Читать книгу Schuster und das Chaos im Kopf - Susanne Lieder - Страница 8

4.

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Schuster hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen, die Sonnenbrille und ein ausdrucksloses Gesicht aufgesetzt.

Am Morgen von Heidi Stolzes Beerdigung hatte der Regen aufgehört, fast schlagartig. Nun schien die Aprilsonne so ungeniert, dass man es ihr fast übel nehmen konnte.

Er lehnte in einigem Abstand an einer Esche, die Kapuzenjacke geöffnet, seine Hände in den Hosentaschen.

Albert Stolze, im langen schwarzen Mantel und mit Hut, wurde von zwei Leuten gestützt. Er erinnerte ihn ein wenig an einen Mafia-Boss.

Heidi Stolzes Klasse, die 9a, hatte einen Blumenkranz auf das Grab gelegt. Ein blondes Mädchen hielt eine kurze Rede, und er spitzte die Ohren, konnte aber kaum etwas verstehen, dafür stand er zu weit entfernt. Er fragte sich, ob Heidi Stolzes Mörder hier irgendwo herumstand, vielleicht hinter einem der Bäume?

Nein, wohl kaum, das hätte er längst bemerkt, schließlich stand er sich hier seit über einer Stunde die Beine in den Bauch und hatte jeden Grabstein, jeden Baum im Blick.

Hinter dem Mädchen stand Hausmeister Ohlendorf, er wurde von ihr um einen halben Kopf überragt. Heulte er? Hatte er sich nicht gerade mit einem Taschentuch über Augen und Nase gewischt?

Schuster überlegte, sich einen neuen Standort zu suchen, einen, von dem aus er einen noch besseren Überblick hatte.

Er sah, wie Stolze mit schleppendem Schritt zum offenen Grab ging. Ein paar Minuten starrte Heidi Stolzes Mann hinein, dann warf er einen Strauß weißer Lilien auf den Kiefernsarg.

Schuster lugte über seinen Brillenrand und beobachtete ihn.

Stolze benahm sich wie ein Mann, der gerade seine Frau verloren hatte, und den das völlig aus der Bahn warf, selbst wenn diese Frau gern mit Geschirr nach ihm geworfen hatte.

Nein, Schuster glaubte nicht ernsthaft, dass Stolze seiner Frau nachgelaufen war und sie umgebracht hatte.

Sein Handy klingelte. Hastig griff er danach und duckte sich.

„Heiner?“ Grätsch. „Wo steckst du?“

„Auf der Beerdigung“, raunte er.

„Es haben sich einige Leute gemeldet, die über den Mord in der Zeitung gelesen haben. Du solltest gleich mal vorbeikommen.“

„Alles klar.“ Er steckte das Handy zurück in seine Jackentasche.

Die Menschenmenge löste sich allmählich auf und zerstreute sich in alle Richtungen. Zurück blieben Stolze und ein junger Mann, den Schuster nicht kannte, aber gern kennenlernen würde.

Seine Nase juckte, und als er begriff, dass er jeden Moment heftig niesen würde, blieb er vorsichtshalber in Deckung. Mit einer Hand wühlte er nach einem Taschentuch, fand aber keins. Mit zugehaltener Nase trat er hinter der Esche hervor und nahm Kurs auf Stolze.

Der stand noch immer mit gesenktem Kopf am Grab.

Er stellte sich neben ihn und blickte ebenfalls auf den Sarg.

„Sie hier?“ Stolzes Stimme klang rau und brüchig.

„Wissen Sie, wer der junge Mann da drüben ist?“ Schuster zeigte auf den Burschen in der schwarzen Lederjacke.

„Ein Schüler meiner Frau. Ich glaube, er heißt Thorsten Haase.“

Ihm gingen eigenartige Dinge durch den Kopf. Wie würde er sich fühlen, wenn Silke dort unten läge?

Sofort verscheuchte er den Gedanken. Es war nicht so, dass er sich ihren Tod wünschte, natürlich nicht. Er war enttäuscht, verletzt und vielleicht sogar verbittert, klar. Und ja, er war eifersüchtig auf ihren neuen Freund. Hatte er dazu nicht auch jedes Recht der Welt?

