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„Dieses Mal haben wir ja richtiges Kaiserwetter und der Wind - wie bestellt.” Gerhard Mathiesen ließ sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck in den Korbstuhl fallen und sandte ein breites Lächeln in die Runde. Er hatte einen herrlichen Tag auf der Förde hinter sich, sein kräftiges, dunkelblondes Haar war sonnengebleicht weizenblond, sein Gesicht gebräunt, auf dem Nasenrücken und den Ohrmuscheln pellte die Haut leicht ab. Wenn er lächelte, und das tat er oft und gerne, zeigte er ein fast makelloses Gebiss, in dem nur ein leicht schiefer Schneidezahn im Obermund aus der Reihe tanzte. „Auf eine ordentliche Platzierung!” Er erhob sein Bierglas, dessen Schaumkrone unter leisem Knistern in sich zusammensank und sandte ein herzliches Lächeln in Richtung Wilhelmina, die sich fröstelnd an einer Tasse Tee zu wärmen suchte und ihm einen strahlenden Blick zurücksandte. Wenn sie sich im Freundeskreis umschaute, dann hatte sie mit Gerhard wirklich ins Schwarze getroffen. Beim Gedanken daran, dass sie ihn in sechs Wochen heiraten würde, lief ihr ein erwartungsvoller Schauer über den Rücken. Ein neues, aufregendes Leben. Weg aus dem elterlichen Haus mit seinen ehernen Regeln, ein eigenes Heim stiften, in der Großstadt leben.

Es war ein lauer, heller Frühsommerabend, der aber hier draußen und so nahe am Wasser immer noch die Kühle des Frühlings spüren ließ. Sie saßen unter der Markise auf der Terrasse des Kaiserlichen Yachtklubs mit Blick über das Hindenburgufer und den Olympia Segelhafen, in dem selbst zu diesem Zeitpunkt noch reges Treiben herrschte. Gerhard hatte wie immer einen Haufen Freunde und Segelkameraden um sich, in deren Gesellschaft er wie gewöhnlich zu Hochtouren auflief. Mit jeder Runde Bier stieg die Stimmung am Tisch, die Stimmen wurden lauter und alle außer Wilhelmina, die nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein paar Minuten mit Gerhard unter vier Augen zu verbringen, ihr Unterfangen leicht verärgert aufgab, schienen sich köstlich zu amüsieren.

„Ich glaube, ich gehe nachhause, ich friere und bin müde." Eigentlich war die geflüsterte Mitteilung nur für die Ohren Amalies, Wilhelminas bester Freundin, bestimmt gewesen. Aber deren aufmerksamer Tischnachbar musste auf jeden Fall irgendetwas von frieren verstanden haben und bot Wilhelmina umgehend einen dicken blauen Wollpullover an, den er ihr trotz höflichen Protests mit einem galanten „auch wenn er für soviel zarte Schönheit viel zu grob ist“, um die Schultern legte. Wilhelmina dankte dem großzügigen Geber und versuchte sich krampfhaft an seinen Namen zu erinnern. Sie hatte ihn bisher nur ein paar Mal in der Freundesklicke gesehen. Groß, sehr schlank, fast schlaksig, mit einem ernsten, trotz seiner jungen Jahre bereits deutlich markierten Gesicht. „Ein wirklich interessantes Gesicht, das von seiner Lebenserfahrung zeugt“, hatte Beatrix kommentiert, als sie ihn im Verlaufe mehrerer Tänze bis an die Grenze des Höflichen ausgefragt und sowohl Aussehen als auch Physiognomie so sorgfältig registriert hatte, dass sie das Ergebnis später ihren Freundinnen referieren konnte. Er kam irgendwo aus Skandinavien, Schweden oder Dänemark, Wilhelmina erinnerte sich nicht so genau. „Vielen Dank“, sie lächelte erneut und kuschelte sich in den Pullover, „aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen, ich bin ohnehin auf dem Weg.“ „Deswegen brauchen Sie doch nicht zu frieren.“ Seine graublauen Augen musterten sie eindringlich. Er streckte ihr seine Hand entgegen. „Laurids Rastrup, ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, ich segele ein wenig zusammen mit Gerhard und Winfried." Er ging hinter Wilhelminas Stuhl in die Knie, so dass ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren. „Segeln Sie auch?" Er sah ihr bei dieser banalen Frage so intensiv und unverwandt ins Gesicht, dass sie verwirrt die Augen niederschlug. „Ja, aber nur zum Vergnügen, die Kampfhandlungen bei den Regatten überlasse ich den sportlichen Herren hier." Ihr rechter Arm beschrieb einen vagen Halbkreis über die Runde der ziemlich aufgekratzten jungen Männer, deren Gesichter deutliche Spuren der kräftigen Sonne aufwiesen. „Sie sind neu im Club, nicht wahr? Ich habe Sie hier noch nie gesehen, wir anderen sind in der Saison schon fast Stammgäste.” Wilhelmina brach ab, sah sich schnell in der Tischrunde um und stellte fest, dass alle Aufmerksamkeit auf Gerhard gerichtet war, der gerade eine täuschend echte Imitation seines Chefs lieferte. Applaus und Gelächter. Dem dankbaren Publikum liefen bereits die Tränen über die Wangen, aber es verlangte mehr. Gerhard ergab sich. „Also gut, einen noch, dann ist aber auch Schluss für heute! Meine Damen und Herren, darf ich vorstellen: Marlene …. die Dietrich!“ Wilhelmina wusste, dass Gerhard die nächsten Minuten vollauf mit seinen Parodien beschäftigt sein würde und wandte sich erneut Laurids zu. Der verfolgte interessiert und lachend Gerhards gelungenen Auftritt, wobei er in der unbequem anmutenden, gebeugten Stellung neben ihrem Stuhl ausharrte. „Um Ihre Frage zu beantworten. Nein, ich bin nur Gast und leider auch nur auf der Durchreise während der Kieler Woche. Nächste Woche geht’s wieder ab nachhause.“ Die Stimmung am Tisch wurde immer ausgelassener und mit schöner Regelmäßigkeit erscholl ein Prost von einem der Teilnehmer in der Runde. Wilhelmina beugte sich weiter über die Stuhllehne, so dass ihre Gesichter sich fast berührten. „Und das ist wo?" Er sah sie desorientiert an.

