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2.2.3 Mystik als locus theologicus

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„Dort, wo Wort Gottes nicht nur mit dem exegetischen und theologischen Verstand, sondern mit dem ganzen Herzen, der ganzen Existenz gehört, wo der Selbsterschließung des Herzens Gottes in Feuer und Nacht standgehalten wird: dort ereignet sich, was – nicht im vagen religionsgeschichtlichen und -philosophischen, sondern im katholisch-kirchlichen Sinn – Mystik genannt zu werden verdient.“343 Christliche Mystik bedeutet demnach vom Menschen her gesehen zunächst einmal eine Steigerung und Überhöhung der von jedem Gläubigen und insbesondere auch von jedem Theologen geforderten spirituellen Haltung des Zur-Verfügung-Stehens für das von Gott her Zugesagte.344 Dennoch wäre sie als menschliche Leistung, etwa als Ergebnis besonderer asketischer oder meditativer Anstrengungen, völlig falsch verstanden. Mystische Erfahrung ist vielmehr freie Gnadengabe und in diesem Sinne Heiligung; der Mensch hat von sich aus keinerlei Verfügungsmöglichkeit, er kann und muss sich nur zur Verfügung stellen.

Dies gilt umso mehr, als Balthasar davon ausgeht, dass die Charismen des Geistes „den genauen Punkt, auf welchen der Geist in einer bestimmten Epoche die Kirche aufmerksam machen möchte“345, anzeigen. Der Geist reagiert also gleichsam auf die Fragen und Nöte der jeweiligen Zeit und eröffnet neue Perspektiven und Zugänge, indem er „einen Menschen … wie unmittelbar in den Ursprung der Offenbarung zurückwirft, um in der durch den Geist allein herstellbaren Gleichzeitigkeit eine distanzlose Auslegung zu vollziehen.“346 Die zeitliche Distanz zwischen dem konkreten Offenbarungsgeschehen in Jesus Christus und der einzelnen kirchen- und theologiegeschichtlichen Epoche wird somit überwunden, wodurch der geoffenbarten Wahrheit ganz neue Aktualität zuwächst.

Entscheidend ist nun, dass es sich bei solcher mystischer Erkenntnis nach balthasarschem Verständnis nicht etwa um die Einsicht in eher randständige Einzelfragen handelt. „Jedesmal ist es ein Grundaspekt der Offenbarung, der neu und wie erstmalig ins Licht gebracht wird, ein Gesichtspunkt, der durch die ganze Offenbarung hindurchgeht, und darum die Theologie als Auslegung der Offenbarung nicht gleichgültig lassen kann.“347 Was dem oder der Heiligen in der mystischen Schau als implizite Theologie zuteil wird, muss von der rationalen, wissenschaftlichen Theologie expliziert und so der Kirche allgemein zugänglich gemacht werden. Mystik kommt deshalb unbedingt dogmatische Bedeutung zu, oder, um es andersherum auszudrücken, Dogmatik bedarf der Mystik als „unmittelbare(r) Quelle der Fruchtbarkeit göttlichen Lebens in Kirche und Menschheit.“348

Zu dieser Überzeugung gelangt Balthasar vor allem auch mit Blick auf die Anfänge christlicher Theologie. „Betrachten wir die Geschichte der Theologie bis zur Hochscholastik, so fällt dem unbefangenen Blick auf, daß die großen Heiligen, jene nämlich, die es nicht nur durch eine gewisse persönliche Bemühung zu einer vorbildlichen Reinheit des Lebens gebracht haben, sondern offenkundig von Gott eine Sendung in die Kirche hinein erhalten haben, in der Mehrheit auch große Dogmatiker waren.“349 Ihre theologischen Einsichten beruhten auf und erwuchsen aus unmittelbarer, lebendiger Glaubenserfahrung und fanden ihrerseits wiederum Niederschlag in christlicher Lebenshaltung und -führung. „Kurz, diese Säulen der Kirche sind totale Persönlichkeiten: was sie lehren, das leben sie in einer so direkten, um nicht zu sagen naiven Einheit, daß der Dualismus der späteren Zeit zwischen Dogmatik und Spiritualität ihnen unbekannt ist.“350

