Читать книгу Wilhelmina - Susanne B. Kock - Страница 3

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Die Luft im Abteil war stickig geworden. Wilhelmina legte ihr Buch zur Seite und erhob sich, um das Fenster einen Spalt zu öffnen. Sie blickte auf die schlafende Gestalt des jungen Mannes in der Ecke der Sitzbank. Der leicht zurückgebeugte Kopf war an die Polsterung gelehnt, die linke Schulter hochgezogen als fröstele er. Das kurz geschnittene dunkelblonde Haar sah aus als hätte eine Windböe es aufgeplustert und die kräftigen, braungebrannten Hände lagen seltsam leblos mit halb nach außen gekehrten Handflächen auf dem Sitz. Seine breite Brust hob und senkte sich regelmäßig und ab und zu gab er einen Laut von sich, der wie ein stiller Seufzer klang. Sie besann sich eines Besseren und beschloss, auf dem Gang etwas frische Luft zu schöpfen. Vorsichtig zog sie die schwere Abteiltür hinter sich zu, die willig und lautlos auf der Messingschiene glitt und mit einem leise klickenden Geräusch ins Schloss fiel. „Jetzt bloß nicht Gerhard wecken“, dachte sie, dann wäre es vorbei mit dem ungestörten Träumen, dem planlosen Blättern im illustrierten Reiseführer. Sie lehnte sich aus dem offenen Fenster, blickte auf die vorbeiziehende Landschaft und sog mit einem tiefen Atemzug die mit dem Duft von frisch gemähtem Gras gewürzte Abendluft ein. Zwei alte Männer in speckig glänzenden Lederhosen und groben Hemden, die runzeligen nussbraunen Gesichter halb unter einem tief in die Stirn gezogenen Filzhut versteckt, traten in ein Gespräch vertieft mit geschulterten Sensen aus einem Waldstück hervor und überquerten mit federnden Schritten die Wiese in Richtung Dorf. Wilhelmina sandte ihnen einen sehnsüchtigen Blick. Ihr Rücken schmerzte vom langen Sitzen, die Füße in den eleganten Pumps waren geschwollen und fühlten sich an als hätte sie Gewichte um die Fesseln gebunden. Am liebsten wäre sie einfach hier im Dorf ausgestiegen und auf Gutdünken herumgewandert. Hätte sich die Häuser mit den bunten Wandmalereien angeschaut, wäre barfuss über die blumenübersäten Bergwiesen gewandert und irgendwo in einen der einladend glitzernden Seen gesprungen, um sich abzukühlen. Sie sah auf die Uhr, noch anderthalb Stunden galt es auszuhalten. Auf Zehenspitzen schlich sie zurück ins Abteil und ließ sich mit einem ergebenen Seufzer zurück ins weiche Polster gleiten. Sie konnte konstatieren, dass ihre Bedenken, den Schlaf ihres Gatten zu stören, übertrieben gewesen waren. Gerhard schlief tief und ließ sich weder durch die schrille Dampfpfeife des Lokomotivführers noch durch den geschäftigen Lärm beim Aufenthalt des Zuges auf dem Bahnhof stören. Wilhelmina hatte das Interesse am Reiseführer verloren, legte das Buch achtlos zur Seite und betrachtete stattdessen abwechselnd die vorbeihuschende Sommerlandschaft mit den fremdartigen Zwiebelkirchtürmen, den gewaltigen Bauerhäusern, von deren dunkelbraunen Holzbalkons sich farbenstrahlende Blütenkaskaden ergossen und das gebräunte Gesicht des Schlafenden. Die entspannten Gesichtszüge und der halbgeöffnete Mund verliehen Gerhard Mathiesen einen ungewohnt weichen, fast einfältigen Gesichtsausdruck. Wilhelmina fiel es schwer, die kantigen, männlichen Züge, die es ihr bereits bei ihrer ersten Begegnung so angetan hatten, wieder zu finden. In seinem linken Mundwinkel hatte sich eine Speichelblase gebildet, die rhythmisch beim Ein- und Ausatmen auftauchte und wieder verschwand. Wilhelmina fühlte sich plötzlich wie eine auf frischer Tat ertappte Voyeurin. Abrupt wandte sie sich ab und sah aus dem Fenster auf die immer dunkler werdende Silhouette der Berge am Horizont, die sich wie ein Scherenschnitt gegen das kräftige Rosaviolett des Abendhimmels abhob.