„Was ist … na, Sie meinen mein Zuhause. Wo, tja, das weiß ich auch noch nicht so genau, erstmal in Kopenhagen und dann…“ Er zog die Schultern hoch und runzelte nachdenklich die Stirn, „Tja dann irgendwo, wo … wo eben Ärzte fehlen. Malariaverseuchte Gebiete in Asien oder Afrika, Pockenbekämpfung in Indien, zu tun gibt es ja genug, ich muss mich nur entscheiden, wo ich anfangen will.” Er verlagerte sein Gewicht, um sich die gebückte Stellung erträglicher zu machen, machte aber keine Anstalten zu seinem Stuhl zurückzukehren.” „Aha, Sie sind anscheinend so ein richtiger Dr. Livingstone", erwiderte Wilhelmina amüsiert. „Was sagt denn ihre Familie zu Ihren Reiseplänen. So ganz ungefährlich ist das doch wohl nicht.“ Sie verzog den Mund und machte eine aufgebende Geste mit den Händen. „Wissen Sie, meine Mutter ist schon bekümmert, weil ich bald nach Hamburg in die sündige Grosstadt ziehe, aber Afrika. Das hört sich wirklich so an als könnte man sich Sorgen machen. Ist doch alles noch sehr unzivilisiert da unten, nicht wahr?" Wilhelmina versuchte ihren Stuhl etwas weiter in Richtung Laurids zu drehen, ohne dabei ihren Nachbarn anzustoßen. „Ach wissen Sie, in meiner Familie bekümmert man sich nicht so sehr, meine Eltern haben mir nie reingeredet, haben immer darauf vertraut, dass ich das Richtige wähle." Er runzelte die Stirn und fügte nachdenklich hinzu, „obwohl meine Mutter mich wohl sehr viel lieber in irgendeiner Oberarztstellung im zivilisierten Kopenhagen sehen würde als in der Wildnis. Ich bin mir sicher, sie teilt Ihre Auffassung von den barbarischen Lebensumständen. Für meine Mutter fangen die allerdings schon beim Überschreiten der Stadtgrenze von Kopenhagen an." Er lachte trocken. „Ach, ich bewundere Menschen, die freiwillig die Zivilisation verlassen, um anderen zu helfen”, stieß Wilhelmina mit schwärmerischem Augenaufschlag hervor. „Ich glaube nicht, dass ich das könnte. Ich würde die Annehmlichkeiten hier doch allzu sehr vermissen und natürlich das Kulturelle.” „Na ja, das mit den Annehmlichkeiten der Zivilisation und der Kultur ist ja wohl auch eine Frage des Standpunktes.” Er schickte ihr ein etwas unsicheres, ironisches Lächeln. „Angesichts der gegenwärtigen politischen Entwicklung in Europa muss man sich ja wirklich fragen, wie viel von der so hochbesungenen weißen Zivilisation da noch übrig ist." „Sie meinen wegen der Nationalsozialisten“, unterbrach Wilhelmina schnell. Sie wollte dieses Gespräch nicht in einem langweiligen politischen Exkurs enden lassen. Diese ewige Politik, sie hatte das ganze Gerede so satt, konnte man sich wirklich nicht mehr privat mit einem Ausländer unterhalten, ohne sich gleich für die gesamte deutsche Innen- und Außenpolitik rechtfertigen zu müssen? Wilhelmina steckte sich leicht verärgert eine Zigarette zwischen die Lippen und hielt Laurids mit einer brüsken Bewegung die Schachtel direkt vor die Nase. Als er ihr Feuer gab, streifte seine Hand ihre Wange und sie merkte eine leichte Gänsehaut. „Wissen Sie Laurids“, Wilhelmina stieß heftig eine Rauchwolke aus, „ich glaube das ganze Theater ist bald vorbei, dann haben die Leute die Uniformen, den Gleichschritt und das Geschreie gänzlich satt. Warten Sie's ab, wenn die Arbeitslosigkeit weiter fällt und alles wieder vorwärts geht, und wir wieder wer sind in der Welt, dann heißt es der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.” „Tja, die Frage ist nur, ob es so einfach ist, ihn dann noch zum Gehen zu bewegen. Er sitzt doch mittlerweile nicht nur in Deutschland fest im Sattel. Ich bin da in der Beurteilung der Situation sehr viel skeptischer, aber Ihr Wort in Gottes Ohr.“ Laurids sandte ihr einen ernsten Blick. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wedelte sie den Rauch zwischen ihren Gesichtern fort und sah ihm direkt in die Augen. „Sie können sich gar nicht vorstellen wie leid ich, und das gilt auch für alle meine Freunde, wie leid wir es sind, immer für die Fehler unserer Regierung verantwortlich gemacht zu werden.“ Sie brach ab und verzog schmollend den Mund. „Sehen Sie, wir sind hergekommen, um uns zu amüsieren und zu feiern und was machen wir? Wir reden über Politik. Zu welchem Nutzen denn überhaupt. Wir beide können doch ohnehin jetzt nichts ändern.“

