das übertönen konnten. Doch als ein gepflegter und noch immer recht drahtig wirkender Mann um die 70 an das Mikrofon trat, verstummte die Menge augenblicklich.

Luis Moreira sprach über das große Privileg, auf dieser Insel leben zu dürfen, was man gar nicht hoch genug schätzen könnte. Er pries die Natur, die Vielfalt der Pflanzen, das saubere Wasser des Atlantiks und das gute Klima. Gleichzeitig warnte er vor den Gefahren, die die Moderne mit sich brachte. Luftverschmutzung, Müll, zu viele neue Häuser, zu viele Autos, zu viele Supermärkte ... Das alles würde schon jetzt den einstigen Charme der Insel schmälern. Er sprach klar und deutlich, so dass Miriam beinahe jedes Wort verstand. Aber vor allem verstand sie eines. Dieser Mann liebte seine Heimat. Auch Miriam waren bereits einige Veränderungen aufgefallen. Man sah nicht mehr wie bei ihrem ersten Besuch hier die alten Frauen, die noch das frisch geschnittene Grünzeug für die Ziegen gebündelt auf dem Rücken trugen, ebenso wenig wie alte verbeulte Autos, von denen man dachte, sie würden an der nächsten Ecke zusammenkrachen.

Nachdem der Künstler für seine Ausführungen mit tobendem Applaus belohnt worden war, begann die Band zu spielen, und Moreira sang mit einer alles durchdringenden Stimme. Natürlich immer wieder von seiner großen Liebe, der Insel La Palma. Und irgendwie ging Miriam das ganz schön unter die Haut. Hatte es sie deshalb hierhergezogen? War dieses Fleckchen Erde möglicherweise ihre Zukunft?

Achim schien weniger ein Fan dieser Art Musik zu sein. Schon kurz vor der Pause begann er zu gähnen und wollte lieber in einer der Bars etwas trinken gehen.

„Dort hört man doch noch genug von den Schmachtfetzen“, maulte er. „Die Anlage, die sie hier aufgebaut haben, beschallt die halbe Stadt.“

Er nahm ihre Hand und führte sie weg von den Massen in eine kleine Seitengasse, wo aus alten Holzpaletten Bänke und Tische zusammengenagelt waren, was jedoch durchaus seinen Charme hatte. Miriam nahm Platz, während Achim an der Bar zwei Mojitos organisierte. Er stieß mit ihr an, sah ihr tief in die Augen und zwang sie so, das ebenfalls zu tun.

„Du weißt schon, warum?“

„Wieso?“

„Sonst gibt es sieben Jahre schlechten Sex.“

Miriam lachte. „Wobei sich die Frage stellt: Ist schlechter Sex besser als kein Sex?“

„Auf keinen Fall“, gab Achim grinsend zurück. „Für schlechten Sex sind wir zu alt, genauso wie für schlechtes Essen und schlechten Wein.“

Miriam gab ihm recht. „Gutes Essen und guter Wein sind allerdings relativ einfach zu organisieren“, gab sie zu bedenken.

„Guter Sex auch, jedenfalls für eine so attraktive Frau wie dich.“

Er grinste sie frech an. „Ich jedenfalls mache es dir leicht.“

Miriam hatte nichts anderes erwartet. „Bist du verheiratet oder hast du eine Freundin?“, ging sie diesmal selbst in die Offensive.

„Ich bin single“, erwiderte er etwas zu schnell und streckte Miriam beide Handrücken entgegen. „Oder siehst du hier irgendwo einen Ring?“

Er war wirklich unkompliziert. Und wann hatte sie das letzte Mal mit einem Mann geschlafen? Sie konnte sich schon gar nicht mehr erinnern, so lange war das her. Und unattraktiv war er ja schon mal gar nicht. Allerdings wusste sie schon jetzt, wie sie sich hinterher fühlen würde.

In diesem Moment lief ein Paar an ihnen vorbei. Miriam blickte nur auf, weil die beiden lautstark miteinander stritten.

Und dann trafen sich ihre und seine Augen für den Bruchteil einer Sekunde. Miriam brach augenblicklich der Schweiß aus. Zitternd stellte sie ihr Glas ab. Aber da waren die beiden schon vorbeigegangen, und ihre lauten Stimmen verhallten in der engen, nur schwach beleuchteten Gasse.

Miriam trank in einem Rutsch ihren Mojito aus und dankte Gott, dass er den Menschen den Alkohol gegeben hatte, um solche Momente zu überstehen.

„Das war Carlos“, flüsterte sie.

Achim schlug die Augen zum Himmel. „Ja, und soviel ich gesehen habe, war er nicht allein. Also? Was zögerst du noch?“ Er breitete seine Arme aus und lachte sie an.

Was für ein Sunnyboy! Aber Miriam konnte sich unmöglich auf ihn einlassen. Nicht nachdem sie gerade ihm in die Augen gesehen hatte. Nicht bevor sie zumindest mit ihm gesprochen hatte. Ob er wusste, dass sie auf der Insel war? Hatte er sie erkannt?

Sein Blick schien nicht überrascht, wenn auch der Moment viel zu kurz war, um das zu beurteilen. Und wer war diese Frau? Seine Frau? Wie Miriam auf die Schnelle sehen konnte, sah sie ziemlich gut aus. Enge Jeans, knappes Top, lange schwarze Haare, die bis auf den wohlgeformten Po reichten. Passte zu ihm. Für einen Palmero war Carlos recht groß und kräftig mit verhältnismäßig langem, dunklen, welligen Haar. Schon damals hatte er sich immer darüber lustig gemacht, wie sehr seine Eltern das störte und wie sehr sie sich einen Sohn gewünscht hätten, der noch hinter dem alten Franko-Regime stand und das auch in seinem Aussehen und seinen Ansichten zum Ausdruck brachte. Aber da waren sie bei ihm an der falschen Adresse. Carlos fühlte sich vielmehr zu den Hippies hingezogen, die schon damals die Insel, vor allem den Norden, bevölkerten.

„Wollen wir gehen und dich auf andere Gedanken bringen?“, raunte Achim in ihr Ohr, sodass sie prompt Gänsehaut bekam.

„Gehen schon, aber das mit den anderen Gedanken wird schwierig“, sagte Miriam und rutschte von ihm ab.

„Na, denn. Du musst es wissen. Manche Frauen wollen einfach leiden. Und ich fürchte fast, du gehörst dazu.“

Miriam stand auf und legte zehn Euro auf den Tisch. Das brauchte sie sich jetzt wirklich nicht anhören. „Tschau, die Drinks gehen auf mich. Ich fahr allein zurück. Viel Spaß noch.“

Achim grinste nur, auch wenn nicht ganz so selbstsicher wie bisher. Wahrscheinlich war er solche Abfuhren nicht gewohnt. Aber das war Miriam jetzt auch egal. Sie war total aufgewühlt und konnte keine Rücksicht auf die Seelenverfassung eines routinierten Charmeurs nehmen.

Der Geschmack von Kaktusfeigen

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