Das Kribbeln in seiner Nase verstärkte sich und entlud sich mit einem lauten „Hatschi“.

„Gesundheit“, murmelte Stolze.

„Danke, ich hab mich erkältet“, erklärte er.

„Sie haben mich eben so komisch angesehen.“

„Ach ja?“

„Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich meine Frau …? Hören Sie“, zischte Stolze, „ich hab sie geliebt, auch wenn wir uns hin und wieder gestritten haben.“

„Schon gut.“ Seine Nase lief, und er wischte sich verstohlen mit dem Handrücken darüber.

„Ich renne doch nicht hinter meiner Frau her und stoße ihr ein Messer in den Rücken! Ich habe sie wirklich geliebt.“

Er drehte den Kopf und sah Stolze überrascht an. „Haben Sie eben ein Messer in den Rücken gesagt?“

Stolze zog ein Taschentuch aus seiner Manteltasche und putzte sich die Nase. „Keine Ahnung, ja, schon möglich.“

„Hätten Sie für mich auch eins?“

„Ein was?“

„Ein Taschentuch.“

„Sicher.“ Stolze gab ihm gleich die ganze Packung.

Während er sich die Nase putzte, wurde er unruhig, weil er sich anschließend nicht die Hände waschen konnte. Er hasste das. „Ihre Frau wurde mit mehreren Stichen in den Oberkörper getötet. Das wissen Sie doch.“

Stolze blickte ihn verwirrt an. „Ja und? Ich verstehe nicht …“

„Eben haben Sie gesagt, dass Sie ihr kein Messer in den

Rücken …“ Er winkte ab. „Schon gut.“

„Dann glauben Sie mir, dass ich nichts damit zu tun habe?“

„Was ich glaube, ist unwichtig.“ Er wandte sich ab. „Halten Sie sich weiterhin zur Verfügung.“

Verdammt, wenn er sich doch bloß irgendwo die Hände waschen könnte!

Er ging auf den jungen Mann in Lederjacke zu.

Der blickte auf und runzelte die Stirn. „Was wollen Sie?“

„Hauptkommissar Schuster. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.“ Er zeigte ihm seinen Dienstausweis.

Schon wieder bahnte sich ein Niesen an, und er rümpfte die Nase. „Sie sind …?“

„Thorsten Haase.“

„Und was tun Sie … Hatschi!“

„Gesundheit.“

„Danke. Also?“

„Ich verabschiede mich von Frau Stolze.“

Er überlegte, ob er zur Beerdigung einer seiner Lehrerinnen gegangen wäre. Nein, wahrscheinlich nicht. „Sie mochten sie also?“

„Sie war klasse. Die Beste, die wir hatten.“

„Warum sind Sie nicht mit Ihren Klassenkameraden gegangen?“

„Weil ich in Ruhe Tschüss sagen will.“

„Verstehe.“

„Frau Stolze war nicht wie die anderen Lehrer. Sie war … anders.“

„Ach ja?“

„Das verstehen Sie nicht.“

„War sie bei allen so beliebt?“

„Ich glaub schon. Und bevor Sie nachfragen: Ich hab ein Alibi. Ich war mit ein paar Freunden Volleyball spielen. Möchten Sie die Namen?“

Schuster nickte. Er sah, wie Ohlendorf zu Stolze ging, kurz mit ihm sprach und dann irgendwo zwischen den Grabsteinen verschwand.

„Kann ich dann jetzt …?“

Er nickte wieder und machte sich ebenfalls auf den Weg.

Polizeipräsidium

Wenig später stand er vor dem schmuddeligen Spiegel im Bad, nachdem er sich zweimal hintereinander die Hände gewaschen hatte. Seine Augen waren trüb, und die dunklen Ringe darunter kein Wunder. In den letzten Wochen hatte er selten eine Nacht durchgeschlafen. Seine Nase war feuerrot angelaufen. Er musste sich zwingen, den Wasserhahn nicht noch mal aufzudrehen, stieß einen tiefen Seufzer aus und ging ins Büro. Unterwegs nieste er viermal hintereinander.

