Читать книгу Der Geschmack von Kaktusfeigen - Susanne Aernecke - Страница 8
3. Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Morgen wachte sie wie gewohnt um sechs Uhr auf, auch ohne, dass der Wecker läutete, und ihr Entschluss stand fest. Daran änderte sich auch nichts, als sie ihr Handy eingeschaltet und die vielen WhatsApps der Teammitglieder gelesen hatte. Markus war auch dabei. Die Nachrichten reichten von „Sei bitte nicht kindisch“ über „Komm zurück, wir brauchen dich“ bis „Du kannst uns doch nicht einfach im Stich lassen, Miriam, ich flehe dich an!“
Ein kurzer Anflug von Schadenfreude versöhnte sie etwas. Die Produktion konnte wohl so schnell keinen Ersatz aus der Tasche zaubern. Doch das war ihr trotz allem Pflichtbewusstsein, das ihrem Jungfrau-Aszendenten alle Ehre machte, diesmal egal.
Miriam schaltete das Handy aus, um nicht erreichbar zu sein. Sie wollte sich nicht rechtfertigen und auch nicht diskutieren. Für sie war die Sache gegessen – oder „der Kas bissen“, wie man in München sagte.
Als ihr Sohn gegen halb acht aus dem Bad kam, saß sie bereits bei einer Tasse Tee in der Küche vor ihren Laptop und hatte für den nächsten Tag einen Flug nach Santa Cruz, der Hauptstadt von La Palma, gebucht.
Vincent war zwar überrascht, aber er versuchte es ihr weder auszureden noch stellte er Fragen, die sie sowieso nicht hätte beantworten können. Zumindest nicht so, dass ein aufgeweckter 18-Jähriger damit klarkam.
Und vielleicht war er auch mal ganz froh, dass seine durchgeknallte Mutter für 14 Tage die Biege machte und er die Wohnung für sich hatte.
Jetzt fehlte ihr nur noch eine Unterkunft. Aber auch die war übers Netz schnell gefunden. Eine gewisse Isiris bot bei Airbnb einen kleinen Bungalow in Meeresnähe zu einem erträglichen Preis an. Auch wenn es auf den Fotos für ihren Geschmack etwas sehr esoterisch aussah, buchte Miriam sie, ohne weiter darüber nachzudenken. Für zwei Wochen würde sie es schon mit ein paar Buddhas, orangenen Tüchern und Traumfängern vor den Fenstern aushalten. Und die Räucherstäbchen brauchte sie schließlich nicht anzuzünden.
Sie hatte gerade per Kreditkarte bezahlt und wollte ihren Laptop zuklappen, als es an der Tür klingelte.
Vor der Tür stand mit versteinertem Gesichtsausdruck Markus. „Warum gehst du nicht ans Telefon? Was soll dieses kindische Verhalten, Miriam?“
„Oh, der Regisseur höchstpersönlich.“ Sie grinste ihn an und überhörte bewusst seine Beleidigung. „Musst du nicht am Drehort sein?“
„Ja, müsste ich. Und du auch. Komm, pack deine Sachen zusammen. Ich stehe im Halteverbot.“
Miriam schüttelte den Kopf. „Ich komme nicht mehr zurück. Akzeptiere das bitte.“
Sie merkte genau, wie Markus versuchte, ruhig zu bleiben. Er sah an ihr vorbei in die Wohnung. „Ist Vincent schon weg?“
„Ja. Er geht jeden Morgen zur Schule, falls dir das entgangen sein sollte.“
„Und was sagt er zu deinem Verhalten?“
„Dass ich es schon längst hätte tun sollen.“
Markus schluckte. „Aber doch nicht während einer laufenden Produktion.“
„Es tut mir leid, dass ich dich nicht vorher informiert habe, aber mir war selbst nicht bewusst, dass ich die Schnauze so voll habe – auch wenn es mir mein Körper schon lange sagt.“
„Ach ja, die vielen chronischen Wehwehchen“, spöttelte er. „Wo tut es denn diesmal weh? Im Kopf? Im Rücken? Oder mal wieder im Magen?“
„Ich denke, die anderen warten am Drehort auf dich, Markus“, ging sie gar nicht darauf ein. „Soweit ich den Drehplan noch in Erinnerung habe, geht es um neun los.“ Sie sah auf ihre Uhr. „Das wäre in zehn Minuten.“
Ohne ein weiteres Wort schloss sie die Tür direkt vor seiner Nase und ging leicht zitternd zurück in die Küche. Er schaffte es noch immer, sie innerlich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch diesmal hatte sie sich nicht wieder einwickeln lassen. Es war die richtige Entscheidung, sich zu verabschieden. Auch wenn ihr dadurch in Zukunft so einige Türen verschlossen bleiben würden. Markus würde natürlich in der ganzen Branche publik machen, wie unprofessionell sie sich verhalten hatte. Aber wenn schon. Sie flog morgen in die Sonne, auf die Insel, auf der sie die schönste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Und alles andere war im Augenblick nicht wichtig.
