Читать книгу Der Geschmack von Kaktusfeigen - Susanne Aernecke - Страница 9
4. Kapitel
ОглавлениеDie Maschine startete pünktlich um 6 Uhr 50. Miriam war es gewohnt, früh aufzustehen. Sie hatte sogar eine S-Bahn früher als gedacht erwischt und konnte so noch ganz in Ruhe am Flughafen einen Kaffee trinken und ein Croissant essen. Im Gegensatz zu den meisten Menschen, die viel geschäftlich unterwegs waren, liebte sie es, zu fliegen. Es war oft die einzige Zeit gewesen, in der niemand sie anrufen konnte, um ihr etwas aufzutragen oder sie anzumeckern. Über den Wolken hatte sie immer ihre Ruhe gehabt und diese wenigen Stunden genossen.
Statt Anzugträger saßen heute gut situierte Rentner in Freizeitklamotten in der Maschine. Fast alle hatten ihre Wanderschuhe an, was nur vernünftig war, denn das erlaubte Gepäckstück durfte nicht mehr als zwanzig Kilo wiegen. Sie selbst war, genauso wie vor achtzehn Jahren, nur mit einem Rucksack unterwegs, der als Handgepäck durchging. Viel brauchte man bei den warmen Temperaturen sowieso nicht. Und was fehlte, konnte sie überall kaufen. La Palma war schließlich nicht das Ende der Welt, sondern wie ihr jetzt erst wieder bewusst wurde, eine sehr beliebte Ferieninsel. Was für ein Glück, dass sie noch ein Ticket ergattert hatte. Eigentlich war sie nicht der Typ für spontane Entscheidungen. Doch im Moment schien alles anders zu sein.
Als sie ihren Rucksack in die Gepäckablage wuchtete, wurde sie von einer Frau in ihrem Alter angesprochen, die sich als ihre Sitznachbarin herausstellte.
„Machen Sie Urlaub oder leben Sie auf der Insel?“
Miriam sah sie erstaunt an. „Ich mache Urlaub, und Sie?“
„Ich lebe dort schon lange. War die beste Entscheidung meines Lebens.“ Sie strahlte Miriam an. „Ich konnte den deutschen Winter einfach nicht mehr ertragen.“
Miriam nickte zustimmend. „Das kann ich gut verstehen.“ Sie rutschte in die Sitzreihe hinein und setzte sich auf ihren Platz am Fenster.
„Aber so alles hinter sich abzubrechen, dafür braucht man ganz schön Mut, oder?“, führte sie die Unterhaltung interessiert fort.
„Halb so schlimm. Ich bin übrigens Silvia.“
„Miriam. Und wie lange leben Sie schon auf La Palma?“
„Oh, lange.“ Sie lachte. „Hat die Insel dich erst mal im Griff, lässt sie dich nicht wieder los.“
„Und wie sieht es mit Geld verdienen aus? Schließlich kann man ja nicht nur von Luft und Liebe leben“, fragte sie direkt und wunderte sich mal wieder über sich selbst.
Silvia setzte sich ebenfalls und schnallte sich an. „Am Anfang schon. Ich hab eine Weile in einer Hippie-Kommune im Norden gelebt. Keiner von uns hatte einen Pfennig, aber irgendwie kamen wir über die Runden.“
Miriam sah sich Silvia genauer an. Sie trug ein dunkelblaues Wickelkleid, das ihre Figur vorteilhaft zur Geltung brachte, und wirkte sehr gepflegt, fast schon elegant.
„Und ich muss sagen, im Nachhinein war es die schönste Zeit meines Lebens. Doch man kommt in die Jahre. Irgendwie sind wir ja doch, zumindest unsere Generation noch, so erzogen worden, dass wir einer geregelten Arbeit nachgehen müssen, wenn wir ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft sein wollen.“ Sie grinste keck. „Eigentlich Blödsinn. Aber die Konditionierung ist da. Was machst du?“
„Ich bin Regieassistentin – oder besser gesagt, ich war es bis vorgestern“, fügte Miriam hinzu.
