Читать книгу Der Geschmack von Kaktusfeigen - Susanne Aernecke - Страница 6

1. Kapitel

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„Ton ab!“

„Ton läuft …“

„Kamera!“

„Läuft.“

„Und bitte …“

Die Klappe wurde geschlagen und Miriam schaltete auf Vollkonzentration, so wie immer, wenn diese Worte erklangen. Stimmte der Anschluss zur vorherigen Szene? Trug der Schauspieler seine Uhr am richtigen Handgelenk? Saß die Frisur der Protagonistin, und vor allem, sprachen die Pappnasen auch den im Drehbuch vorgegebenen Text?

„Du bist es. Ich habe mein Leben lang auf dich gewartet“, säuselte Jörg Fleming, altgedienter Serienschauspieler, der seit zwanzig Jahren 30-Jährige spielte.

„Ist das wahr?“, hauchte die blonde Jungschauspielerin zurück.

„Nichts könnte mich davon abhalten, den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen.“

Miriam checkte kurz den Dialog im Drehbuch. Er war tatsächlich so schlecht. Der Drehbuchautor musste entweder jemand sein, der seine Rente mit diesem Schrott aufbesserte oder er hatte echt keine Ahnung. Sie jedenfalls glaubte nicht mehr daran, den Rest ihres Lebens mit irgendjemandem zu verbringen. Ihre Beziehungen hielten meist nur ein paar Monate. Und das war oft schon anstrengend genug gewesen. Restliches Leben bedeutete in ihrem Fall ... na ja, noch mindestens 30 Jahre. Und ihre gute Freundin Sarah, die schon lange verheiratet war, hatte ihr kürzlich erst bestätigt, die ersten 20 seien die schwierigsten, danach würde es leichter.

Fleming setzte zum Kuss an.

„Aus. Aus. Aus!“, schrie der Regisseur. „Seid ihr jetzt alle völlig durchgeknallt? Das ist eine Liebeskomödie und kein Vampirfilm! Du siehst aus, als würde er dir gleich die Kehle durchbeißen“, herrschte er die Schauspielerin an, die er extra wegen ihrer großen, ängstlichen Rehaugen engagiert hatte.

Miriam seufzte tief. Sie ahnte, was jetzt gleich kommen würde. Sie arbeitete schon ein gefühltes Jahrhundert als Regieassistentin und hatte während dieser Zeit einiges mitgemacht. Vor allem mit diesem Regisseur. Markus Ellinger war nicht nur eine ihrer Kurzbeziehungen, sondern auch der Vater ihres inzwischen 18 Jahre alten Sohnes Vincent. Und wenn einer seine Wutausbrüche und deren Wirkung auf andere kannte, dann war sie es.

Prompt brach die Kleine auch in Tränen aus, was Susi, der Maskenbildnerin, die neben Miriam stand, einen tiefen Seufzer entlockte. Sie zückte ihre Puderquaste, um das sich ankündigende Desaster möglichst früh zu stoppen. Doch keine Chance. Die Tränen kullerten die Wangen hinunter und hinterließen ihre Spuren auf dem geschminkten Puppengesicht. Die Kleine schluchzte filmreif auf und verließ mit einem beleidigten Blick zu Markus das Set. Er hingegen nickte Miriam auffordernd zu. Sie wusste, was das bedeutete. Was soll’s, dachte sie. Sie hatte schon so oft hinter ihm aufgeräumt, dass es auf dieses eine Mal auch nicht mehr ankam. Aber trotz all dem fühlte sie plötzlich eine tiefe Abneigung, der Schauspielerin hinterherzulaufen.

Der Aufnahmeleiter, ein junger Typ, der sich seine Sporen verdienen wollte, klatschte in die Hände. „So, können wir dann mal wieder? Wir hängen schon mit drei Szenen hinterher.“

Miriam wollte sich zusammenreißen, wie schon so oft – oder besser gesagt, eigentlich wie immer. Aber plötzlich fühlte sie sich wie gelähmt, unfähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Zudem hatte sie das Gefühl, dass das Mittagessen – Spinat Cannelloni, die nicht einmal schlecht geschmeckt hatten – ihren Weg nach oben suchten. Ihr war grottenschlecht. Was war nur los? Sie hatte so etwas schon mindestens hundertmal durchexerziert. Mit eitlen Schauspielern, alternden Diven und Neulingen. Sogar Kameraleute schaffte Markus zu vergraulen, und selbst die hatte sie heldenhaft zurückgeholt. Zumindest die meisten. Der Fall hier war ja schon fast lachhaft.

„Miriam, was ist los?“, schallte Markus’ Stimme zu ihr rüber. „Ich will drehen. Wir sind hier schließlich nicht im Wartezimmer eines Zahnklempners.“

Sie hasste es inzwischen, wie er sich immer in Vergleichen ausdrückte. „Hol sie doch selbst zurück“, rutschte es ihr völlig unüberlegt heraus. „Schließlich ist sie deinetwegen weggerannt.“

Markus starrte sie fassungslos an. Und nicht nur er. Das ganze Filmteam schien zur Salzsäule erstarrt.

