Читать книгу Schuster und das Chaos im Kopf - Susanne Lieder - Страница 10

6.

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Ende April schien die Sonne so kräftig und warm, als wolle sie den nahenden Mai willkommen heißen.

Über die Tote im Bürgerpark sprach man kaum noch.

Es war immer das gleiche Spiel: Erst brach Hysterie aus, man hatte Fragen über Fragen, dann entspannte sich alles wieder, und Normalität kehrte ein, auch wenn es bisher keine einzige Antwort gegeben hatte. Man sah sogar wieder Joggerinnen im Bürgerpark.

Schuster hatte nächtelang wach gelegen und immer wieder die Frage in seinem Kopf hin- und her gewälzt, ob Stolze nicht doch was mit dem Mord an seiner Frau zu tun hatte. Dann war ihm siedend heiß eingefallen, dass er ihn noch nicht mal damit konfrontiert hatte, dass seine Kollegen ihm ein Techtelmechtel mit der Kunstlehrerin andichteten. Möglicherweise ein wichtiger Hinweis, dem er nicht nachgegangen war. Stolze hatte was mit seiner Kollegin, seine Frau ging ihm ohnehin auf die Nerven mit ihrer Impulsivität.

Ein Motiv?

Stadtteil Findorff

Am Nachmittag fuhr Schuster zu ihm.

Stolze war gerade dabei, einige Deutscharbeiten zu korrigieren und schien nicht sehr erfreut über die Störung.

„Tut mir leid, aber ich habe noch ein paar Fragen.“

Stolze bat ihn ins Wohnzimmer.

„Ich hab mich ein bisschen in Ihrem Kollegium umgehört. Man munkelt, Sie und eine gewisse Frau Wahlheim hätten ein Verhältnis miteinander.“

Stolze wurde knallrot. „Wer sagt so was? Das ist dummes Geschwätz, nichts weiter.“

„Dann ist also nichts dran?“

„Nicht das Geringste. Wir sind nur Kollegen, das ist alles.“ Seine Lippen waren ein dünner Strich. „Sind Sie eigentlich noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass meine Frau zufällig …?“ Er verstummte.

„Glauben Sie wirklich, dass wir darüber noch nicht nachgedacht haben? Niemand hat irgendwas gesehen, Herr Stolze, es gibt nicht die geringste, klitzekleine Spur. Wie darf ich mir das Verhältnis zwischen Frau Wahlmann und Ihnen vorstellen?“

„Wahlheim“, verbesserte Stolze ihn müde. „Das ist rein freundschaftlich.“

„Und Ihre Frau wusste davon?“

Stolze nickte.

„Und sie hatte nichts dagegen?“

„Es ist freundschaftlich. Warum soll sie also irgendwas dagegen gehabt haben?“

„Sie haben kein Alibi, Herr Stolze“, erinnerte Schuster ihn.

„Und nur deshalb verdächtigen Sie mich?“ Noch immer war seine Stimme ruhig, fast höflich. Eigentlich war der Mann zu bewundern. „Ich kann nichts dafür, dass ich an dem Abend allein vor dem Fernseher saß, meine Güte.“

Schuster blickte sich im Zimmer um.

Es war gemütlich eingerichtet, in warmen Grün- und Beigetönen. Es gab zwei riesige Regale voller Bücher, ein weiteres nur mit CDs und einen langen, sehr schönen Esstisch aus dunklem Holz, davor sechs Korbstühle.

Er selber saß in einem cremefarbenen, urgemütlichen Sessel, in dem man versank, und aus dem man nie wieder freiwillig aufstehen mochte. Ihm gegenüber Stolze auf einem hellbraunen Sofa, das wahrscheinlich genauso bequem war, wie es aussah.

„Alles, was ich will, ist den furchtbaren Mord an Ihrer Frau aufklären, Herr Stolze.“

„Dann sollten Sie anfangen, woanders zu suchen.“

Er erhob sich schwerfällig und nur widerwillig. „Darf ich mich ein wenig im Arbeitszimmer Ihrer Frau umsehen?“

„Das haben Ihre Kollegen doch schon getan.“

„Aber ich noch nicht.“

Stolze nickte und stand ebenfalls auf. „Bitte.“

Heidi Stolzes Arbeitszimmer war ein heller, relativ großer Raum mit einem riesigen Bücherregal. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch mit einer Glasplatte, darauf ein Stapel Arbeitsblätter der Klasse 9a, wie Schuster bei einem genaueren Blick sah. Daneben lagen zwei Bücher: eins von Hermann Hesse, das andere von Heinrich Böll. Schullektüre.