„Spannender Beruf, oder? Aber wie du das sagst, klingt es irgendwie nach keiner Lust mehr.“
„Kann man so sagen“, erwiderte Miriam trocken.
„Dann bist du auf La Palma goldrichtig. Wenn auch die Dinge nicht mehr so sind wie vor zwanzig Jahren, lässt es sich dort doch super angenehm leben.“
Schon merkwürdig, dass sie gerade neben dieser Frau gelandet war, die auf La Palma lebte und das offensichtlich nicht schlecht. Miriam war sonst nicht der Typ, der mit jedem gleich eine Unterhaltung anfing, aber Silvia schien echt in Ordnung zu sein.
„Hast du Familie?“
„Einen Sohn, er wird bald achtzehn.“
„Und der Vater hat sich aus dem Staub gemacht?“
„Nicht direkt, aber wir sind schon lange nicht mehr zusammen.“
„Das heißt, du hast den Bengel allein großgezogen?“
Miriam nickte.
„Dann würde ich sagen, jetzt bist du mal dran.“
Irgendwie schon, dachte Miriam. Aus der Perspektive hatte sie es noch gar nicht gesehen. Das Leben als alleinerziehende Mutter war ihr inzwischen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie es schon gar nicht mehr als Belastung sah. Früher war das anders gewesen, und während der Schwangerschaft hatte sie nur Panik geschoben und war überzeugt, niemals in der Lage zu sein, ein Kind großzuziehen. Umso stolzer war sie jetzt, dass Vincent sich so toll entwickelt hatte.
„Also wenn du jemanden zum Quatschen brauchst, kannst du gerne bei mir im Laden vorbeikommen.“ Sie holte ihre Handtasche unter dem Vordersitz hervor und gab Miriam ihre Visitenkarte. Silvia Taubner, Vulkanschmuck und mehr. Los Llanos, Calle Dr. Fleming 25.
„Danke. Ich komme gerne mal vorbei“, sagte Miriam und steckte die Karte in die Brusttasche ihrer Jeansjacke.
„Ich wünsche dir jedenfalls, dass du auf der Insel die Wahrheit über dich und dein Leben findest. Dass du das findest, nachdem du dich in deinem tiefsten Inneren sehnst.“
Miriam schluckte. Die Frau kannte sie doch so gut wie gar nicht. Dafür war sie ganz schön direkt.
„Keine Sorge, ich wollte dir nicht zu nahetreten, aber wir sind hier alle so drauf.“ Silvia hatte offensichtlich Miriams Gesichtsausdruck richtig interpretiert. „Wenn du länger abseits vom großen Getriebe lebst, hast du keine Lust mehr auf Small Talk.“
Gut zu wissen, dachte Miriam. Die Frau, bei der sie sich eingemietet hatte, würde bestimmt ähnlich sein. „Kennst du eine Isiris, die kleine Bungalows vermietet?“
Silvia grinste. „Na, klar. Die meisten, die so lange hier sind, kennen sich.“
„Und wie ist sie so?“
„Das musst du schon selbst herausfinden. Aber keine Sorge. Die klebt dir nicht auf der Pelle, wenn du das nicht willst.“ Silvia rückte sich ihr Nackenkissen zurecht, schloss die Augen und gab damit kund, dass die Unterhaltung für sie vorerst beendet war.
Sie waren inzwischen längst gestartet und Miriam machte es sich ebenfalls bequem, öffnete ihren Sicherheitsgurt und stellte die Rückenlehne nach hinten. Das gleichmäßige Brummen der Maschine entführte sie in die Zeit, in der sie zum ersten Mal in Richtung dieser Insel unterwegs gewesen war. Wie unerfahren, um nicht zu sagen, unschuldig sie damals doch war. Sie hatte eine kaufmännische Ausbildung in einem kleinen Kinderbuchverlag hinter sich gebracht und die Möglichkeit bekommen, dort weiterzuarbeiten.