Balthasar wird nicht müde, diese seiner Beobachtung nach mit der Hochscholastik einsetzende Trennung von Spiritualität, Askese und Mystik auf der einen und dogmatischer Theologie auf der anderen Seite zu beklagen.351 „Die Überfrachtung der Theologie mit weltlicher Philosophie (hat) den spirituellen Menschen der Theologie entfremdet.“352 In der Konsequenz hat mystisches Erleben mehr und mehr den Rückzug in den Bereich reiner Subjektivität und Innerlichkeit angetreten, während die Theologie zunehmend objektiv und damit blutleer, abstrakt und schematisch wurde. „Wie dogmatische Theologie nicht ohne Philosophie auskommen kann, die ihr das Seinsverständnis vermittelt, so kann sie auch ohne die ‚Theo-philieder Heiligen nicht auskommen, die ihr die Gottesliebe immer neu vermittelt.“353 Balthasar fordert deshalb eine Neubesinnung auf die unauflösbare Zusammengehörigkeit von überlieferter Dogmatik und Mystik, denn, so seine tiefe Überzeugung, „nur beide zusammen bilden [entsprechend dem Urbild in der Offenbarung] jene einzigartige ‚Gestalt‘ die im Licht der Gnade vom gläubigen Auge ‚gesehen‘ werden kann, ja in der Welt unübersehbar bleibt“354. Worum es ihm im Sinne eines lebendigen Glaubenszeugnisses geht, ist das je neue Durchdenken dogmatischer Aussagen vor dem Hintergrund experimenteller Erfahrungen. „Dabei sind die Mystiker und ihre Aussagen über Inhalte des christlichen Glaubens als gültige theologische Quellen ernstzunehmen.“355

Es gilt also auch hier, und, so wird man wohl sagen müssen, hier im besonderen Maße, der von Balthasar aufgestellte Grundsatz, dass Objektivität ihren ursprünglichen Erscheinungsort im Subjektiven hat. Um jedem Missverständnis zuvor zu kommen, sei noch einmal ausdrücklich betont: Balthasars Interesse gilt in keiner Weise den Zuständen mystischen Ergriffenseins oder den persönlichen Befindlichkeiten der MystikerInnen. „Entscheidend ist, dass das Objekt sich von sich her in einer es angemessen ausdrückenden und offenbarenden Form dem Geist und den Sinnen des Mystikers ein-bildet, und dabei durchaus auch dessen Einbildungskraft verwenden kann.“356 Im mystischen Erleben geht es also einzig und allein um die konkrete Erfahrung objektiver Offenbarung. Zwar richtet sich das Wort Gottes an das persönliche Vermögen und die individuellen Anlagen eines Einzelnen, aber alles Subjektive hat Bedeutung nur im Hinblick auf seine Werkzeuglichkeit für das jeweils Zugesagte. „Die Mitte der Sonderheit einer Spiritualität ist also nicht die Person des Trägers, sondern die Sendung von oben, die sich deshalb auch nie empirischpsychologisch aufrechnen und abgrenzen läßt.“357 Der Mensch wird ganz und gar von Gott ergriffen, seiner selbst entrückt und in den Dienst genommen. Christliche Mystik ist nach balthasarschem Verständnis reine Dienstmystik, der von Seiten des Mystikers einzig die Haltung grundsätzlichen Gehorsams entsprechen kann. Er muss einerseits in völliger Disponibilität bereit sein, sich stets neu überwältigen zu lassen, statt immer schon Bescheid wissen zu wollen; er ist andererseits aber auch verpflichtet, den objektiven Inhalt, das ihm Geoffenbarte unter weitestgehendem Ausschluss aller subjektiven Faktoren, an die Kirche zu übermitteln um in der Gemeinschaft der Gläubigen selbst erst zum rechten Verständnis des ihm Zugesagten zu finden. Als Kriterien echter christlicher Mystik benennt Balthasar dementsprechend „die Qualität des Jawortes, der reinen Dienstbereitschaft, des Durchgabewillens, der eigenen Anonymität, der völligen Durchlässigkeit für das Wort Gottes.“358

