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8. In der Schule geschnitten, gemieden und gemobbt

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Von 1971 bis 1975 ging ich in Bardowick zur Grundschule. In Bardowick gab es vier 1. Klasse mit je 30 Kindern. Es war eine schöne Zeit, unbeschwert, spannend und abwechslungsreich. Es ging mir ja auch gut, ich hatte noch keinen dieser schrecklichen Anfälle. Da war nichts, was mich belastete.

Nach der Grundschulzeit kam ich 1975 aufs Gymnasium nach Scharnebeck. Weitere Gymnasien waren in Lüneburg. Es gab damals so eine normale Übereinkunft der umliegenden Gemeinden, dass Kinder aus Dörfern im Landkreis Lüneburg nach Scharnebeck kamen. Nur wer Beziehungen, besondere Kontakte oder bereits Geschwisterkinder auf Lüneburger Gymnasien hatte, konnte sein Kind nach Lüneburg schicken.

Scharnebeck war 10 km von Bardowick entfernt. Es fuhren Schulbusse, die nach und nach die Kinder aus den Gemeinden abholten. In den Bussen war es unendlich laut und stürmisch. Ich empfand die eineinhalb stündige Fahrerei als absolute Herausforderung. Ab und an hatte ich das Glück, dass meine Mutter mich mit dem Auto gefahren hat.

Nun also die Gymnasialzeit. Es war für mich der reinste Horror. Ich bin absolut ungern hingegangen. Vor laufendem Klassenbetrieb bekam ich meine Anfälle. Ich wurde von vielen gemobbt, gemieden und belacht. Klar, ich hatte auch die eine oder andere Schulfreundin. Aber meine Mitschüler machten mir deutlich klar, dass ich unerwünscht war. Sie tuschelten hinter meinem Rücken. Ich durfte beim Geräteturnen nicht mitmachen. Darauf waren einige neidisch.

Notfallmedikamente gab es in der Zeit noch nicht in der Form, dass sie mir vom Klassenlehrer verabreicht wurden, oder gar im Schulsekretariat im Fach lagen. Dazu war auch gar keine Zeit. Ich hatte ja kein Vorgefühl, keine Aura. Es passierte einfach so, peng: Anfall. Vom Stuhl gekippt und gezuckt, uriniert--- das komplette Programm. Nach diesen großen Anfällen ist es bei mir so, dass ich später in einen mehrstündigen Tiefschlaf falle. Ich komme nach dem Anfall zu mir und bin fix und fertig. Für kurze Zeit legte man mich auf eine Liege. Die Lehrer riefen dann bei meinen Eltern an. Meine Mutter setzte sich ins Auto und kam, um mich abzuholen, damit ich zuhause schlafen konnte.

Jetzt, 35 Jahre später, ist meine Erinnerung nur noch sehr schwach. Es war so schrecklich, dass ich vieles verdrängt habe.

Auf der anderen Seite habe ich mir meine Traurigkeit über das Verhalten meiner Mitschüler auch nicht so anmerken lassen. Ich war kein introvertiertes stilles Kind. Nein. Im Gegenteil, ich war nach außen hin so ein bisschen cool und lauter, ich wollte dazu gehören. Ich trug Anti Atomkraft Sticker und lief in Jeans und Parka rum. Wir waren kein typisches Popper- Gymnasium, so wie Bettina mir heute von ihrer Schule erzählt. Bei uns gab es alles: links, rechts, Popper, alternativ und ein paar Punker. Wir waren halt alle nicht aus einem bestimmten Stadtteil, sondern setzten uns aus Kindern und Jugendlichen, die aus dörflicher Struktur kamen, zusammen.

In der 7. Klasse stand die zweite Fremdsprache neben Englisch zur Wahl. Ich hätte liebend gern Latein genommen. Ich stand mir selbst im Wege. Da ich es meinen Eltern recht machen wollte und bei manchen Mitschülern dazu gehören wollte, entschied ich mich für Französisch. Meine Mutter sagte: „Susanne, mit Latein kannst Du doch nichts anfangen, es ist eine tote Sprache, nimm Französisch.“

Mein ganz still gehegter Traum, evtl. Theologie, Philosophie oder Medizin zu studieren, wäre nie möglich geworden. Meine Eltern wollten nicht, dass ich mich überanstrengte. Ich sollte am besten überhaupt nicht aufs Gymnasium gehen, damit ich es weiterhin leicht habe und keinen dieser schrecklichen Anfälle durch Leistungsstress provoziere. Sie wünschten mir einen einfachen Job, Kinder, Küche, Kirche, ich sollte später einmal so viel Geld verdienen, dass ich mich davon ernähren könne. Sie waren dagegen, dass ich einmal studieren wollte, sagten auch, dass sie mir das nie bezahlen würden, sondern ich mir mein Geld schon so dazu verdienen müsse. Ob ich eventuell hochbegabt sei, oder nicht, davon wäre nie die Rede gewesen. Auf diese Idee wären meine Eltern nicht gekommen. Alles drehte sich nur um meine Krankheit. Jeder Anfall, all die Sorgen und der Kummer, den ich meinen Eltern machte, stand im Mittelpunkt. Ich hatte ein unglaublich schlechtes Gewissen, wie schwer ich es ihnen doch machte.

Nun also Französisch. Unsere Schule kooperierte mit einer anderen Schule aus Frankreich. Es gab das typische Schüleraustauschprogramm. Per Los bekam ich Isabelle aus Clamart bei Paris. Sie war für 2 Wochen bei uns als Austauschschülerin. 8 Wochen später sollte ich dann für ebenfalls zwei Wochen bei ihrer Familie in Paris wohnen. Isabelle kam aus einem humanistischen und altehrwürdigen hochgebildeten, studierten Elternhaus. Sie liebte Klassik und konnte mit der typischen Rock- und Popmusik, die alle bei uns hörten, nichts anfangen – und sie hatte mega altmodische Klamotten an, trug eine Hornbrille und hatte lange blonde Zöpfe. Ich mochte sie nicht sonderlich. Heimlich bewunderte ich sie, dass ihre Eltern Ärzte und Staatsanwälte waren, während mein Vater „nur“ Sattler- Polster- und Tapezierermeister war und meine Mutter „nur“ Hausfrau war. Ich schämte mich und ich war neidisch.

Und wie es logischerweise immer kam, erlitt ich einen schweren Anfall und durfte nicht mit nach Paris fahren. Ich war unglaublich geknickt. Ja, aber nicht nur das. In der 7. Klasse hatte ich so viele Anfälle, dass ich Probleme bekam dem Schulstoff zu folgen. Meine Noten verschlechterten sich.

Und dann kam es: meine Eltern wollten, dass ich die 7. Klasse wiederholte, obwohl ich keine 5 im Zeugnis hatte. Lange Rede kurzer Sinn: ich wiederholte. Es war so grausam, ich heulte heimlich in mich hinein. Ich musste die Klasse von Lehrer Barthel verlassen und kam in einen neuen Klassenverband. Sitzen geblieben hieß es. Und das ohne 5 im Zeugnis. Alles nur, damit ich mich schone und es im Unterricht leichter habe. Diese 7. Klassen waren für mich Schlüsselschuljahre.

Ich durfte alles und habe oft teuer bezahlt

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