Doch eine Freundin, die bei einer Filmproduktion arbeitete, hatte sie eines Abends mit zu einer Abschlussfeier genommen. Dort war es dann zu der schicksalhaften Begegnung mit Markus gekommen. Natürlich war sie voller Bewunderung für ihn gewesen. Er war zehn Jahre älter und hatte gerade den Bundesfilmpreis für seinen ersten abendfüllenden Kinospielfilm bekommen. Außerdem sah er nicht schlecht aus und verwendete genau das Aftershave, das sie damals an Männern am liebsten roch. Als er sie nach mehreren Gläsern Weißwein und einigen härteren Drinks abschleppte, war sie am nächsten Morgen sogar stolz darauf, in seinem Penthouse über den Dächern Schwabings aufzuwachen. Jetzt schämte sie sich beinahe, wenn sie daran dachte. Doch das waren Gott sei Dank „Tempi Passati“. Ihre Liaison dauerte kein Jahr, aber immerhin lang genug für sie, um in die Filmszene hineinzuschnuppern und den Traumberuf Regieassistentin zu erlernen.
Als sie Markus jedoch mehrfach mit irgendwelchen Jungschauspielerinnen erwischt hatte, hatte sie ihm damals nicht das Drehbuch, sondern die Beziehung vor die Füße geworfen und war wütend und verzweifelt nach La Palma geflogen, um sich ein paar Wochen Auszeit zu gönnen. Sie hatte den Tipp von einer Kollegin bekommen, und so wurde die Insel für sie zu einer Art Rettungsstation. Und Carlos ihr Retter.
Miriam musste eingeschlafen sein, denn die Stimme der Flugbegleiterin, die die Landung ankündigte, schreckte sie auf. Sie sah aus dem Fenster.
Die Wolkendecke war aufgerissen, und unter ihr ragte die bis zu den felsigen Gipfeln grün bewachsene Vulkaninsel geheimnisvoll aus dem glitzernden Meer. Was sie dort wohl erwarten würde? Eines war gewiss: Auf irgendeine Weise würde sie erkennen, in welche Richtung ihr Leben weiter verlaufen würde und sich vielleicht wieder näherkommen. Sie hatte sich irgendwie verloren, den Lebensplan verlegt. Vielleicht half ja der Abstand von allem, ihn wiederzufinden.
Die Anschnallzeichen blinkten auf, während die Maschine schnell tiefer ging. Miriam erinnert sich wieder, dass der Flughafen von Santa Cruz de La Palma als einer der schwierigsten der Welt galt. Sie merkte, wie ihre Hände feucht wurden und sich um die Armlehnen klammerten.
„Alles okay?“, fragte Sylvia.
Miriam nickte nur und konzentrierte sich darauf, tief ein- und auszuatmen.
„Kurze Landebahn und Fallwinde“, sagte Silvia beruhigend, während beide den Gurt umlegten. „Aber du kannst ganz entspannt sein. Sie nehmen für diese Flüge nur erfahrene Piloten.“
Als Kind hatte Miriam enorme Flugangst gehabt, diese aber inzwischen ganz gut überwunden. Trotzdem war sie erleichtert, als die Maschine mit einem heftigen Ruck aufsetzte und stark abbremste, so dass der Gurt ihren Bauch etwas einschnürte. Die Passagiere klatschten laut, was bei Silvia ein ironisches Grinsen hervorrief. Doch Miriam hätte am liebsten mitgeklatscht.
„Ich werde übrigens von meiner Freundin abgeholt. Wenn du willst, können wir dich bis Los Llanos mitnehmen. Von dort fährt alle halbe Stunde ein Bus nach Tazacorte“, bot Silvia ihr an, während sie am Gepäckband auf ihre Koffer warteten. Und da Miriam weder einen Wagen gemietet noch sich über die Busfahrzeiten informiert hatte, nahm sie das Angebot gerne an.