Miriam richtete sich auf, ihr war klar, was gleich über sie hereinbrechen würde. Meist begann es mit einer kleinen Rötung am Hals. Doch als sie ihn jetzt anblickte, musste sie feststellen, dass bereits sein ganzes Gesicht rot angelaufen war.

„Nimm das sofort zurück! Und beweg deinen fetten Arsch“, schrie er sie an.

Die Cannelloni stiegen höher. Wenn sie Markus nicht vor die Füße kotzen wollte, musste sie schleunigst das Set verlassen. Aber vielleicht war das gar keine schlechte Idee. Ihr Körper drückte aus, was sie schon lange fühlte. Es kotzte sie alles an. Alles! Wie mit ihr umgegangen wurde, wie alle ihre eigenen Befindlichkeiten rücksichtslos über andere ausschütteten. Dass man einander nicht half, wenn jemand Schwäche zeigte, sondern auch noch in der Wunde herumbohrte. Es reichte ihr. Komplett! Auch wenn diese kleine Szene nicht rechtfertigte, was sie jetzt tun würde, so hatte sie doch das Fass zum Überlaufen gebracht.

Miriam klappte ihr Drehbuch zu und warf es Markus mit einem lauten Knall vor die Füße. Dann drehte sie sich um, lief in das zum Maskenraum umgestaltete Badezimmer, schnappte sich ihren Mantel und verließ ohne einen weiteren Ton die feudale Altbauwohnung, in der gedreht wurde. Ihr Herz klopfte, Schweiß stand auf ihrer Stirn und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Doch sie setzte tapfer einen Schritt vor den anderen. Als sie den Aufzug betrat, stieß sie unsanft mit einem der Produktionsfahrer zusammen.

„Schon fertig für heute?“, fragte der erstaunt.

„Nicht nur für heute“, gab sie zurück und war froh, dass sich die Aufzugtür unmittelbar schloss und sie keine weitere Erklärung abgeben musste. Der Moment des Alleinseins ließ sie langsam wieder zu Bewusstsein kommen. Hatte sie das gerade wirklich getan? Das war doch nicht sie!

Ihr ganzer Körper begann zu zittern. Beinahe so wie früher, als sie noch mit Markus zusammen war und seine Wutanfälle fast täglich erleben durfte.

Erst als sie durch das edle Foyer des Jugendstilhauses nach draußen ging und ihr der kalte Februarwind um die Nase wehte, wurde sie ruhiger. Und nachdem sie in ihrem Auto saß, an dem erfreulicherweise einmal kein Strafzettel hing, überkam sie sogar ein Gefühl der Euphorie. Es war richtig gewesen. Sie hatte schon lange keine Lust mehr, sich zum Affen machen zu lassen. Das war nicht das Leben, das sie führen wollte.

An der ersten roten Ampel holte sie den USB-Stick mit Helene-Fischer- Schlagern, den sie im Handschuhfach versteckte, um Peinlichkeiten gegenüber Nicht-Fans zu vermeiden, steckte ihn in die Buchse ihres Radios und sang, als die ersten Töne erklungen, lauthals mit.

Wahrscheinlich würde man sie nach ihrem Aufstand heute fristlos kündigen oder zumindest nur noch so lange weiterbeschäftigen, bis man einen Ersatz gefunden hatte. Aber nicht mal das würde sie mitmachen. Auf sie wartete ein anderes Leben.

Da es früher Nachmittag war, und sie nicht wegen ständiger Überstunden erst kurz vor Mitternacht nach Hause kam, fand Miriam einen Parkplatz direkt vor der Eingangstür des Mehrfamilienhauses, in dem sie wohnte. Während sie die Treppen in den vierten Stock hinaufstieg, ließ ihre Euphorie langsam nach. Sie ging in die Küche, machte sich eine Tasse frischen Espresso und blickte über die regennassen Dächer Münchens. Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft. Das monotone Ticken der Küchenuhr und das Tropfen auf das blecherne Außenfensterbrett trugen dazu bei, dass ihre Stimmung immer mehr in den Keller rutschte. Sie fühlte sich plötzlich fürchterlich allein.

Was sollte sie denn den lieben langen Tag tun, wenn sie jetzt wirklich alles hinschmiss? Und dann stand auch noch der Winter bevor, mit den vielen grauen Tagen, die nie einfach für sie waren. Und vor allem, von was sollte sie leben? Hartz 4? Hatte sie doch einen Fehler gemacht? Sollte sie sich entschuldigen und reumütig zurückkehren? Markus war schon so oft ausgerastet, da würde man ihr das eine Mal sicher verzeihen.

Das Geräusch des Schlüssels in der Wohnungstür kündigte an, dass Vincent von der Schule nach Hause kam. Sie hörte, wie er seinen Rucksack auf dem Boden abstellte und rief ihm ein Hallo entgegen. Kurz darauf erschien er mit fragendem Blick in der Küchentür.

