Читать книгу Liebe auf den zweiten Klick - Susanne Fülscher - Страница 11
das schicksal liegt im müll bereit
ОглавлениеNiemand in Nellys Umfeld konnte derart kalt, nüchtern, ja erbarmungslos sein wie Sofia. „Du mit deinem lächerlichen Alberglauben!“, schnaubte sie und löffelte so viel Eis in den Mund, wie nur mit einem Mal hineinpasste.
Da es täglich ungemütlicher wurde, versuchten die Freundinnen dem November zu trotzen, indem sie in den Arkaden am Potsdamer Platz Eis essen gingen. In dem offenen und zugleich anonymen Cafébereich hockten zwar ganze Fußballstadien von Touristen herum, aber das Eis schmeckte wie Sommerferien an der italienischen Adria.
„Astrologie ist kein Aberglaube. Astrologie ist Wissenschaft“, verteidigte sich Nelly. Sie hatte ihr Spagetti-Eis erst zur Hälfte aufgegessen sich, allerdings war ihr, seit Sofia das Thema angeschnitten hatte, der Appetit schlagartig vergangen.
„Schon möglich. Aber nicht so, wie du das betreibst!“ Nervös fummelte Sofia eine Klemme aus ihrem dunkelbraunen Pagenkopf, doch als ihr eine Strähne ins Eis zu rutschen drohte, schob sie sie gleich wieder in die vordere Seitenpartie ihrer Haare. „Du klaubst irgendeine versiffte Zeitschrift aus dem Müll und denkst auch noch, die liegt da einfach so für dich bereit!“ Sie wedelte mit den zugegebenermaßen muffig riechenden Seiten. „Schicksal – von wegen! Das ist doch lächerlich.“
„Was weißt du denn schon, was es alles so zwischen Himmel und Erde gibt, wovon wir nicht den geringsten Schimmer haben!“
„Zwischen Himmel und Erde, eben! Aber nicht in stinkenden Mülltonnen!“
Nelly rührte in ihrem Eis wie andere Leute in ihrem Tee und beobachtete eine Frau im Pelzmantel, die versuchte, ihren Zwillingskinderwagen durch die eng gestellten Tische zu bugsieren. „Warum sollte sich das Schicksal denn nicht in einer Mülltonne … ähm …“ Sie suchte nach dem passenden Wort, dann stieß sie theatralisch hervor: „Offenbaren?“
Sofia lachte so rau wie ein alkoholisierter Matrose. „Weil es in diesem Fall bloß das Geschreibsel irgendeines Zeitungsredakteurs ist. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Woher willst du das so genau wissen?“
Sofort kramte Sofia die neueste Ausgabe des xylo aus ihrer Plastiktasche und hielt es wie zum Beweis hoch. „Glaubst du allen Ernstes, bei diesen Schmuddelblättchen arbeiten seriöse Astrologen? Das Horoskop ist nicht mal auf dich persönlich zugeschnitten! Wer weiß, welcher Praktikant sich da gerade ausgetobt hat!“
Nelly ließ entmutigt ihre Stirn auf die Tischplatte sinken. Ihre Freundin hatte Recht. Echte Astrologen brauchten für die Erstellung seriöser Horoskope Geburtsdatum, Geburtszeit und Geburtsort … Das Zusammenmixen vorgefertigter Texte war reinster Humbug.
„Hey! So schlimm?“ Sofias Stimme klang auf einmal wie weich gespült.
Ja, es war schlimm. Schlimmer als schlimm! Gerade hatte Nelly einen winzigen Lichtschimmer am Horizont erspäht (der sie ihren Liebeskummer ein wenig vergessen ließ), und schon machte Sofia, die Vernunft in Person, alles wieder kaputt.
„Warum lässt du mir nicht das bisschen Spaß?“, jaulte Nelly, indem sie sich wieder aufrichtete und ihre köterbeigen Haare zurückstrich. Gleichzeitig jaulten auch die Zwillingsbabys der Pelzmantel-Mutti auf, die sich gerade mit hochrotem Gesicht am Nebentisch niedergelassen hatte und sich das tote Tier vom Leib riss.