Er öffnete die oberste Schublade des kleinen Schränkchens, das unter dem Tisch stand.

Er fand zahllose Kugelschreiber, Briefumschläge, Klebestifte und Büroklammern. In der Schublade darunter lagen Schnellhefter in allen möglichen Farben.

Er kramte eher lustlos, und ohne wirklich darauf zu hoffen, dass er etwas Interessantes finden würde, in den weiteren Schubladen. Nichts. Seufzend ging er zum Bücherregal, strich mit dem Finger die Buchrücken entlang, verharrte bei dem einen oder anderen Titel und machte weiter.

Dann entdeckte er auf dem obersten Regalbrett zwei Theaterkarten. Er musste sich dafür nicht auf die Zehenspitzen stellen, Heidi Stolze hätte das allerdings sehr wohl tun müssen. Es musste also einen Grund geben, weshalb die Karten so weit oben lagen.

Er betrachtete sie. Es waren Musicalkarten.

„Meine Frau liebte Musical“, hörte er Stolze hinter sich sagen.

„Und Sie?“

„Ich hab mir Cats angesehen. Heidi zuliebe.“

Er wedelte mit den Karten, die er gefunden hatte. „Dann war die zweite Karte hier nicht für Sie?“

„Sie geht meistens mit einer Freundin. Ich meine, sie ging meistens mit einer Freundin.“

Er nickte. Heidi Stolze liebte also Musicals. Hatte sie die beiden Karten versteckt, obwohl sie doch nur mit einer Freundin hinwollte? „Wie ist der Name der Freundin?“

„Susanne Kohlmeier.“ Stolze drehte sich um und kam kurz darauf mit einem Zettel zurück. „Hier ist ihre Handynummer.“

Während Schuster zu seinem Auto ging, rief er die Frau an. Von den Musicalkarten wusste sie nichts. „Ich glaube nicht, dass Heidi mich damit überraschen wollte. Sie wusste, dass ich das Musical schon gesehen habe.“

Hatte Heidi Stolze also einen Verehrer oder sogar einen Liebhaber gehabt, der ihr die Karten geschenkt hatte?

Es war höchste Zeit für ein neues Auto und eine eigene Wohnung.

Mehr oder weniger kurzentschlossen kaufte Schuster einen Mazda, auch wenn der Händler ihm wieder einen Peugeot andrehen wollte. Die Farbe gefiel ihm ganz und gar nicht – sie erinnerte ihn an die Badezimmerfliesen in seinem alten Haus -, aber er nahm sich vor, darüber hinwegzusehen. Es gab Wichtigeres.

Zuverlässigkeit zum Beispiel. Der Wagen sprang sofort an, schnurrte wie ein Kätzchen, ruckelte nicht, wenn es geregnet hatte, und die Sitze waren ausgesprochen bequem.

Die Tage, an denen er frühmorgens aufgestanden war und gebetet hatte, dass der Wagen anspringen möge, waren endgültig Geschichte.

Beschwingt kaufte er sich einen Weser-Kurier und setzte sich in einen Biergarten. Es war auch Zeit für eine eigene Wohnung. Immer wieder hatte er das vor sich hergeschoben. Als wenn er dadurch den völligen Untergang seiner Ehe aufhalten könnte. Aber seine Ehe war im Eimer, und es wurde höchste Zeit, dass er das endlich einsah. Silke hatte ihn rausgeworfen, weil sie die Nase voll von ihm gehabt und sich einen Neuen angelacht hatte.

Fred war deutlich kleiner als er, hatte sogar ein kleines Bäuchlein. Nie hätte er gedacht, dass Silke sich mit so einem Würstchen einlassen würde. Aber er hatte nie auch nur im Traum daran gedacht, dass sie sich überhaupt mit jemandem einlassen würde. Er hatte Pläne bis an sein Lebensende gemacht, Pläne, in die er sie ganz selbstverständlich mit eingeschlossen hatte. Sie war seine Frau, er hatte sie sich ausgesucht, und so würde es bleiben, bis er alt, grau, vielleicht kahlköpfig und von Arthritis geplagt wäre.