Laurids seufzte fast unhörbar, lächelte sie an und tätschelte mit einer schnellen Bewegung ihre Hand auf der Stuhllehne. „Nein, da haben Sie wohl recht, wir können es nicht ändern. Auf keinen Fall hier vom Tisch aus.“ Er erhob sich langsam, holte tief Luft und sagte in einem betont sorglosen Tonfall „also dann wollen wir uns den schönen Sommerabend nicht mit der dummen Politik verderben. Außerdem werde ich hier noch ganz steif in den Knien, darf ich Sie nach Hause begleiten?“ Wilhelmina zögerte. „Ich weiß nicht recht“, sagte sie unsicher, aber wenn es für Sie kein Umweg ist." Sie erhob sich, winkte hastig in die fröhliche Runde, in der die Stimmung zu kulminieren schien, warf Gerhard, der gerade drei faszinierten Zuhörern mit ausladenden Armbewegungen ein besonders geglücktes Wendemanöver an der Boje beschrieb, eine Kusshand zu und flüsterte Amalie einige kurze Abschiedsworte ins Ohr. Sie verließ die Terrasse zusammen mit Laurids, zog den Pullover enger um die Schultern und ging wortlos neben ihm her. Die sichere Unbefangenheit, die Wilhelmina in der lauten Tischrunde von Freunden und Bekannten gefühlt hatte, war plötzlich verschwunden. Keiner von beiden machte Anstalten, das Gespräch wieder aufzunehmen. Sie begann erneut zu frösteln. Es war spät geworden, die abendlichen Spaziergänger waren verschwunden und nach dem fröhlichen Lärm auf der Terrasse machte sich die nächtliche Stille doppelt bemerkbar. Die Förde schwappte glucksend gegen das Bollwerk und ließ die flachen hölzernen Pontons an den Brücken seicht auf- und niedertanzen. Sie begegneten einem engumschlungenen Liebespaar, das für den Reiz der hellen Sommernacht keinen Blick hatte und vereinzelten Nachtwanderern, die sich im Schlingerkurs in die Richtung bewegten, in der sie ihr Bett vermuteten. Plötzlich blieb Laurids stehen, sah nachdenklich über die stille, dunkle Förde und sagte wie zu sich selbst „am meisten werde ich diese Nächte vermissen. Für mich ist es die schönste Zeit des Jahres, wenn es fast nicht dunkel wird, wenn morgens um vier schon die Vögel singen."

„Und wenn es endlich frische Erdbeeren mit Schlagsahne und Spargel gibt", fiel Wilhelmina ihm munter ins Wort, erleichtert endlich das Schweigen brechen zu können. Er sah sie verdutzt an, stimmte dann aber in ihr fröhliches Lachen ein.

„Ja, das wird mir auch schwer fallen, ein Sommer ohne Erdbeeren und neue Kartoffeln, stattdessen Maisgrütze und Kalebassenbier, wenn's mal ganz hoch hergeht. Aber wer die Menschheit retten will, der muss eben ein paar Opfer bringen", bemerkte er mit einem ironischen Lächeln in ihre Richtung. Wilhelmina gluckste und ging auf seinen Tonfall ein. „Hört sich eigentlich mehr nach Abenteuer als nach Opfer an. Erdbeeren kann man dann ja immer noch hinterher essen. Also, weil man ja irgendwann zurückkommt, nicht wahr”, fügte sie rasch hinzu.

„Hätten Sie Lust nach Afrika zu gehen, ohne fließend Wasser, ohne Annehmlichkeiten der Zivilisation? Ich hatte Sie eigentlich mehr für“ „das beschützte Töchterchen aus gutem Hause gehalten", vollendete sie spöttisch seinen Satz. „Deswegen kann man doch aber trotzdem vom großen Abenteuer träumen, oder?” „So habe ich das nicht gemeint, ich wollte sie nicht verletzen“, murmelte Laurids verlegen. „Ich finde Sie ganz be …“, er brach ab, und beeilte sich, in einem anderen Tonfall fortzusetzen. „Also, ich dachte nur, also die Mädchen, mmh jungen Damen, die ich so kenne, die wollen schon gerne nach Afrika oder Indien, aber wenn ich dann erzähle, wo ich da hin will und was ich da will, dann erlischt die Begeisterung immer sehr schnell.“ Er räusperte sich und schwieg. „Na, dann kennen sie jetzt eben eine, die nicht so ist”, antwortete Wilhelmina schnippisch und sah ihm herausfordernd in die Augen. Er hielt ihrem Blick stand und kniff leicht die Augen zusammen. „Dann kommen Sie doch einfach mit!”