„Solange es beim Spaß bleibt …“ Sofia strich Nelly sanft über die Hand. „Ich möchte nur nicht, dass du dich in irgendwas verrennst … und hinterher umso mehr leidest.“
„Wird schon nicht passieren.“
Auch wenn es albern klang und jeder Mensch, der halbwegs bei Sinnen war, Nelly für verrückt erklärt hätte: Das Horoskop war ihr nicht einfach bloß so vor die Füße gepurzelt. Hinter all den absurden Zufällen steckte ganz sicher mehr: Magie, Schicksal, Vorsehung – irgendetwas in der Art.
Als die Freundinnen sich eine gute halbe Stunde später (nach einem Abstecher bei H & M und Mango) an der S-Bahn Potsdamer Platz trennten – Nelly hatte es sich verkniffen, auch noch Gott Mike ins Spiel zu bringen –, verabschiedete sich Sofia mit den Worten: „Ich hab’s nicht böse gemeint, wirklich.“ Und lächelnd fügte sie hinzu: „Das Wichtigste ist, dass du endlich mal dieses Phantom Karl vergisst.“
Sofia hatte Recht. Sie musste Karl vergessen. So schnell wie möglich und bis in alle Zeiten …
Das kam Nelly mit Pauken und Trompeten zu Bewusstsein, als sie sich am darauf folgenden Tag – schon wieder ein angeblicher Glückstag – dem Schulgelände näherte und ihren Ex und Jolka in einen Kuss versunken an den Blumenkübeln mit den längst verdorrten Sommermargeriten stehen sah. Mist, verfluchter. Warum tat es immer noch so weh? Warum half Gott Mike nicht wie eine rasch wirkende Pille, die Karl zum Neutrum erklärte oder gleich jegliche Erinnerung an ihn auslöschte? Die beiden süßen Knutschi-Putzis winkten auch noch, als sie Nelly entdeckten. Vielleicht war es bloß nett gemeint, aber Nelly empfand es als puren Hohn.
„Hallo, Nelly! Guten Morgen!“, rief Karl bestens gelaunt. „Warum bist du neulich denn so schnell aus dem Saigon abgehauen?“
„Ich hatte … Ich weiß nicht … Mir war irgendwie total übel.“ Nelly betrachtete die trostlosen Blumenkübel. „Bin wohl gegen die Gewürze beim Vietnamesen allergisch.“
„Ach herrje. Das ist ja furchtbar!“ Karl sah wirklich besorgt aus. „Fühlst du dich jetzt besser?“
Nelly nickte flüchtig und schlängelte sich an dem Liebespaar vorbei. Nicht eine Zehntelsekunde länger würde sie es ertragen, dem Glück der beiden beizuwohnen. Es sprang ihnen förmlich aus jeder Pore und schrie in sich immer höher schraubenden Tonlagen: Sieh nur, Nelly! Wir lieben uns! Wir schweben auf Wolke achteinhalb! Ich bin er – und er ist ich! Wir sind eins!
Ekelhaft.
Einfach nur zum Kotzen.
Jolka holte Nelly auf der Höhe der Toiletten ein und lächelte so zuckersüß, als wären sie schon immer ein Herz und eine Seele gewesen.
„Nelly, was hältst du von Himmelblau als Grundfarbe?“ Sie fuhr mit gespreizten Fingern durch die Luft. „Und den Rand verzieren wir mit lauter weißen Wattewölkchen.“
„Weiße Wattewölkchen. Alles klar.“ Nelly tippte sich gegen die Stirn und spuckte Jolka in Gedanken ins Gesicht.
„Nicht gut?“
„Wenn du willst, dass niemand unsere Schule ernst nimmt, ist es geradezu ideal! In den weißen Wattewölkchen fliegen am besten auch noch kleine Engel herum. Und futtern Liebesperlen.“
Jolkas Vorschlag ließ sich nur auf ihre aktuelle Geistesverfassung zurückführen, die da hieß: verknallt bis zum Anschlag und daher nicht ganz zurechnungsfähig.
Mit einem Sicherheitsabstand von einer Ellenbogenlänge gingen sie den langen, schmutzig weiß getünchten Gang entlang – Todesflur hieß er bei den Schülern –, an dessen Ende sich der Computerraum befand.