Doch es war anders gekommen, und damit sollte er sich endlich abfinden.

Er kramte nach seiner Sonnenbrille, dann überflog er die Zwei-Zimmer-Wohnungen und kreuzte drei an, die infrage kamen.

Die Sonnenbrille auf der Nase, die Beine weit von sich gestreckt, nahm er seine Mütze ab und ließ sich die warme Maisonne auf den grau-blonden Haarschopf scheinen.

Die Mütze war schmuddelig, er sollte sie mal wieder waschen. Früher hatte sich Silke um seine Wäsche gekümmert, und als er in den Wohnwagen gezogen war, hatte er sich zunächst vollkommen überfordert gefühlt. Wie bitte wusch man Unterhosen? Socken? T-Shirts und Hemden? Handtücher? Alles zusammen? Nach Farben getrennt? Nach Verschmutzung?

Die Sonne brannte auf seiner Kopfhaut, dort, wo die Haare spärlich wurden. Er schloss die Augen und überlegte, ob er wieder anfangen sollte, Bass zu spielen, so wie früher. Sein alter Bass stand noch bei Silke, irgendwo im Keller.

Der Gedanke beflügelte ihn.

Er stand auf, schnappte sich die Zeitung und verschwand auf dem Klo, um sich die Hände zu waschen. Dass sie aufgesprungen und rot waren, ignorierte er.

Stadtteil Findorff

Die erste Wohnung war eine Dachgeschosswohnung in seinem Lieblingsstadtteil.

Er sprang die Treppenstufen hoch und war gespannt, was ihn erwartete.

„Einfach reinkommen!“, hörte er eine weibliche Stimme. Eine junge Frau um die zwanzig kam ihm auf dem Flur entgegen. „Hey, ich bin Meike.“ Sie streckte die linke Hand aus. „Wir hatten telefoniert. Sieh dich einfach um.“

Es gefiel ihm, dass sie sofort ganz selbstverständlich zum Du übergegangen war.

Er half ihr, einen schweren Karton auf einen anderen zu stapeln und ging zuerst in die Küche, für ihn der wichtigste Raum einer Wohnung. Sie war klein, und die Einbauzeile hatte schon bessere Zeiten gesehen. Mit einem wehmütigen Seufzen musste er an die riesige, moderne Einbauküche in seinem Haus denken.

Zum Teufel, es ist nicht mehr mein Haus …

Er ging weiter ins Bad, nach der Küche der zweitwichtigste Raum, und probierte den Wasserhahn aus. Im Spiegel betrachtete er sich und runzelte die Stirn. Das wird ein hübscher kleiner Sonnenbrand, du Idiot.

Meike stand plötzlich hinter ihm. „Suchst du schon lange?“

Er drehte sich zu ihr um. „Um ehrlich zu sein, ich fange gerade erst an. Dies ist die erste Wohnung, die ich mir angucke. Ich würde sie nehmen.“

„Machst du Witze?“

„Manchmal schon. Jetzt aber nicht. Wann kann ich einziehen?“ „Ich brauche noch ein paar Tage. Wie wärs mit nächstem Montag?“

„Perfekt.“

Eine grauweiß-getigerte Katze kam aus dem Wohnzimmer, streckte sich und beäugte ihn neugierig.

Meike nahm sie hoch. „Das ist mein einziges Problem.“

„Was?“

„Herr Meier. Ich kann ihn nicht mitnehmen. Ich ziehe zu meinem Freund, und der hat ’ne Katzenhaarallergie. Ich muss Herrn Meier ins Tierheim geben.“

Herr Meier sah so aus, als wüsste er, dass auch er bald umziehen musste.