Nachdem sie ihren Kleiderschrank nach Sommerklamotten inspiziert hatte und nicht wirklich fündig wurde, beschloss sie, den Tag für ein ausgiebiges Shopping zu nutzen. Sie hatte die letzten Sommer durchgearbeitet, weshalb kurze dünne Fähnchen mit Spaghettiträgern und passenden Sandaletten nicht zu ihrem täglichen Outfit gehörten. Und wann sie zum letzten Mal ihren Bikini angehabt hatte, daran konnte sie sich schon überhaupt nicht mehr erinnern.
Miriam fuhr mit der Straßenbahn zum Stachus und gab sich dem ungewohnten Gefühl hin, einfach mal so den Tag zu verbummeln, zumal sie ihr Handy ausgeschaltet ließ. Sie genoss die Münchner Fußgängerzone, erfreulicherweise bei strahlendem Sonnenschein, hörte Straßenmusikern zu, kaufte sich eine Tüte frisch gebrannter Mandeln und ließ sich von Geschäft zu Geschäft treiben, bis ihre Kreditkarte glühte und sie ihren Frust mit Schuhen, Kleidung und einer Handtasche erfolgreich verdrängt hatte. Und als sie später zu Hause anfing, ihren Rucksack zu packen, pfiff sie sogar leise vor sich hin. Eigentlich war es gar nicht so schwer, mal auf die Bremse zu treten und nicht immer weiter geradeaus zu fahren, nur weil da angeblich die Hauptstraße verlief. Irgendeine neue Beschäftigung würde sich schon finden lassen. Selbst wenn sie sich vorübergehend wegen Arbeitslosengeld anstellen müsste. Schließlich hatte sie jahrelang dafür eingezahlt. Warum nicht endlich mal davon profitieren?
Am Abend kochte Vincent ihre Lieblingsnudeln, und sie gerieten in ein intensives Gespräch über den Sinn des Lebens.
„Ich jedenfalls werde mich nicht diesem Wahnsinn unterwerfen, bis 67 auf die Rente hin zu arbeiten und kurz danach an Krebs oder einem Herzinfarkt das Zeitliche zu segnen. Dafür sind wir nicht auf dieser Welt, Ma.“
Auch wenn sie selbst bisher so gelebt hatte, musste Miriam ihm insgeheim zustimmen. So lief es bestimmt bei vielen. Aber andererseits, wer Arbeit hatte, konnte sich auch etwas leisten, ein teures Auto, eine schöne Wohnung. Und ein Kind großzuziehen, kostete schließlich auch etwas. Auch wenn Markus sich zumindest in diesem Punkt einigermaßen fair verhielt.
„Und wie stellst du dir dann deine Zukunft vor?“, fragte sie gespannt.
„Mit einer Arbeit, die mich erfüllt, aber die mich nicht stresst und dann krank macht.“
„Schon klar.“ Natürlich war das auf sie gemünzt.