Es hatte scherzhaft klingen sollen, aber Wilhelmina hörte die Ernsthaftigkeit dieses Vorschlags in seiner Stimme. Mein Gott, in was reite ich mich denn hier wieder rein, dachte sie. Ich stehe hier mit einem Wildfremden, dazu noch einem Segelkameraden von Gerhard und diskutiere die Möglichkeiten einer gemeinsamen Zukunft im Urwald. „Ich dachte, Sie wollten mich nach Hause begleiten, das hier hört sich eher so an als wollten Sie mich entführen.“ Sie lachte zu laut, falsch und etwas zu schrill, sah ihn an und entdeckte dort für Sekundenbruchteile eine Mischung aus Enttäuschung, Ärger und Verlegenheit, bevor er seine Gesichtszüge wieder vollständig unter Kontrolle hatte. „Ich dachte, wo wir ohnehin schon einen Umweg machen, käme es darauf auch nicht mehr an”, erwiderte er jetzt mit dick aufgetragener Ironie. „Kommen Sie, Sie frieren ja schon wieder.“ Er berührte wie beiläufig ihre Schulter. Noch ein Schauer, wieder eine leichte Gänsehaut. Den Rest des Nachhauseweges war er einsilbig. Als er sich am schmiedeeisernen Tor des Anwesens mit einem übertrieben artigen Händedruck und einem angedeuteten Diener von ihr verabschiedete, tat er Wilhelmina leid. Sie fühlte, dass sie ihn verletzt hatte und wollte es gerne wiedergutmachen. Außerdem war sie neugierig geworden, wollte mehr über diesen ernsthaften, jungen Mann erfahren, der irgendwie nicht so recht in die Runde ihrer fröhlichen Freunde passte. „Wenn schon nicht in den Urwald, was mit einem Kinobesuch am Donnerstag? Wir sind eine ganze Klicke. In den Reichshallen laufen die Glückskinder. Ich liebe Willy Fritsch! Hätten Sie Lust?“

Erneut registrierte Wilhelmina die Reaktion in seinen Augen noch bevor er antworten konnte. Laurids war offenbar freudig überrascht. „Glückskinder tja, warum nicht, wir können uns wohl genauso gut daran gewöhnen.“ Wilhelmina hatte den Sarkasmus in seiner Stimme bemerkt, schluckte jedoch ihre bissige Gegenbemerkung hinunter, auch wenn es ihr schwer fiel. Er lächelte sie höflich an. „Bis Donnerstag dann und schlafen Sie gut, Sie Glückskind“. Wilhelmina zog den schweren Torflügel hinter sich zu und schaute ihm durch das Gitter nach, als er den Düsternbrooker Weg hinunter ging. Richtig fröhlich sah er aus, so von hinten mit beiden Händen in den Hosentaschen und pfeifen konnte er auch, das konnte sie hören, auch wenn sie die Melodie nicht kannte.

· „Na, wir können uns eben doch noch behaupten. Wär’ ja gar nicht auszumalen, was das für die Stadt bedeutet hätte, wenn die Aufträge wieder nach Danzig zu Schichau gegangen wären. Oder gleich wieder zu Blohm und Voss.“ Bankdirektor Otto Twiete faltete zufrieden seine Kieler Neuesten Nachrichten zusammen und griff nach seiner Kaffeetasse. „Der Löffel mein Lieber“, kommentierte seine Gattin, ohne von der Lektüre des neuen Kunsthallenkatalogs aufzusehen. „Eines Tages stichst du dir noch das Auge aus, ich begreife nicht“… „nicht solange du so gut auf mich aufpasst, Katharina“, unterbrach er sie schnell, nahm den Kaffeelöffel aus der Tasse und legte ihn mit übertriebener Sorgfalt auf der kunstvoll durchbrochenen Untertasse ab. „Na, da herrscht ja wieder Jubel im Forstweg, war auch hohe Zeit.“ Er schob seinen Stuhl zurück, erhob sich unter leichtem Stöhnen und bewegte sich auf die gegenüberliegende Seite des ovalen Esstisches, der bei entsprechenden Anlässen bis zu dreißig Gästen Platz bot. „Warte heute Abend nicht auf mich meine Liebe, ich denke es wird spät werden.“ Er beugte sich über ihre Schulter und hauchte seiner Gattin in einer über die Jahre zur Perfektion entwickelten Bewegung einen Kuss auf die dezent gepuderte Wange, wobei er weder Wange noch Frisur zu nahe kam. „Aber was macht man nicht alles für die richtigen Kunden“, fügte er händereibend hinzu. „Einen schönen Tag noch die Damen“, trompetete er fröhlich und tätschelte Wilhelmina auf dem Weg zur Tür den Kopf, so etwa wie man einen Hund tätschelt, der gerade erfolgreich einen neuen Dressurakt vorgeführt hatte. „Wieso ist Papá denn heute so guter Laune, das kennt man ja sonst gar nicht von dem alten Morgenmuffel!“ Wilhelmina blickte ihre Mutter mit erstauntem Stirnrunzeln an. „Kind sprich bitte nicht in diesem Ton von deinem Vater! Dein Vater trägt eine schwere Verantwortung auf seinen Schultern. Ich brauche dir wohl kaum einen Vortrag über die angespannte wirtschaftliche Lage vieler Betriebe zu halten. Das ist einer der Gründe, weshalb dein Vater morgens gründlich seine Zeitung liest, statt zu konversieren.

