Читать книгу Schuster und das Chaos im Kopf - Susanne Lieder - Страница 7

3.

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Sein Peugeot war abgeschleppt worden, er musste ihn am nächsten Morgen abholen.

Er war wütend auf sich selbst, er hatte doch gewusst, dass der Wagen im Halteverbot stand. Wie konnte man so blöd sein? Erstaunlich war, dass diese Wut besser auszuhalten war als das beklemmende Gefühl, mit dem er seit Wochen herumlief.

Während er zu seinem Wagen ging, murmelte er vor sich hin, wie verblödet man eigentlich sein musste, so abzustürzen. Er massierte sich die Schläfen. Er hatte hämmernde Kopfschmerzen, selbst zwei Aspirin gleich nach dem Aufstehen hatten bisher nicht geholfen.

Sein Peugeot stotterte einmal, zweimal, würgte und spuckte und beschloss dann, keinen Piep mehr von sich zu geben. Er haute mit der Faust aufs Lenkrad und löste damit die Hupe aus. „Wenn du nicht SOFORT anspringst, du verfluchte, elende Mistkarre, verschrotte ich dich noch heute!“

Der Motor rührte sich nicht.

„Du hast es nicht anders gewollt.“ Fluchend stieg er wieder aus dem Wagen, trat mit dem Fuß in die Fahrertür, ließ den Scheibenwischer einmal zurückklatschen und machte sich auf den Weg.

Es hatte angefangen zu regnen, und als er ein paar Meter gegangen war, schüttete es wie aus Eimern. Binnen weniger Minuten war er klatschnass.

Polizeipräsidium

Grätsch saß bereits am Schreibtisch. „Wie siehst du denn aus? Regnet es etwa schon wieder?“

Er biss sich auf die Zunge, um sich nicht schon am frühen Morgen mit seinem Lieblingskollegen anzulegen. Dann machte er kehrt und ging zum Klo, nahm einige Blatt Papier aus dem Apparat und rubbelte sich die Haare einigermaßen trocken. Am Ende wusch er sich dreimal hintereinander die Hände.

Sein Waschzwang machte ihm schwer zu schaffen, doch er kam nicht dagegen an. Mehrmals die Stunde musste er sich die Hände waschen, wenn er nervös war zum Beispiel, sich unwohl fühlte oder über irgendetwas den Kopf zerbrach.

Zurück im Büro zog er seine triefnasse Kapuzenjacke aus und hängte sie an den Garderobenständer, der in der Ecke stand und unter dem einseitigen Gewicht zweier Jacken bedrohlich wackelte.

Er setzte sich, schaltete den PC an, nahm aus der Schublade einen Marsriegel, aß ihn mit drei Bissen und lehnte sich mit einem lauten Seufzen zurück.

Sein Kollege hatte ihm die ganze Zeit schweigend zugesehen.

Schuster stand wieder auf, nahm die weiße Tasse aus dem Schrank, die er vor einiger Zeit zu seiner Privattasse erklärt hatte, und schenkte sich Kaffee ein. Heute sah der Kaffee aus, als hatte er ursprünglich schwarzer Tee werden wollen.

Schuster schob sich zwei Vitaminpillen in den Mund und überlegte kurz, ob er sein Neurosenprogramm – so nannte er es selbst – damit für heute erledigt hatte.

„Was macht dein Kopf?“, erkundigte sich Grätsch.

„Wehtun.“

„Hast du letzte Nacht wenigstens mal geschlafen?“

Er blickte vom Bildschirm zu Grätsch. „Ich war total blau, Gunnar. Ich weiß kaum, wie ich nach Hause gekommen bin.“ Er verzog das Gesicht. „Nach Hause.“

„Ist nicht so gut gelaufen gestern mit Silke, was?“

„Kannst du laut sagen. Sie hat meine Sachen gepackt und das Schloss auswechseln lassen.“

„Oh, verdammt.“

„Sie will nicht, dass ich plötzlich auftauche und sie mit ihrem neuen Loverboy bei Turnübungen überrasche.“

Verflucht, schon wieder dieses ekelhafte Gefühl in der Kehle. Nervös trommelte er mit dem Stift auf seinen Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab.

„Sag jetzt nicht, du rufst sie wieder an.“

„Wen, Silke? Nein, ich rufe in der Werkstatt an.“

„Vielleicht solltest du dir ein neues Auto anschaffen“, schlug sein Kollege vor.

Er nickte. „Und ich werde mir so schnell wie möglich eine Wohnung suchen, Gunnar. Ich hab eure Gastfreundschaft lange genug strapaziert.“

In der Nacht wälzte er sich von einer Seite auf die andere, und immer wieder griff er zum Wecker und warf einen Blick aufs beleuchtete Zifferblatt.

Es ist aus, Heiner …

Mann, warum konnte er diesen verdammten Satz nicht endlich aus seinem Kopf kriegen?