Sie war zufrieden mit der Entwicklung der Dinge. Endlich war all das, wovon sie seit ihren Backfischjahren geträumt hatte, in Erfüllung gegangen und jetzt saß sie hier im bequemen 1.Klasse Abteil auf dem Weg in die Flitterwochen. Weit weg vom vertrauten Elternhaus, Freunden und Familie. Gerhard war ihr seit 36 Stunden rechtmäßig angetrauter Ehemann, übermorgen würden sie durch Venedig bummeln, sie hatten ganze drei Wochen alleine und ungestört in Italien. Ohne die Firma, die ihn viel zu stark beanspruchte, ohne wohlgemeinte elterliche Ratschläge oder lästige Verpflichtungen. Wilhelmina streckte sich wohlig, strich ein paar widerspenstige Haarsträhnen zurück, die sich aus dem kunstvoll arrangierten Nackenknoten gelöst hatten und glättete energisch den Rock ihres hellgrauen Reisekostüms. Sie war 21 Jahre alt, acht Jahre jünger als Gerhard, ihre Zukunft war gesichert, Gerhard würde irgendwann die väterliche Firma übernehmen - das Geschäft mit Schiffsausrüstung hatte sich durch alle Krisenzeiten bewährt und als lohnend erwiesen - gemeinsam würden sie auf dieser soliden finanziellen Grundlage ein Heim schaffen, eine Familie gründen. Errötend dachte sie an Probst Mayers Worte: „Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde.” Das ganze Leben lag vor ihnen und sah viel versprechend aus. Wilhelmina sandte dem leise schnarchenden Gerhard, dessen schlafende Gestalt noch weiter in der Fensterecke zusammengesunken war einen zärtlichen Blick, in dem gleichzeitig ein Anflug von Triumph lag. Sie, Wilhelmina Twiete, hatte es geschafft. Sie hatte die absolut nicht unbedeutende weibliche Konkurrenz aus dem Felde geschlagen und saß nun zur Belohnung für den ausdauernden Einsatz hier mit ihrer Siegestrophäe. Sie hatte getan, was man von ihr erwartete, hatte sich nicht in einem Augenblick des Zweifels verwirren und hinreißen lassen, sondern war hart geblieben und hatte ihr Versprechen gehalten. Alle waren zufrieden und stolz auf sie. Gerhard hatte sich in sie verliebt, er hatte um ihre Hand angehalten, genauso romantisch und formvollendet, wie sie es sich erträumt hatte. An einem wunderschönen Märznachmittag, dessen warme Sonnenstrahlen schon einen Vorgeschmack auf den bevorstehenden Frühling gaben. Mit einem Verlobungsring, der selbst ihrer besten Freundin Amalie, die die Kunst beherrschte, ein Schmuckstück blitzschnell auf seinen Wert hin zu taxieren, einen anerkennenden Pfiff entlockte. „Wille, Mädel, mit soviel Karat meint der es aber wirklich ernst, da gibt es doch wohl nichts mehr zu überlegen!“

„Wilhelmina Ottilie Mathiesen geborene Twiete“ murmelte sie leise und ließ die Namen der Reihe nach langsam und genussvoll auf der Zunge zergehen. Auf die gleiche Art, in der sie die dunkelherbe Schokoladenumhüllung bei Pralinen in Erwartung der süßen Füllung auf der Zunge schmelzen ließ. Sie öffnete den Messingbügel ihrer grauen Lederhandtasche, deren Farbton perfekt mit dem seidigen Grau des Kostüms harmonierte und zog ein Heft mit steifem schwarzem Einband hervor. Mit einer fast liebevollen Geste strich ihre sorgfältig manikürte Hand über die erste jungfräulich weiße Seite und mit konzentriertem Gesichtsausdruck, die Zungenspitze gegen die obere Zahnreihe gedrückt, nahm sie die erste Eintragung vor. „17. August 1937. Heute haben Gerhard und ich uns in der Heiligen Geist Kirche zu Kiel das Jawort gegeben“, schrieb sie mit ihrer ordentlichen, steilen Handschrift. Und nach einer kurzen nachdenklichen Pause. „Alles verlief wie geplant“.

Wilhelmina

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