· Meine Güte, manchmal können alle diese Probleme und Sorgen einem fast den Schlaf rauben“, sagte sie wie zu sich selbst und schob mit einer achtlosen Geste den farbigen Katalog zur Seite. Bekümmert ließ sie den Blick auf ihrer Tochter ruhen. „Übrigens ganz apropos, wenn du glaubst, dass alle diese durchwachten Nächte spurlos an dir vorübergehen, nur weil du jung bist, dann irrst du dich, Kind. Ich sage dir, keine noch so teure Creme kann dir den Nachtschlaf ersetzen.“ Als wolle sie die Bedeutung ihrer Worte unterstreichen fuhr sie sich mit dem Zeigefinger vom Nasenrücken über die immer noch makellos gepuderte Wange. „Gestern Abend oder besser heute früh war es doch auch wieder …“

· „Mutter bitte“, unterbrach Wilhelmina gereizt, „ich bin 20 Jahre, erwachsen! Man ist ja nur einmal jung, dann habe ich eben ein bisschen Schatten unter den Augen. Na und? Haben doch alle die anderen auch.” „Es geht ja nicht nur um die Schatten, aber du lässt dir ja ohnehin von mir nichts mehr sagen“, erwiderte Frau Twiete nun mit einem Anflug von Resignation und Verbitterung in der Stimme.“ Dann griff sie zur Lesebrille, atmete hörbar ein, schlug den Katalog auf und konzentrierte sich erneut auf das Studium der kommenden Ausstellungen. Die Unterhaltung war ihrerseits beendet.

Wilhelmina seufzte ergeben, kaute lustlos an ihrem Marmeladenbrötchen, studierte beiläufig die Überschriften der Zeitung, deren ketzerische Rhetorik ihr schon seit längerer Zeit das Lesen der meisten Artikel verleidete und erhob sich schließlich, ohne ihr Frühstück beendet zu haben. Die ewigen Zurechtweisungen ihrer Mutter verdarben ihr den Appetit. Sie empfand es als ungerecht und eigentlich auch ein wenig peinlich, dass sie mit ihren 20 Jahren von der Mutter immer noch so gegängelt wurde, wo ihre beiden jüngeren Brüder im Grossen und Ganzen tun und lassen konnten, was sie wollten . „Ich habe mich mit Amalie verabredet, wir wollen ein bisschen in der Stadt bummeln. Wir sind spätestens zum Tee zurück.“ Katharina Twiete, bereits wieder in den Katalog vertieft, schaute leicht desorientiert von ihrer Lektüre auf. „Dann schaut auch gleich bei Meislahn vorbei, sie haben einen Brief geschickt, dass die Stoffproben für die Tischwäsche angekommen sind. Lange genug hat es ja gedauert“, fügte sie säuerlich hinzu, bevor sie sich erneut dem Katalog widmete.

„Na, Kinder lass uns noch ein bisschen Tanzen gehen.” Beatrix hatte Wilhelmina untergehakt und sah auffordernd in die Runde. „So ein schöner Abend muss einfach ausgenutzt werden." Gläserklirren und einhellige Zustimmung aus der Runde. „Ist doch klar, was die Harvey kann, können wir schon lange! Und meine Beine sind außerdem noch schöner Unter dem Jubel und Applaus der Freunde kletterte sie auf die Holzbank, schürzte ihr Kleid und begann ihre schlanken Beine zu schwingen, bis ihre Tischnachbarn sie unter dröhnendem Gelächter wieder auf den Stuhl zogen.

„Noch ein Fläschchen zur Stärkung und dann geht’s ab“, verkündete Beatrix lauthals und schaffte es im Laufe kürzester Zeit, den Ober mit einem weiteren Eiskübel heranzulocken. Ohne zu wissen, woher es kam, hatte Wilhelmina plötzlich wieder ein volles Glas vor sich stehen. „Du, Trixi ich würde wirklich gerne noch mit, aber ich habe gerade wieder eine Predigt über mich ergehen lassen müssen und eigentlich auch nur was von Kino gesagt heute Abend, heute muss ich wohl mal vor Mitternacht nachhause. Du weißt, solange du die Füße noch unter unserem Tisch hast.“ „Ach du Ärmste, ich kenne das, aber heute habe ich frei. Mutter zur Kur, Vater in der Loge, das muss ausgenutzt werden!“ Wilhelmina arbeitete sich langsam aus der Sitzreihe heraus und wurde mit bedauernden Bemerkungen und unter lautstarken Gutenachtwünschen entlassen. Als sie aus dem erleuchteten Gartenlokal mit dem vielkehligen Gesprächen auf die stille dunkle Strasse trat und Trixis übermütigen Kampfruf allons enfants hörte, wäre sie am liebsten wieder umgekehrt. Ich bin doch wirklich alt genug, selbst über mein Leben zu bestimmen und darüber, wann es an der Zeit ist, ins Bett zu gehen, dachte sie trotzig. Nur weil ihre Mutter immer noch den Anstandsregeln des vorigen Jahrhunderts folgte, wenn es darum ging, was eine junge Dame zu tun und insbesondere zu lassen hatte, war sie gezwungen, die Klicke zu einem Zeitpunkt zu verlassen, wo der unterhaltsamste Teil des Abends gerade angefangen hatte. Besonders wenn Beatrix, versehen mit der rheinischen Frohnatur ihrer Mutter und dem soliden Taschengeld ihres Vaters, sich an die Spitze der abendlichen Unternehmung stellte, würde es auf jeden Fall nicht langweilig werden. Auf der anderen Seite hatte sie wenig Lust, sich morgen am Frühstückstisch eine weitere Moralpredigt ihrer Mutter anzuhören. Als Trostpflaster für den entgangenen Abend war da ja auch noch der große Ball im Yachtklub. Wenn sie sich jetzt bei ihrer Mutter ein bisschen Liebkind machte, dann würde sie ihr bestimmt die dreifache Perlenkette leihen, die Wilhelmina bereits heimlich zum neuen Kleid anprobiert hatte. Zusammen mit den neuen Satinsandalen würde sie eine strahlende Figur machen. Sie freute sich auf Gerhards Gesicht, wenn er sie in der Robe sah. „Darf ich Sie begleiten?“ Wilhelmina fuhr erschrocken zusammen, sie war so in ihre eigenen Gedanken vertieft, dass sie ihn nicht hatte kommen hören. „Laurids, mein Gott. Was wollen Sie denn! Wollen Sie denn auch schon nach Hause“, fragte sie ungewollt brüsk. Es hatte sie erschreckt und es war ihr peinlich, das ihm gegenüber einzuräumen.