Um kurz nach fünf schwang er sich aus dem Bett. Mit der Faust schlug er an den Hängeschrank und zog das erstbeste Hemd heraus, das er fand. Mit dem Hemd unterm Arm ging er durch den Garten, machte leise die Hintertür auf und schlich dann auf Zehenspitzen zum Badezimmer.

Sein Kollege hatte auf ihn gewartet und hielt ihm die Wagentür auf.

„Mein Wagen soll morgen fertig sein.“

„Und übermorgen verreckt er dir wieder.“

„Ja, wahrscheinlich“, knurrte er. Er sollte sich wirklich dringend um einen neuen Wagen kümmern. Er stieg ein und verfluchte schon jetzt den Tag.

Grätsch plauderte von seinem Sohn Tobias, der frischgebackener Kriminalhauptkommissar bei der Kripo Hamburg war. „Wir hatten schon befürchtet, dass er das Handtuch wirft. Er hat früher in der Schule immer so geschludert.“

Schuster hörte kaum hin, außerdem kannte er Tobias’ Werdegang bereits.

Grätsch erzählte die Geschichte gern und oft. „Ich bin wirklich stolz auf den Jungen.“

„Das verstehe ich, Gunnar“, murmelte er, „hätte ich einen Sohn, wäre ich stolz, wenn er auch Bulle werden wollte.“ Er stutzte. Ach ja? Wäre er nicht vielmehr erleichtert, wenn sein Sohn – so er denn einen gehabt hätte – etwas ganz anderes machen wollte? Er selbst hatte schon als kleiner Junge Polizist werden wollen, und er wusste, dass seine Eltern alles andere als begeistert gewesen waren.

„Toby ist ein feiner Kerl“, erklärte er schnell. „Klar bist du stolz auf ihn.“

Sein Kollege strahlte und wurde dann ernst. „Der Zug ist noch nicht abgefahren, Heiner. Wer sagt denn, dass du nicht doch noch Vater werden wirst? Eines Tages.“

„Ich bin über vierzig, Gunnar.“

„Na und?“

Er seufzte verhalten. Sie sollten das Thema lassen, es würde ja doch nichts bringen. Seine Ehe war am Ende, er selbst irgendwie auch ein bisschen, und es war besser, sich mit dem anzufreunden, was war und nicht irgendeiner Seifenblase, einem Traum nachzurennen. „Kannst du mich am Gymnasium absetzen?“

Er wollte Heidi Stolzes Kollegen auf den Zahn fühlen.

Es war kurz nach acht, der Unterricht hatte gerade begonnen.

Er klopfte an der Tür zum Lehrerzimmer an und öffnete sie nach einem lauten „Herein“.

Nur drei Lehrer waren anwesend, einer machte sich Notizen, ein anderer blätterte in einem Buch, und eine junge Frau saß am Tisch und klappte ihre Tasche zu. Alle drei hatten aufgeblickt und ihn fragend angesehen.

„Hauptkommissar Schuster von der Kripo Bremen. Es geht um den Mord an Ihrer Kollegin Heidi Stolze.“

Die Frau wurde blass. „Was können wir für Sie tun?“

Er fühlte sich unbehaglich. Seine Schulzeit hatte er nicht in allzu guter Erinnerung.

„Ich bräuchte zuerst mal Ihre Namen.“ Er zog sein Notizbuch aus der Tasche.

Einer der Männer machte den Anfang. „Frank Albers. Sport und Geschichte. Und das ist mein Kollege Justus Brümmer. Deutsch und Geographie.“

„Und Sie sind?“ Er sah die junge Frau an.

„Susanne McMillan. Ich unterrichte Englisch.“

„Sie sind Engländerin?“ „Mein Mann ist Schotte.“

Er mochte Schottland, hatte schon zweimal dort Urlaub gemacht und schenkte ihr ein breites Lächeln. „Wie gut kannten Sie Frau Stolze?“

„Wie man sich eben unter Kollegen kennt.“

Was sollte er jetzt von dieser Antwort halten? Andererseits, was hatte er erwartet? Er sollte seine Frage anders formulieren.

„Schön, ich stelle meine Frage anders. Kamen Sie gut mit Frau Stolze aus? Was war sie für ein Mensch?“

Die junge Lehrerin wirkte eingeschüchtert. Wahrscheinlich hatte sie noch nie mit der Polizei zu tun gehabt. „Glauben Sie, dass jemand von uns …?“

„Ich glaube gar nichts. Ich versuche nur, mir ein möglichst genaues Bild von Ihrer Kollegin zu machen.“

Sie nickte. „Ich verstehe.“

„War jemand aus dem Kollegium mit ihr befreundet?“

Die drei sahen sich an. Brümmer zuckte kurz mit den Schultern. „Keine Ahnung. Nein, ich glaube nicht.“

„Die meisten von uns halten Privates und Berufliches strikt auseinander. Ich schätze meine Kollegen – beruflich“, meinte sein Kollege.