„Hör zu, Nelly.“ Jolka blieb abrupt stehen. „Wir müssen ja nicht beste Freundinnen werden …“
„Nein, ganz bestimmt nicht.“
„Trotzdem sollten wir unseren Job wie Profis angehen.“
„Eben. Und weiße Wölkchen sind nicht professionell, die sind nur gaga.“
„Es war bloß ein Vorschlag. Herrjemine!“ Jolka grunzte.
„Offenbar einer, der einem hormongesteuerten, nicht mehr ganz klaren Hirn entsprungen ist!“ Noch während Nelly den Satz hinaustrompetete, wusste sie, dass sie den Bogen gerade kräftig überspannt hatte und sich mit ihrer Eifersucht zudem total lächerlich machte.
Doch statt zurückzublaffen, erwiderte Jolka ruhig wie nach einer Stunde Tai-Chi in der Winterfrische des Tiergartens: „Außerdem möchte ich dich bitten, nicht alle zwei Minuten auszurasten.“
„Ich raste aus? Ich?“, rastete Nelly erneut aus. Wenn sie eins nicht leiden konnte, dann so ein überhebliches Ich-bin-ja-so-souverän-Getue.
Jolka stierte einen Augenblick lang konzentriert in einen Schaukasten, in dem allerlei merkwürdige physikalische Gerätschaften ausgestellt waren. „Karl und ich sind zusammen. Ziemlich fest sogar. Auch wenn dir das stinkt und es wehtut – du musst es akzeptieren.“ Schwups fuhr sie ihre Hand aus und legte sie Nelly auf den Arm. Es war dieselbe Hand, die auch Karl (wo auch immer!) berührte.
„Nimm deine Griffel weg!“
Nelly riss sich so ruckartig los, dass ihre Tasche runterfiel und sämtliche Bücher, Hefte und Stifte herauspurzelten. Ganz die Gutmütigkeit in Person bückte sich Jolka sofort, um beim Aufsammeln zu helfen, aber Nelly stürzte sich wie eine Furie auf sie und schubste sie beiseite.
„Und? Bist du jetzt endlich mal sauer auf mich?“, schrie sie, bevor schon im nächsten Moment Sturzbäche an Tränen kamen. Der ganze Kummer der letzten Zeit entlud sich, sie heulte und schluchzte und war sich gleichzeitig bewusst, wie peinlich sie sich aufführte. Man ließ sich nicht in der Schule so gehen. Man ließ sich schon gar nicht vor seiner ärgsten Konkurrentin so gehen. Wenn überhaupt, räumte man erhobenen Hauptes das Schlachtfeld.
Felix aus ihrer AG kam angeschlurft. „Was ist denn mit der Kondom-Tante los?“, hörte Nelly ihn durch einen Schleier aus Tränen und Rotz gedämpft sagen. Schepperndes Gelächter ertönte. „Liebeskummer, wetten?“
„Quatsch“, entgegnete Jolka und rappelte sich hoch. „Nelly hat sich den Fuß verstaucht.“
„Himmel noch mal!“ Das war Frau Kastell, die wie eine Erscheinung im Todesflur auftauchte und sich Sekunden später besorgt über Nelly beugte. „Tut’s sehr weh?“
Nelly nickte wie ferngesteuert. Es stimmte ja auch in gewisser Weise. Ihr Herz tat weh. Und das war weitaus schlimmer als ein schmerzender Fuß.
„Wie konnte das bloß passieren?“ Die Kastell hatte ein wirres Geflecht von Sorgenfalten auf der Stirn.
„Umgeknickt“, ergriff Jolka wieder das Wort. „Hier vor dem Schaukasten.“
„Kannst du auftreten, Nelly?“ Frau Kastell griff nach ihrer Hand und half ihr hoch.
„Ja, geht schon“, spielte Nelly das Theaterstück namens Unfall auf dem Todesflur mit.
„Jolka, bist du so nett und bringst sie zum Arzt? Sicherheitshalber.“
„Aber klar doch.“
Bevor Nelly reagieren beziehungsweise den Sachverhalt geraderücken konnte, humpelte sie schon mit Jolka am Arm Richtung Aula. Erst als sie durch die Drehtür nach draußen traten, ging ihr auf, was für eine verdammt gute Schauspielerin sie doch war. Ebenso wie Jolka, die als spontanste Lügnerin aller Zeiten einen Goldenen Bären verdient hätte.