„Wissen Sie, ich bin nicht gerade das, was man einen begnadeten Tänzer nennt. Ich glaube, man wird mich in der Runde nicht weiter vermissen“, erwiderte er im gleichen spöttisch verlegenen Ton wie am letzten gemeinsamen Abend. „Für mich sah es eigentlich so aus, als würden sie sich glänzend amüsieren und ich bin mir sicher, dass Trixi Ihnen sicher gern auf die Sprünge geholfen hätte“, kam es ungewollt schnippisch. „Ach, ich glaube, dass die schöne Beatrix den Verlust eines einzelnen Anbeters verschmerzen wird.“ Er sah sie an und lächelte. „Und wenn nicht, dann kauft Papa ihr sicher einfach einen Neuen.“ Wilhelmina musste lachen. „Dafür, dass Sie neu in der Klicke sind, haben sie schon viel begriffen“. Er zuckte mit den Schultern. „Übung macht den Meister, darf ich Sie denn nun begleiten? Ich kenne den Weg.“

Sie gingen schweigend durch die menschenleere Forstbaumschule. Ab und zu das Rascheln eines Vogels in den trockenen Blättern, ansonsten war es so still, dass sie den Kies unter den Schuhen knirschen hörte. Trotz der späten Stunde war es immer noch nicht richtig dunkel, die hellen Blüten in den Jasminbüschen leuchteten und sandten intensive Duftschwaden in die Sommernacht. Laurids versuchte mehrmals ein Gespräch anzufangen, verstummte aber stets nach einem einleitenden Räuspern. „Wollen wir uns nicht ein bisschen hinsetzen und den herrlichen Abend genießen“, sagte er endlich, als sie die grünlich schimmernde Apollonstatue in der Mitte des Parks passierten. Er griff nach ihrer Hand und zog sie auf eine der Bänke, die von einem Spalier blühender Rosen überdacht im Halbkreis um den Sockel der Statue gruppiert standen. „Netter als im Biergarten und mit einem entschieden angenehmeren Publikum.“ Er klopfte zwei Zigaretten aus der Packung. Wilhelmina nahm sie dankbar an. „Warum sind Sie eigentlich in Kiel, nur zum Segeln?“ „Nein, schön wär’s, ich bin hauptsächlich zum Arbeiten hier. Das Segeln ist nur eine Nebenbeschäftigung. Ganz genau genommen bin ich zum Forschen gekommen. Hier in Deutschland ist man bei der Erforschung von antibakteriellen Wirkungen gewisser Stoffe wesentlich weiter als bei uns in Dänemark. Und dieses Gebiet hat beruflich mein allergrößtes Interesse. Die Frage ist: Wie kann man bakterielle Infektionen wirkungsvoll und billig bekämpfen? Wie kann man das Kindbettfieber ausrotten, verhindern, dass Kinder an Diphtherie sterben, Epidemien aufhalten. Domagk, unzweifelhaft eine der größten Koryphäen auf diesem Gebiet hat zwar der Universität den Rücken gekehrt, aber deswegen ist der Forschungseinsatz in der Stadt hier immer noch beachtlich.“ Er zog an der Zigarette und für eine Sekunde tauchte die Glut sein Gesicht in ein weiches warmes Licht. „Ach und ich dachte, Sie wollten in den Urwald.“ Wilhelmina hörte sich fast enttäuscht an. „Urwald tja“, er lachte leise, ja ich will auf jeden Fall eine Zeitlang in Ländern arbeiten, in denen die Menschen nicht so privilegiert sind, dass sie an jeder Ecke einen Arzt oder ein Krankenhaus zur Verfügung haben. Ich möchte gerne etwas ausrichten, etwas für die Schwächsten tun, um die sich sonst niemand kümmert. Menschen, die schon von Geburt an benachteiligt sind, nur weil ihre Mütter arm oder krank oder ungebildet sind oder alles auf einmal, ich möchte“, er schlug mit der geballten Faust auf die Bank, „ich möchte mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, die Chancen für einige Menschen verändern, selbst wenn es sich nur um eine Handvoll handelt.