„Gibt es jemanden, der Ärger mit ihr hatte? Ein Schüler vielleicht, eine Schülerin?“

„Und Sie meinen, der oder die läuft ihr nach und bringt sie um?“ Brümmer nahm seine Brille ab, um sie an seinem Hemd zu putzen.

„Ich sagte doch, ich glaube nichts, ich meine nichts, ich versuche nur, mir ein Bild zu machen.“

Brümmer warf seinem Kollegen einen Blick zu, den Schuster nicht deuten konnte. War es Belustigung? Spott?

„Man munkelt, dass ihr Mann mit …“, begann Albers und wurde gleich von seiner Kollegin unterbrochen.

„Das sind doch nur Gerüchte, Frank“, sagte sie leise.

„Genau, bloß Getratsche.“ Brümmer nickte.

„Verraten Sie mir trotzdem, mit wem ihr Mann …?“

„Er und Frau Wahlheim sind gut befreundet“, sagte Susanne McMillan. „Ich habe befreundet gesagt“, erklärte sie mit Nachdruck.

„Und ich hab mir befreundet notiert“, sagte Schuster. „Was unterrichtet Frau Wahlheim?“

„Kunst und Geschichte.“

„Kunstgeschichte sozusagen.“ Albers schien das lustig zu finden.

„Heidi war beliebt, sehr beliebt. Jeder mochte sie“, sagte die junge Frau. „Ich müsste jetzt wirklich in meine Klasse.“

Er nickte. „Natürlich. Vielen Dank.“

„Stimmt, alle mochten sie“, meinte auch Brümmer. „Ich hab nie mitgekriegt, dass sie Streit mit jemandem hatte. Auch die Schüler mochten sie.“ Er ging zur Tür. „Ein Jammer ist das.“

Der Hausmeister der Schule war gerade damit beschäftigt, ein Heizungsventil zu entlüften.

Als Schuster den Mann im grauen Kittel sah, schoss ihm durch den Kopf, dass er ihn ein paar Dinge fragen könnte. Bestimmt bekam ein Hausmeister eine Menge mit.

„Tag, Hauptkommissar Schuster von der Kripo Bremen.“ Er hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase. „Es geht um Heidi Stolze.“

„Ohlendorf, Gerd Ohlendorf.“ Der Mann steckte den Entlüftungsschlüssel in seine graue Kitteltasche. „Was gibt’s denn?“

„Sie kannten Heidi Stolze?“

„Sicher. Ich kenne alle Lehrer.“

Er betrachtete den Mann genauer. Ohlendorf war deutlich kleiner als er, vielleicht um die eins siebzig, leicht untersetzt mit ausgeprägter Stirnglatze. Er trug eine Brille mit Gläsern dick wie Aschenbecher.

„Hatten Sie viel miteinander zu tun?“

Darüber musste der Mann offenbar nachdenken, und das dauerte eine Weile. Schuster wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen.

Endlich hatte Ohlendorf eine Antwort gefunden. „Nicht sehr oft, würde ich sagen. Sie war … freundlich. Sehr nett würde ich sagen. Ja, sie war nett.“

„Haben Sie mal mitbekommen, dass sie Ärger mit jemandem hatte?“

Ohlendorf blickte ihn verständnislos an. „Wie, Ärger?“ „Mit Schülern vielleicht?“

Ein Schüler, der in der Nähe stand, rief herüber: „Unsere Heizung leckt immer noch!“

Ohlendorf nickte ihm zu. „Gleich, gleich. Ich kümmere mich drum. Aber erst muss ich hier ein paar wichtige Fragen beantworten.“

„Hatte Frau Stolze Probleme mit einem Schüler? Haben Sie vielleicht irgendwann mal so etwas mitbekommen?“ Mit denen da drüben vielleicht, fügte er im Stillen hinzu.

„Nicht dass ich wüsste.“

„Sie selbst haben also wenig mit ihr gesprochen?“

Ohlendorf errötete. „Ja, eher selten. Gab ja kaum eine Gelegenheit.“ Er betrachtete seine Füße. „Eine bildschöne Frau. Und so klug. Und ein so feines Gespür für die jungen Menschen.“ Er machte eine Pause. „Ihr Mann hat …“ Er verstummte wieder.

„Was hat ihr Mann?“

„Ach, nichts.“

„Was wollten Sie damit andeuten? Was wollten Sie über Frau Stolzes Mann sagen?“

Ohlendorf wurde blass. „Ich, ähm, wollte sagen, dass sie … sie passte gar nicht zu ihm.“

„Wie, sie passte nicht zu ihm?“

„Sie war so lebhaft, so fröhlich, und er …“ Ohlendorf schüttelte den Kopf. „Und jetzt ist sie tot. Ein Jammer.“

Schuster und das Chaos im Kopf

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