Читать книгу Wilhelmina - Susanne B. Kock - Страница 7

5.

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„Ja, ich rechne ja damit, dass zumindest einige meiner Kinder zu Weihnachten ihre Mutter besuchen. Aber da erwarte ich wohl auch schon wieder zuviel des Guten." Marthe nutzte die taktische Pause ihrer Mutter aus, um das Ohr zu wechseln. „Natürlich komme ich Weihnachten, ich weiß bloß noch nicht genau wann, du weißt zum Jahresabschluss, da ist immer eine Menge zu tun." „Also ihr braucht bloß was zu sagen, dann kann ich mir den ganzen Ärger mit dem Tannenbaum und dem Rumgejage nach den Geschenken und das Essenmachen sparen. Obwohl ich Christian ja schon um die Gänse gebeten habe." Der anfänglich leicht indignierte mütterliche Ton schlug jetzt in einen reinen Vorwurf um. „Hör auf, wir kommen doch alle, so wie jedes Jahr!“ Marthe war irritiert, musste aber trotzdem lachen. Jedes Jahr dasselbe Drehbuch. Die große Frage, ob denn auch alle zum mütterlichen Weihnachtsessen kommen würden. Und natürlich kamen alle, sonst gab es die nächsten zwölf Monate wieder bissige Bemerkungen. Eigentlich freute Marthe sich darauf, ihre Geschwister, ihre Nichten und Neffen wieder zu sehen, zu denen sie sonst wenig Kontakt hatte. Solange diese Familientreffen nur nicht zu lange dauerten. Sie überlegte, wie Stefan wohl in diese mit diversen familiären Traditionen besetzte weihnachtliche Runde passen würde. Stefan, der weltläufige Karrieremann mit dem teuren Geschmack, nicht nur bei Wein und Automarken. Stefan und Hausmannskost, bei Gänsebraten mit Edeka Rotwein statt foie gras mit Champagner. Sie musste lachen, griff nach dem Kugelschreiber und begann eine imaginäre Tischordnung zu skizzieren. Ihre Mutter am Kopfende wie immer „ich bin ja sowieso immer auf dem Sprung“, der älteste Bruder Markus an ihrer rechten Seite. „Vielleicht bekomme ich dann ja auch mal ein bisschen von seinem Leben zu wissen, ohne dass ich jedes Mal ein Ferngespräch führen muss.“

Christian, die ewige Nummer zwei zu ihrer Linken. „Also wirklich Junge, man braucht ja nicht auf drei Meter Abstand zu riechen, dass du Landwirt bist.“ Marthe fand es amüsant, wenn ihre kleine, zierliche Mutter ihren 1,98 Meter großen und kleidsam muskulösen Zweitgeborenen nach vierzig Jahren immer noch mit „Junge“ anredete. Ihre Schwester Gunhild neben Markus. „Ich bin ja wirklich gespannt, was für eine Krankheit sie dieses Jahr wieder hat, wenn man sie reden hört, könnte man glauben sie sei 74 und nicht 34.“ Stefan neben Gunhild auf der einen Seite und sie selbst gegenüber. Am Ende des Tisches dann die Kinder und ihr Schwager Hans-Dietrich. Da unten am Kinderende, wo in mütterlicher Voraussicht ein Wachstuch unter der weißen Damastdecke angebracht worden war, wo mit Kinderporzellan statt Zwiebelmuster gedeckt wurde, da würde wie immer die beste Stimmung herrschen. Hans Dietrich mochte Kinder und diese Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Außer einer Menge exotischer Spielsachen zweifelhafter Herkunft „Hans Dietrich, nimm Gitte sofort die Maus aus dem Mund, die Farbe ist ga-ra-ntiiiert giftig, wo hast du das denn wieder her“, brachte er immer ein offenes Ohr, interessante Geschichten und eine unerschöpfliche Langmut für kindliche Fragen mit. Während man mit Katharina Twiete als Diskussionsleiterin am oberen Ende des Tisches die üblichen Familienthemen in Gestalt historischer Ungerechtigkeiten, Hochzeiten, Geburten, Krankheiten und Todesfälle aufarbeitete und wiederaufwärmte, amüsierte Hans-Dietrich sich am unteren Tischende mit Gabel- und Fingerspielen. Marthe war sicher, dass ihre Mutter Stefan mit offenen Armen aufnehmen würde. Er verkörperte all das, was sie sich bei ihrem eigenen Mann gewünscht und ihrer Meinung nach nur in sehr begrenztem Umfang bekommen hatte. Natürlich war da das kleine Problem, dass Stefan bereits verheiratet und Vater einer kleinen Tochter war. Aber derlei Petitessen ließen sich doch heutzutage, wo Scheidungen an der Tagesordnung waren, verhältnismäßig einfach lösen. In den mütterlichen Augen entscheidend waren die berufliche Position, die Macht und das Prestige, die diese mit sich führte. Seine weltmännischen Manieren, der ansteckende Charme und nicht zu vergessen sein sicherer Geschmack, wenn es um die Wahl der Garderobe, des Wagens, der häuslichen Einrichtung ging. Praktisches wie die Scheidung musste man dann eben schnell und einigermaßen diskret über die Bühne bringen. Nein, ihre Mutter würde Marthes Wahl ganz klar befürworten.