Wenngleich auch jedes Charisma als einmalige Zuwendung Gottes zu einem konkreten Einzelmenschen zu verstehen und als solche in keiner Weise zu verzwecklichen ist, so gilt doch vor allem, dass „alles ‚Charismatische‘ mit dem Gliedcharakter des Einzelnen zusammenhängt.“359 Die Fülle der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus wird durch die Vermittlung des Geistes stets der Gesamtkirche in ihrer Universalität zuteil. Alle Einzeloffenbarungen sind daher als Ausgliederungen aus der einen endgültigen und unüberbietbaren Offenbarung, alle besonderen Charismen als Anteilhabe an der allgemeinen Charis zu begreifen.360 Balthasar will daher außergewöhnliche Charismen im paulinischen Sinne als „Teilaufträge Einzelner für die Gemeinschaft“361 verstanden wissen.

Kriterium für wahre christliche Mystik ist dementsprechend nicht zuletzt die Möglichkeit ihrer Kommunizierbarkeit und Vereinbarkeit. „In der Theologie der Heiligen geht es um ein integrales Denken, um ein umfassendes Begreifen des Sowohl-Als-auch.“362 Balthasar unternimmt keineswegs den Versuch, ein System aus Mystiken zu entwickeln, aus den Steinchen einzelner mystischer Erfahrungen gleichsam ein Mosaik zu erstellen. Weil er aber, wie dargelegt, von der objektiven Evidenz der göttlichen Wahrheit überzeugt ist, glaubt er sicher sagen zu können, dass alles Unwahre sich angesichts seiner Inkompatibilität mit dem Gesamt der christlichen Glaubenslehre notwendig selbst entlarven muss.

„Damit ist das besondere Wesen kirchlicher Mystik … hinreichend situiert. Sie steht als ganze im Raum der Freiheiten des Geistes, der aber im Raum der biblisch-kirchlichen Tradition weht. Es gibt für diese Mystik keinerlei Schema, nach dem die Phänomene sich einordnen und entwickeln liessen. Jedes … fällt senkrecht vom Himmel herab. Dennoch fügt es sich … sogleich in die Landschaft der Tradition ein: verleiht der Botschaft neues Leben“363. Theologie obliegt dann die rationale Durchdringung des dergestalt Geoffenbarten.

Bis hierher wurde der Versuch unternommen, in groben Zügen die wesentlichen Linien des balthasarschen Theologieverständnisses nachzuzeichnen. Dabei zeigte sich, dass er Theologie im Wesentlichen als Erhellung der einen Glaubenslehre im Licht konkreter Erfahrung göttlicher Selbstoffenbarung begreift. Die innere Form der Theologie ist demnach zu verstehen als „eine aktiv-passive Einstrahlung der göttlichen Herrlichkeit aus der Offenbarungsform her … Natürlich wird diese Primärform nur durch die sekundären Formen hindurch erreichbar – durch geprägte Worte, Begriffe, Bilder, Schemata“364. Als einzig möglicher Denkweg hin zu der Primärform angemessenen Sekundärformen gilt Balthasar seinsphilosophisches Denken aus meta-anthropologischer Perspektive, weil es seiner Überzeugung nach gleichermaßen geeignet ist, das Mysterium göttlicher Selbstoffenbarung zu wahren wie der Dynamik des Geschehens zwischen Gott und Mensch Rechnung zu tragen.

Zu fragen ist nun in einen weitern Schritt, zu welchen Sekundärformen Balthasar auf diesem Weg in seinem Werk findet, mit welchen Mitteln er also versucht, der Primärform, wie sie sich ihm darstellt, Gestalt zu verleihen.

Sperare Contra Spem

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