Grätsch saß am Schreibtisch. „Zwei Leute glauben, irgendwas gesehen zu haben, an dem Abend, als Heidi Stolze umgebracht wurde. Hast du dich erkältet?“

Er nahm zwei Tassen aus dem Schrank, schenkte Kaffee ein und reichte Grätsch eine. „Scheint so. Und was haben sie gesehen?“

Sein Kollege stöhnte auf. „Ein Mann will vom Fenster seiner Wohnung aus ein Auto gesehen haben. Dunkel, vielleicht ein Kombi. Sicher ist er sich aber nicht. Soll am Bürgerpark geparkt haben. Mehr weiß er nicht.“

„Kennzeichen?“

„Irgendwas mit HB.“ Grätsch verzog das Gesicht.

„Wow, wenn uns das nicht weiterbringt, weiß ich auch nicht“, meinte Schuster trocken.

„Es kommt noch besser. Eine alte Dame will einen Mann mit langem Mantel und Hut in der Nähe des Fundorts gesehen haben. Sie war gerade mit ihrem Hund Gassi, und der Mann soll dagestanden und schien auf irgendwas gewartet zu haben.“

Schuster sog scharf die Luft ein.

„Auf den ersten Blick passt alles wunderbar zusammen. Ein dunkler Wagen, der Fahrer wartet, dass zufällig eine Joggerin vorbeikommt, nimmt ein Messer aus der Manteltasche, sticht auf sie ein, steigt ins Auto und weg ist er.“ Grätsch verschränkte die Arme im Nacken. „Keine Reifenspuren, nichts. Tatsache ist, dass Stolze vielleicht ein Motiv hatte. Und dummerweise kein Alibi.“

Mühsam unterdrückte Schuster ein Gähnen und presste seinen Kiefer zusammen. „Er sagt, seine Frau sei etwas impulsiv gewesen. Unbeherrscht nenne ich es einfach mal. Sie schmeißt wieder mal mit einer Tasse, und er hat ein für alle Mal die Faxen dicke. Und außerdem soll er eine Affäre haben. Seine Frau war ihm vielleicht im Weg. Ist das so abwegig? Immerhin sind die meisten Morde Beziehungstaten.“

„Und dann nimmt er vorsichtshalber auch gleich noch den zweiten Schuh mit? Als Andenken? Wirklich, Heiner …“

„Hmmm“, machte er. „Die Zeugenaussagen habt ihr wahrscheinlich längst überprüft.“

Sein Kollege winkte ab. „Die Frau mit dem Hund ist stark kurzsichtig, trägt eine Brille mit Gläsern dick wie Colaflaschen, ist weit über siebzig und hat meines Erachtens eine blühende Fantasie. Ich glaube, sie ist ein bisschen einsam. Eine alte Dame, die froh ist, dass mal jemand mit ihr redet. Der Kerl, der einen dunklen Wagen gesehen haben will, hat zugegeben, dass er kurz zuvor eingenickt war, während er einen Krimi im Fernsehen geguckt hat.“

„Scheint nicht …“ Er musste ein paar Mal niesen. „Sehr spannend gewesen zu sein.“

Grätsch schob seine leere Tasse mit Schwung über den Tisch. „Vitamin C“, sagte er dann.

„Was ist mit Vitamin C?“

„Hilft bei Erkältung.“

Als wüsste er das nicht. Er war Experte in Sachen Vitamine, schließlich gehörten sie seit Jahren zu seinen Grundnahrungsmitteln.

„Ein dunkler Wagen, hmm …“ Er kaute an seinem Stift.

Ihr Kollege Florian Lahm erschien in der Tür, das Hemd aus der Hose, die Haare verwuschelt und unterm Arm einen Stapel Papier. Die Ringe unter seinen Augen waren auch nicht übel.

„Es gibt Neuigkeiten.“ Er setzte sich auf Grätschs Schreibtisch. „Der Mann, der einen Wagen gesehen haben will, hat sich noch mal gemeldet.“ Er nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht. „Uh, wer hat den denn gekocht? Oder sollte ich lieber sagen, zusammengebraut? Der Mann ist sich nicht mehr sicher. Je länger er darüber nachdenke, desto unsicherer sei er.“

Grätsch stöhnte kopfschüttelnd, und Schuster schnalzte mit der Zunge.