Ihre beiden Brüder würden sich Stefan gegenüber sicher freundlich und im Grossen und Ganzen indifferent verhalten. Wahrscheinlich mit ein paar Bemerkungen über umweltgerechten Lebensstil von Christian. Sollte ihre kleine Schwester sich doch mit den Männern amüsieren, die ihr gefielen. Markus und Christian hatten beide ihre Scheidungen mit allem, was an praktischen und gefühlsmäßigen Problemen dazu gehörte, hinter sich und versuchten, ihren Scheidungskindern trotzdem oder gerade deshalb vorbildliche Väter zu sein. Beide Brüder hatten ihres Wissens nach ein ausgefülltes Leben ohne Frau an ihrer Seite und fanden, dass feste Beziehungen, ob bestehende, kommende oder gescheiterte kein ernsthaftes Thema für sie waren. Christian hatte sein ökologisches Geflügel und war ein begehrter Vortragshalter auf dem Gebiet der ökologischen Nutztierhaltung. Ein einträgliches Geschäft, da ihm auf diese Weise das Kunststück gelang, seine Kunden für seine landesweiten Werbekampagnen bezahlen zu lassen. Marthe war imponiert und ein wenig neidisch. Wenn sie ihre Kunden zu einem ähnlichen Verhalten bewegen könnte, wäre die Medinex reich und ihr Arbeitsalltag wesentlich einfacher.

Zu ihrem ältesten Bruder Markus hatte sie in den letzten Jahren wenig Kontakt gehabt. Er hielt sich meist auf irgendwelchen Bohrplattformen auf, war auf den seltenen Familienzusammenkünften mental abwesend und selten gewillt, den Anwesenden mehr als nur das Allernotwendigste aus seinem Privatleben mitzuteilen. Marthe konnte ihre Ex-Schwägerin ausgezeichnet verstehen. Wo war der kompetitive Vorteil eines Ehemannes, der sich den größten Teil der Zeit irgendwo mitten in der Nordesse befand und sich bei Aufenthalten im eigenen Heim wie ein anspruchsvoller, stummer Hotelgast benahm.