Schuster beugte sich hinunter, kraulte den Kater hinterm Ohr und sagte, ohne auch nur im Mindesten darüber nachzudenken: „Wenn du möchtest, nehme ich ihn.“

Sie sah ihn skeptisch, fast misstrauisch an. „Du willst ihn nehmen? Wieso?“

„Weil ich Katzen mag. Ich hatte selbst eine. Ein Lkw hat sie überfahren.“ Er verzog das Gesicht, als er daran denken musste, wie er seinen altersschwachen, halbtauben Kater Felix mit einer Schaufel von der Straße gekratzt hatte. Warum hatte der arme Kerl auch ausgerechnet einen Abendspaziergang auf der gut befahrenen Hemmstraße machen müssen?

Meikes Miene hellte sich deutlich auf, bestimmt nicht, weil seine arme Katze unter einen Laster gekommen war. „Und du willst ihn wirklich haben?“

„Wenn er mich auch will.“

Herr Meier sah so aus, als ob.

Er hatte also eine Wohnung mit Katze.

Er war stolz, dass er das durchgezogen und nicht gekniffen hatte. Eine eigene Wohnung!

Er hatte Lust, sich noch ein bisschen die Beine zu vertreten und beschloss, einen kleinen Spaziergang zu machen, um sich ein wenig umzusehen. Vielleicht könnte er seine zukünftige Joggingstrecke auskundschaften, der Bürgerpark war ganz in der Nähe. Was für ein Glück, bald eine so tolle Laufstrecke gleich vor der Nase zu haben.

Er spazierte durch die Straßen und betrachtete etwas wehmütig die Altbremer Häuser. Nur wenige Meter weiter sah er eine Frau, die gerade damit beschäftigt war, ihre Einkäufe aus dem Kofferraum ihres knallroten Fiats zu holen. Sie kam ihm bekannt vor, er kam nur nicht darauf, woher.

Als er direkt neben ihrem Wagen war, klappte sie den Kofferraum zu und rannte ihn fast über den Haufen.

„Hoppla.“

„Oh, verzeihen Sie, bitte.“ Sie hielt kurz inne und stutzte. „Wir kennen uns doch.“

Er hatte sie ebenfalls erkannt und spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss.

„Sie sind doch der Mann, der Lukas Grätsch neulich in meine Praxis …“

„Stimmt.“ Er schluckte, weil er sie gerade ziemlich unhöflich unterbrochen hatte. Was sollte sie bloß von ihm denken? Er sollte sie schleunigst davon überzeugen, dass er zwar rot wie ein Teenager wurde, aber wenigstens in der Lage war, Konversation zu machen. „Ist das Wetter nicht herrlich?“

Ja, super, mit einer hübschen Frau Gespräche übers Wetter zu führen, davon hatte er schon immer geträumt.

„Oh ja, nach all dem Regen hat man sich wirklich nach Sonne gesehnt.“ Sie lächelte, wobei sie ihre Nase krauszog, die mit Dutzenden von Sommersprossen übersät war, und ihre haselnussbraunen Augen blitzten. „Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Jana Tellmann.“ Wieder schenkte sie ihm ein Lächeln, das ihn fast aus den Turnschuhen haute.

„Schuster, Heiner Schuster.“

Hinter ihr tauchte ein Mädchen auf, das gleiche rotblonde Haar wie sie. „Das ist übrigens Louisa, meine Tochter.“

Sie hat eine Tochter, sie ist verheiratet, dachte er. Natürlich ist sie verheiratet. Dachtest du wirklich, eine Frau wie sie sei noch zu haben?

„Sie sieht aus wie Sie.“

„Eigentlich kommt sie mehr nach ihrem Vater.“ Jana fuhr ihrer Tochter übers Haar.

„Wohnen Sie hier?“

Sie zeigte auf das weiße Haus direkt vor ihnen. „Gleich hier drüben.“

Sollte er sagen, dass er bald ganz in der Nähe wohnen würde? Einen Moment rang er mit sich.

„Und Sie?“ Sie hatte eine Hand auf die Schulter ihrer Tochter gelegt.

„Ich werde bald zwei Straßen weiter einziehen.“

„Dann laufen wir uns bestimmt öfter über den Weg.“

„Ja, bestimmt.“ Er lächelte und verabschiedete sich hastig. Sein Gesicht glühte.

Wahrscheinlich bekam er wirklich einen Sonnenbrand.

Schuster und das Chaos im Kopf

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