„Was nun?“ Lahm schüttete den Kaffee in den Ausguss.

Darauf hatten seine beiden Kollegen keine Antwort.

Begeistert war Thorsten Haase nicht gerade, als Schuster am nächsten Tag auf dem Pausenhof auftauchte. „Sie schon wieder.“

„Ja, ich schon wieder.“ Er war schon schlechtgelaunt aufgestanden, bestimmt machte sich der Schlafmangel langsam bemerkbar. Oder aber, und der Gedanke machte ihm Angst, er hatte sich in den letzten Wochen zum Ekelpaket entwickelt.

„Ich hab doch schon alles gesagt.“ Haase biss in einen schrumpeligen Apfel.

Schuster bekam Appetit auf Apfelkuchen mit Sahne. „Sie wollten mir doch eine Namensliste zusammenstellen, wer an dem Abend, als Frau Stolze getötet wurde, mit Ihnen Volleyball gespielt hat.“

„Hab ich ganz vergessen.“

„Ich würde Sie gern noch was fragen.“

„Und was?“

„Wie sehr mochten Sie Frau Stolze?“

Haase wurde blass. „Was meinen Sie denn damit?“

„Das, was ich gefragt habe.“

„Sie glauben doch nicht etwa, dass ich …? Warum hätte ich sie umbringen sollen?“

„Beantworten Sie mir einfach meine Frage.“

„Okay, ich mochte sie. Nicht mehr und nicht weniger. Sie war cool, irgendwie lässig. Sie hatte Humor, war fair und nicht so ein Korinthenkacker wie die anderen Lehrer. Reicht das?“ Haase wippte auf den Zehenspitzen. „Kann ich dann jetzt wieder …?“

Er warf den abgenagten Apfel ins nächste Gebüsch, und Schuster blickte sehnsüchtig hinterher. Ein Apfel wäre jetzt genau das richtige. Knackig, lecker und voller Vitamine.

Die Schulglocke klingelte.

„Ich müsste dann jetzt wirklich …“

Er nickte gedankenverloren.

Haase war schon fast an ihm vorbei, als ihm noch was einfiel. „Gab es jemanden, der Ärger mit Frau Stolze hatte?“

„Nicht dass ich wüsste. Kann ich jetzt?“

Er nickte wieder und überlegte, gleich beim Supermarkt vorbeizufahren. Dann entdeckte er den Hausmeister, der etwas weiter entfernt den Boden fegte. Offenbar hatte der auch ihn gerade gesehen, denn er hob die Hand und winkte ihm zu. „Tag, Herr Kommissar!“, rief er.

Schuster ging zu ihm.

„Gibt’s schon Neuigkeiten? Ich meine, man will schließlich wissen, wer die arme Frau Stolze …“

„Wir ermitteln in alle Richtungen.“ Der Standardsatz. Er hatte keine Ahnung, wie oft er ihn schon gesagt hatte. Und er würde ihn vermutlich noch unzählige Male sagen. „Wiedersehen, Herr Ohlenkamp.“

„Dorf.“

„Was?“

„Ohlendorf, Herr Kommissar.“

„Ach so, ja, ´tschuldigung.“

„Keine Ursache.“

Als er am nächsten Morgen aufwachte, stellte er fest, dass er zum ersten Mal seit Wochen durchgeschlafen hatte. Er hatte sich am Abend zuvor nicht mal einen angetrunken, auch wenn er drauf und dran gewesen war. Die Abende in diesem Scheißwohnwagen waren ohne Alkohol kaum zu ertragen. Dabei verabscheute er Menschen, die ihre Probleme ertränkten. Die Sorgen verschwanden für ein paar Stunden, man hatte anschließend einen dicken Kopf, und am nächsten Tag waren die Probleme wieder da. Und vielleicht sogar noch beängstigender als am Tag zuvor.

Seine Erkältung war offenbar auf dem Rückmarsch, Gott sei Dank. Vielleicht würde heute sogar zur Abwechslung ein guter Tag werden.

Schuster und das Chaos im Kopf

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