“ Er holte tief Luft, strich sich mit der Hand durchs Haar und schickte Wilhelmina, die ihn nach diesem unerwarteten Ausbruch stumm und wie vom Donner gerührt ansah, einen trotzigen Blick. „Passt nicht ganz in die herrschende Ideologie, ist mir schon klar, aber ich…“ er stockte und suchte nach dem passenden Ausdruck. „Ich kann einfach nicht anders.” Wilhelmina betrachtete ihn, immer noch stumm. Nach diesem Redeschwall ließ er sich wohl kaum mit einer schlagfertigen Antwort, ihrer Standardlösung, wenn es galt sich ohne Gesichtsverlust aus einer gefühlsmäßig brenzligen Situation zurückzuziehen, abspeisen. „ Ähm, also ich … ich…“, sie blickte ihn hilflos an, bemerkte den Wechsel in seinem eben noch fast zornigen Gesichtsausdruck, spürte seine Hände und Sekundenbruchteile später seinen Mund auf ihrem. Sie registrierte, dass sein Körper, der sich an sie drückte schmal und sehnig war, schmeckte seine salzigen Lippen und fand mehr von dem schweren Moschusduft, den sie bereits am ersten Abend in schwacher Ausgabe an seinem Pullover wahrgenommen hatte. Wilhelmina wurde leicht schwindlig, sie fühlte, dass langsam der feste Boden unter ihren Füssen verschwand und durch Watte ersetzt wurde. Eine heiße Welle fuhr durch ihren Körper, sie spürte den Pulsschlag im Unterleib und dachte plötzlich an D.H. Lawrence. Mit bebenden Lippen hatte sie seine Romane verschlungen, ihre Lieblinsgabschnitte wieder und wieder gelesen, bis sie sie auswendig kannte. Und jetzt saß sie hier und erlebte am eigenen Leib, was sie nur in der Welt der Literatur für möglich gehalten hatte. „Jetzt bist du dran Wilhelmina“, fuhr es ihr durch den Kopf, als die Berührung von Laurids Händen erneut eine Welle heftiger Schauer in ihr auslöste und er ihr mit heiserer Stimme unverständliche Zärtlichkeiten ins Ohr murmelte. „Laurids, nein … bitte nicht.“ Sie setzte ihm mit der Andeutung einer abwehrenden Geste ihre Hände auf die Brust. „Wir dürfen nicht, wir… Laurids ich bin verlobt, du musst …“. „Psst“, er strich ihr behutsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihr ernst in die Augen. „Wilhelmina, ich liebe dich! Seit ich dich bei Lüthjes zum ersten Mal gesehen habe, bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Deine Augen, deine Stimme, dein Duft. Das Erste, was ich morgens beim Aufwachen denke ist, wie ich es wohl anstelle, dir zufällig zu begegnen und das Letzte, was ich vor dem Einschlafen denken kann, ist , wie wunderbar es wäre, dich für immer an meiner Seite zu haben.“ Wilhelmina öffnete den Mund, um zu protestieren, aber er legte ihr nur vorsichtig einen Finger auf die Lippen, nahm ihre Hand und fuhr fort. „Du bist die Frau, von der ich mein Leben lang geträumt habe, wir beide, wir könnten …Wilhelmina, willst du mit mir zusammen die Welt retten?" Trotz der dick aufgetragenen Ironie hatte er eine solche Inbrunst in diese Frage gelegt, dass Wilhelmina plötzlich aufging, dass es sich hier nicht um einen heftigen Flirt handelte, sondern dass es ihm Ernst war. Sie hatte gerade hier auf der Parkbank den zweiten Heiratsantrag ihres Lebens erhalten und im Gegensatz zum ersten, war dieser unerwartet gekommen, äußerst romantisch und mit einem dramatischen Zug versehen. Wilhelmina fühlte sich verliebt in Laurids und die besondere Stimmung, geschmeichelt, verunsichert und sah sich außer Stande zu irgendetwas auf vernünftige Art und Weise Stellung zu nehmen. Am liebsten hätte sie ihren Kopf an seine Brust gelegt, und ihm versprochen, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen. Notfalls mit nichts anderem als dem Kleid, das sie auf dem Leibe trug. Auch wenn sie diesen ernsthaften mageren Kerl so gut wie gar nicht kannte, fühlte eine solche Entscheidung sich einfach richtig an. Seit ihren Backfischjahren hatte Wilhelmina bereits mehrere Bekanntschaften mit jungen Männern hinter sich, war Flirts im Allgemeinen nicht abgeneigt und nahm männliche Schwärmerei als selbstverständlich hin und zumeist auf die leichte Schulter. Aber hier, mitten in der hellen Sommernacht im menschenleeren Park, zusammen mit diesem unerwartet leidenschaftlichen Verehrer, musste sie sich eingestehen, dass sie noch nie in ihrem 20-jährigen Leben derartige Gefühle für einen Mann empfunden hatte. Nicht einmal für Gerhard und mit dem war sie immerhin verlobt. Gerhard war mehr wie ein großer Bruder, mit ihm konnte man etwas unternehmen, sich amüsieren, fühlte sich beschützt und geborgen. Wo er auftauchte, war immer irgendetwas los, er war der geborene Alleinunterhalter.