Bei Gunhilds Urteil war Marthe sich nicht ganz so sicher. Als Teenager hatte Marthe ihre wechselnden männlichen Errungenschaften stets nur unter Herzklopfen mit nachhause gebracht. Während ihre Eltern die meisten Kandidaten mit einer gleich bleibend höflichen Attitüde im Hause willkommen hießen und eventuelle Anzeichen von Missbilligung stets vermittels so subtiler Signale auszusenden vermochten, dass sie nur von Familienmitgliedern entschlüsselt werden konnten, waren Gunhilds Beurteilungen ihrer Mitmenschen gefürchtet. Nicht nur bei ihrer kleinen Schwester. Bereits während der Schulzeit setzte Gunhild Lehrern, die sich unvorbereitet durch die Stunden zu mogeln versuchten oder denjenigen, die die zeitweise irritierende Wissbegierde ihrer Schüler durch kleine Notlügen abzublocken versuchten, durch beherztes, inquisitorisches Nachhaken zu. Neben einer ungewöhnlichen Intelligenz war Gunhild mit gnadenlosem Falkenblick, außerordentlicher Gedächtniskapazität und als wäre das nicht genug einer messerscharfen Zunge ausgestattet. Gewöhnlich gelang es ihr im Laufe weniger Minuten, die empfindlichsten Schwachstellen des jeweiligen Kandidaten herauszufinden, bloßzulegen und verbal zu massieren, am liebsten im Beisein eines größeren Publikums. Und danach war dann meist der Lack ab und Marthe musste sich fragen, was sie überhaupt jemals an diesem Mann beeindruckt hatte. Gerechterweise musste sie zugeben, dass ihr auf diese Weise sehr viele Enttäuschungen erspart geblieben waren, denn Gunhilds Urteil hatte sich im Laufe der Zeit meist als zutreffend erwiesen. Marthe hatte ihre ältere Schwester immer für diese Unfehlbarkeit und ihre daraus resultierende kompromisslose Gradlinigkeit gehasst. Gleichzeitig hatte sie Gunhild brennend um ihre scheinbare Fehlerlosigkeit beneidet. Marthe selbst war meist eher gewillt, ihrer Umgebung kleinere Charakterschwächen und Unzulänglichkeiten zu verzeihen, über kleine Notlügen lächelnd hinwegzusehen und ihrem Gegenüber die Peinlichkeit der Entdecktwerdens zu ersparen. Nicht, weil sie notwendigerweise ein besserer Mensch war, sondern weil sie glaubte, im Gegenzug zur eigenen Nachsicht ihrerseits der harschen Kritik ihrer Mitmenschen zu entgehen, eine Rechnung, die nicht immer aufging, wie sie im Laufe ihres Lebens erkennen musste.

Marthe stöhnte. Jetzt saß sie schon wieder hier und spekulierte über Stefans Rolle in ihrem Leben, wie er wohl auf dieses und jenes reagieren würde, sich in ihre Familie einpassen würde. Völlige Zeitverschwendung und dann noch eine mögliche Integration in die mütterliche Weihnachtstafel! Ob Stefan sich jemals solche Gedanken über sie machen würde? Sah nicht unmittelbar danach aus.

Entschlossen riss sie die beschriebene Seite aus dem Block und warf den zusammengeknüllten Ball in Richtung schlafender Kater. Gustav bewegte lahm die rechte Vorderpfote und versank umgehend wieder in Tiefschlaf. Ich werde wohl im Alter von 75 auch nicht mehr zu derlei Spielchen aufgelegt sein, dachte Marthe, und begann statt der was-wäre-wenn Phantasien mit einer Liste über die ausstehenden praktischen Dinge. Weihnachtspost, Weihnachtsgeschenke, Gehaltsclinch mit Hamann, Einkommenssteuererklärung, Zahnarzt, Winterreifen. Angesichts der zunehmenden Länge der Liste der Unbehaglichkeiten, die sie in Hamburg erwartete, wirkte es eigentlich wie eine angenehme Alternative, sich einfach hier zu verkriechen. Eine fürchterliche Grippe vielleicht? Auf der anderen Seite erforderte das mehrere gute Entschuldigungen und hinterher war immer noch nichts gelöst. Nein, sie musste sich zusammennehmen und die Dinge der Reihe nach in Angriff nehmen. Morgen früh würde bestimmt sowieso alles anders aussehen.

Wilhelmina

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