„Und natürlich mit einer Partnerin, die ich liebe und für die ich mich zu hundert Prozent entscheide. Und die ich nicht verlasse und die mich nicht verlässt, wenn es mal schwierig wird.“
„Das klingt ja wie im Märchenwunderland. Ich wünsche dir wirklich alles Gute“, sagte Miriam mit leicht spöttischem Unterton. „Du wirst schon sehen.“
Sie fragte sich, von wem er diese positive und beherzte Einstellung hatte. Vielleicht von Omi? Oh je. Der hatte sie ja noch gar nicht Bescheid gesagt, dass sie nach La Palma fliegen würde. Sie zückte ihr Handy, schaltete es an und wählte die Nummer. Während sie darauf wartete, dass die alte Dame ans Telefon ging, räumte Vincent den Tisch ab.
„Hallo Omi, kannst du mich hören?“, rief sie nach gefühlten drei Minuten mit lauter Stimme in ihr Handy, wohl wissend, dass die alte Dame nicht mehr so fit auf den Ohren war.
„Ja, ja, Kind“, schallte es aus dem Lautsprecher, den Miriam inzwischen eingeschaltet hatte. „Ich habe heute auch schon an dich gedacht. Alles in Ordnung?“
„Kann man nicht unbedingt sagen, aber ich fliege für zwei Wochen nach La Palma.“
„Das ist doch wunderbar. Dort hat es dir doch so gut gefallen, dass du am liebsten dortgeblieben wärst. Hattest du dich nicht auch unsterblich verliebt ... wie hieß der Mann noch mal?“
Miriam schluckte. Dass ihre Großmutter sich daran noch erinnern konnte! Erstaunlich, wie gut das Langzeitgedächtnis bei älteren Menschen funktionierte.
„Wirst du ihn wiedersehen?“
„Das weiß ich nicht, Omi“, antwortete sie vorsichtig. „Ich habe schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm.“
„Das musst du unbedingt, Kind. Ich habe dich nie wieder so positiv und liebevoll über einen Mann reden hören. Ich weiß bis heute nicht, warum du den hast sausen lassen.“
Miriam spürte, wie sie knallrot anlief und Vincent sie erstaunt ansah. „So kann man das nicht sagen, Omi. Es waren andere Umstände.“
„Die Umstände zählen nicht, Miri, sondern das Herz muss entscheiden. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich.“
„Wie meinst du das?“
„Ist nicht wichtig. Schreib dir einfach nur hinter die Ohren, was ich dir eben gesagt habe. Versprich mir, nach ihm Ausschau zu halten.“
„Ich verspreche es dir“, sagte Miriam leise.
„Gut. Dann hab eine schöne Zeit und grüß mir Vincent.“
„Er hört dich, Omi.“
„Dann ist ja gut. Buenas noches y buen viaje.“
„Hhm?“ Vincent sah sie verwundert an.
Miriam legte nachdenklich das Handy beiseite. „Das heißt: Gute Nacht und gute Reise.“
„Wieso spricht sie plötzlich spanisch?“
„Sie hat einmal in Südamerika gelebt ... vor langer Zeit.“
„Wusste ich gar nicht.“
„Sie hat nie gern über diese Zeit gesprochen, aber die Sprache sehr geliebt und mir als junges Mädchen auch so einiges beigebracht.“
„Viel ist davon ja nicht geblieben“, feixte Vincent. „Und über den Typ aus La Palma hast du auch nie etwas erzählt“, insistierte er weiter.
„Nicht so wichtig, ein Urlaubsflirt halt.“
„Das glaube ich nicht. Sonst hätte Omi nicht so reagiert. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich. Was heißt das?“ Er sah sie abwartend an.
„Keine Ahnung“, sagte Miriam und stand vom Tisch auf. „Ich geh jetzt ins Bett. Muss schließlich morgen ganz früh raus. Vielen Dank für das wunderbare Essen.“ Sie drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn und flüchtete aus der Küche. Nein, sie wollte nicht über Carlos reden. Es war sowieso ein komisches Gefühl, dass er nach so langer Zeit wieder in ihren Gedanken auftauchte.