„Laurids, das das … hier das dürfen wir nicht", stammelte sie. „Ich … ich bin verlobt, Gerhard will mich heiraten." Plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen. Er ließ sie nicht los, drückte sie noch fester an sich, vergrub seinen Kopf in ihrem langen Haar, das ihr jetzt offen über die Schultern fiel. „Liebst du Gerhard?" Sie konnte ihn fast nicht verstehen, so leise kam diese Frage. „Wir sind verlobt Laurids, Gerhard und ich wollen heiraten!“

„Aber liebst du ihn denn wirklich, deinen Gerhard“, fragte er nachdrücklich. „Wenn du jetzt ja sagst, gehe ich und tue als sei nie etwas zwischen uns geschehen, wenn nicht …”, er brach ab und sah sie mit erwartungsvollem Blick an. Am liebsten hätte sie sich einfach stumm an ihn geklammert, ihm in dieser Angelegenheit und für den Rest ihres Lebens die Entscheidung überlassen. Sie merkte wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und durch den Tränenschleier sah sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung wie einen Film an sich vorbeiziehen. Ein hysterischer Ausbruch ihrer Mutter. „Kind, das kannst du deinem Vater und mir nicht antun“, gefolgt von einem mehrtägigen Migräneanfall. Die Enttäuschung ihres Vaters, der sich mit seiner typischen Handbewegung resigniert über das Haar streichen und versuchen würde, seine Gefühle vor ihr zu verbergen. „Na, min Deern, solang du weest, wat du doost.” Das moralisch erzürnte Entsetzen von Probst Meyer, der sie schon getauft und konfirmiert hatte. „Mit dem Verlobungsring hast du Gerhard ein Versprechen fürs Leben gegeben.“ Frau Wiechmanns nervöses Kopfschütteln darüber, dass sie nun auf einem fast fertigen Brautkleid sitzen blieb, der cholerische Ausbruch des alten Knutzen vom Prinzengarten, in dem man das Hochzeitsessen für die 50 geladenen Gäste bestellt hatte. Verwandte und Bekannte, die sich kopfschüttelnd fragten, wie man allen Ernstes eine so gute Partie ausschlagen konnte und gleichzeitig überlegten, ob sie das bereits gekaufte Hochzeitsgeschenk zurückgeben konnten. Seltsamerweise hatte sie die größten Probleme damit, sich Gerhards Reaktion vorzustellen. Würde er traurig, enttäuscht oder wütend werden? Würde er sie anflehen, ihn zu heiraten? Würde er sie ignorieren oder beschimpfen? Würde er sich mit Laurids um sie schlagen? Sie hatte keine Ahnung. „Ja, ich liebe Gerhard, ich kann nicht mit dir gehen, es wäre verkehrt", flüsterte sie kaum hörbar ohne ihm in die Augen zu sehen. Laurids entließ sie widerstrebend aus seiner Umarmung und strich ihr vorsichtig über die Hände. „Wenn du dir da sicher bist, Wilhelmina, manchmal ist es im Leben notwendig etwas zu tun, was unmittelbar unüberschaubar wirkt“, sagte er eindringlich. „Mut zu zeigen, auf seine eigene innere Stimme zu hören. Sonst bereut man es den Rest seines Lebens, dass man es nicht gewagt hat, vor sich selbst weggelaufen ist. Kennst du Eliot? Der sagt uns genau das: Footfalls echo in the memory. Down the passage which we did not take. Towards the door we never opened into the rose garden." Wilhelmina saß immer noch unbeweglich, die Hände im Schoss. „Ich kann es nicht, …ich kann es einfach nicht tun, … es wäre….“ Laurids sah sie forschend an, fuhr sich mit einer müden Bewegung über die Augen, suchte nach einem winzigen Entgegenkommen ihrerseits. Einer kleinen Geste, die er zum Anlass nehmen konnte, hier bei ihr sitzen zu bleiben. Wilhelmina saß wie erstarrt. „Ich gehe dann wohl besser, viel Glück. Mit allem!" Er erhob sich langsam. „Ich bin noch eine Woche in Kiel, du kennst meine Adresse. Falls du es dir anders überlegen solltest.“ Er drehte sich um, überquerte mit langen Schritten den Rasen und verschwand hinter einer Baumgruppe.

Es hatte bereits begonnen zu dämmern, als Wilhelmina endlich unter die leichte Steppdecke schlüpfte. Sie hörte sie die ersten Wagen auf dem Kopfsteinpflaster vorbeirumpeln und die dumpfen Schläge der Kirchenuhr. Mit etwas Glück würde sie gerade noch etwas Schlaf bekommen, bevor Mathilda anfing in der Küche zu rumoren. Sie drehte den Kopf zur Wand, zog die Decke über den Kopf und versuchte erfolglos in den Schlaf wegzugleiten. Wenn sie die Augen schloss, tauchte Laurids Gesicht auf und gleichzeitig machte sich ihr Gewissen unangenehm bemerkbar. Sie hatte Gerhard hintergangen, sein Vertrauen in sie missbraucht. Gerhard der Pflichtbewusste, der diesen Abend in seinem Kontor bei Satori zugebracht hatte, um ein wichtiges Angebot auszuarbeiten anstelle mit den Freunden ins Kino zu gehen. Laurids gegenüber war sie auch nicht ganz ehrlich gewesen, als sie sagte, dass sie Gerhard liebte. Verglichen mit ihren Gefühlen für Laurids, den sie erst seit wenigen Tagen kannte, war das was sie für Gerhard empfand keine Leidenschaft, keine stürmische Liebe. Ihre Entscheidung für Gerhard und gegen Laurids hatte sie getroffen, weil sie die Konsequenzen einer anderen Entscheidung nicht überschauen konnte. Hatte sie denn wirklich das Recht, aus gänzlich egoistischen Gründen eine stattliche Anzahl Menschen einschließlich ihrer Eltern, die so viel für sie geopfert hatten, unglücklich zu machen? Nein, es war ihre Pflicht, Gerhard zu heiraten. Es war das, was man von ihr erwartete.

Wilhelmina

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