„Was machst du denn um diese Uhrzeit hier?“ Er verkniff sich einen Hustenanfall, während er geräuschvoll das Fenster öffnete. Miriam drückte schnell die Zigarette aus. Sie hatte schon so oft versucht, mit dem Rauchen aufzuhören, dann aber letztendlich nie die Kurve gekriegt.

„Da muss ja etwas ganz Spektakuläres passiert sein“, stellte ihr Sohn trocken fest.

„Kann man so sagen.“

Er sah sie neugierig an.

„Ich hab’s hingeschmissen. Hab Markus vor dem ganzen Team das Drehbuch vor die Füße geworfen.“

„Na, endlich“, erwiderte Vincent fade. „Das war doch längst fällig, Ma.“

Wie schon so oft war Miriam von ihrem Sohn erstaunt, der für seine jungen Jahre oft mehr Durchblick bewies als sie selbst.

„Der abgespackte Egoshooter! Sorry, auch wenn er mein Vater ist, aber das hat er verdient. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass du irgendwann mal nach Hause gekommen bist und mir von einem Traum-Drehtag vorgeschwärmt hast, außer ...“, er grinste sie verschmitzt an, „... als dieser C-Schauspieler aus Hollywood einen Zwei-Sekunden-Gastauftritt bei euch hatte.“

Miriam warf ihre Zigarettenschachtel nach ihm. Natürlich war es damals ein großer Moment gewesen, dass Chris Anderson für zwei Stunden am Set aufgetaucht war und sie dann noch für den Abend an die Hotelbar des Vier Jahreszeiten eingeladen hatte. Allerdings war schon nach dem zweitem Glas Champagner klar, dass es ihm weniger darum ging, ihr Kontakte in Hollywood zu verschaffen. Und da sie sich eindeutig zu schade für eine schnelle Nummer war, endete der Abend früher als gedacht. So erging es ihr meistens mit Männern aus der Branche. Einerseits war sie froh, dass sie für ihre 40 noch recht knackig aussah, andererseits hasste sie es, wenn man sie mit karrierewütigen, zu allem bereiten Schauspielerinnen verwechselte.

„Aber was jetzt?“ Sie sah ihren Sohn etwas ratlos an.

„Ich mach uns erst mal was zu essen. Kommt Zeit, kommt Rat.“

Miriam seufzte tief. Der Spruch hätte von ihrer Großmutter kommen können. Kein Wunder! Vincent hatte, als er klein war, viel Zeit mit ihr verbracht. Omi war allerdings inzwischen 91 und lebte in einer Senioren- Residenz am Tegernsee. Mindestens einmal im Monat fuhr Miriam nach Bad Wiessee, um sie dort zu besuchen. Omi hatte selbst jetzt noch immer ein Ohr für die beiden. Ganz anders als Markus’ Eltern, die nie wirklich etwas von ihrem Enkel wissen wollten. Nur zum Geburtstag und zu Weihnachten, und auch nur, weil sich das so gehörte. Dass ihr wunderbarer, hochtalentierter Sohn Markus sich mit einer Frau wie ihr eingelassen hatte, war ihnen bis heute ein Dorn im Auge.

Miriam lehnte sich zurück und sah Vincent zu, wie er den Salat wusch, ein paar Krevetten aus dem Eisfach holte und sie in kaltes Wasser zum Auftauen legte. Er kochte für sein Leben gern und überraschte seine Mutter immer wieder mit neuen Kreationen. In ein paar Wochen würde er 18 sein und sein Abitur in der Tasche haben – und dann seinen eigenen Weg gehen. Leider. Schnell vertrieb sie diesen Gedanken wieder. Er trug nicht gerade dazu bei, ihre jetzige Situation in einem helleren Licht zu sehen.

„Ich mach uns nur eine Kleinigkeit. Du bist doch heute zum Abendessen verabredet.“

Ach du Schreck! „Das muss ich sofort absagen“, erwiderte sie. Das fehlte gerade noch. Zwar hatte sie darauf bestanden, ihre neueste Bekanntschaft bei Paarship möglichst schnell persönlich kennenzulernen, aber heute passte ihr das überhaupt nicht. Sie verzog das Gesicht.

„Du gehst da hin“, sagte Vincent bestimmt. „Das bringt dich auf andere Gedanken, Ma. Oder willst du hier den ganzen Abend rumhängen und vielleicht noch darüber nachgrübeln, Markus morgen wieder die Füße zu lecken?“

Miriam sah ihn überrascht an. Vielleicht hatte er ja recht. Vielleicht sollte alles so kommen, und sie traf heute den Mann, der mit ihr ein anderes Leben leben würde. Das alte jedenfalls ging zu Ende, und heute hatte sie endlich den Schlusspunkt gesetzt.

Der Geschmack von Kaktusfeigen

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