Читать книгу Schuster und das Chaos im Kopf - Susanne Lieder - Страница 6

2.

Оглавление

Stadtteil Horn-Lehe

Grätsch hatte mit dem Doc telefoniert und erfahren, dass Heidi Stolze mit zwei Messerstichen direkt ins Herz getötet worden war. Drei weitere Stiche hatte man auf ihrem rechten Oberarm gefunden, offenbar hatte sie versucht, die Stiche abzuwehren.

Er hatte spät Feierabend gemacht und war gerade dabei, etwas aus der Garage zu holen, als er Schusters alten Peugeot röhren hörte. Neuerdings stotterte der Motor, und es gab manchmal Fehlzündungen, wenn sein Kollege den Motor abstellte. Auch jetzt knallte es einmal kurz, wenig später hörte er eine Tür zuschlagen und eilige Schritte auf dem Kies.

Bestimmt würde sich sein Kollege still und leise, wie das so seine Art war, in seinen Wohnwagen zurückziehen, einen Sechserpack Bier unterm Arm.

Grätsch stieß die Garagentür auf. „In einer halben Stunde gibt’s Abendessen! Sei pünktlich.“ Er zog die Tür wieder zu.

Wenig später klopfte es, und Schuster kam herein. „Ich kann wirklich im Wohnwagen …“

„Klar kannst du das. Du kannst die Einladung aber auch annehmen. Geli hat gekocht, und wenn du absagst, wird sie ganz schön wütend auf dich sein.“

„Oha, das kann ich natürlich nicht zulassen.“

„Braver Junge.“

Sie grinsten sich an.

„Darf ich dich dann auf ein Bier in meinem gemütlichen Übergangsheim einladen?“, fragte Schuster.

„Da sag ich ungern nein, Heiner.“

„Dann sag doch einfach Ja.“

Schuster war vorangegangen und hielt ihm die Tür auf. „Kopf einziehen.“

„Du wirst dich bestimmt noch einleben.“

„Warum sollte ich? Hab nicht vor, hier ewig zu wohnen.“ Er hatte keine Lust, über sich zu reden. Viel lieber würde er sich einen antrinken, damit er nicht mehr nachdenken musste. Es war stickig und viel zu eng im Wohnwagen, dauernd stieß er sich den Kopf oder die Ellbogen. Mit seinen eins einundneunzig war er einfach zu groß für dieses Ding.

„Hast du deinen ganzen Kram inzwischen abgeholt?“, wollte sein Kollege wissen.

Er schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich hat sich ihr Neuer schon bei ihr eingenistet.“

„Vielleicht solltest du ’nen glatten Schnitt machen“, schlug sein Kollege vor.

„Ich wohne hier, reicht das nicht?“

„Wie war’s eigentlich bei Stolze?“

„Seine Frau hat gern mit Geschirr nach ihm geworfen.“

„Was? Glaubst du, er ist hinter ihr her und hat sie dann …?“

„Nein, eigentlich glaub ich das nicht.“

Grätsch nickte vor sich hin und machte „Hmm“.

Schuster hatte sich bisher auf seine Menschenkenntnis verlassen können. Vor einigen Jahren hatten sie es mit einer älteren Dame zu tun gehabt, die Stein und Bein geschworen hatte, nichts mit dem tödlichen Unfall ihres Lebensgefährten zu tun zu haben. Er war die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich dabei den Hals gebrochen. Während Grätsch nicht eine Sekunde an ihrer Unschuld gezweifelt hatte, war Schuster misstrauisch gewesen und hatte nicht locker gelassen. Er hatte ihr so lange auf den Zahn gefühlt, bis sie endlich mit der Wahrheit rausgerückt war: Sie hatte ihren Freund als Heiratsschwindler entlarvt und die Treppe hinuntergestoßen.

„Meistens haben wir es doch mit Beziehungstaten zu tun.“ Grätsch ging zur Tür, wobei der Wohnwagen schwankte. „Mann, hier wird man ja seekrank.“

Schuster lag auf dem Bett, die Augen geschlossen.

„Wenn wir doch bloß irgendwelche Spuren hätten. Wir sollten noch mal die gesamte Gegend absuchen lassen, was meinst du? Vielleicht findet sich ihr zweiter Schuh ja doch noch irgendwo“, meinte Grätsch. „Wollen wir?“

„Jetzt noch?“

„Abendessen, meinte ich.“

Am nächsten Tag durchkämmte eine Suchmannschaft erneut den Bürgerpark. Es regnete noch immer, und sie kamen nur schleppend voran.

Schuster und sein junger Kollege Kuhn gesellten sich dazu.

Natürlich hatte auch die Presse Wind davon bekommen, und als Schuster die Reporterin mit ihrem Fotografen ganz in der Nähe entdeckte, legte er die Hand auf Kuhns Schulter. „Kommen Sie, Kuhn, bringen wir’s hinter uns.“ Mit großen Schritten ging er auf die Reporterin zu.

„Guten Morgen, Herr Hauptkommissar.“ Sie hatte ihr Mikro bereits in Position gebracht. „Darf man fragen, was die Polizei hier gerade macht? Glauben Sie, dass der Mörder noch mal zuschlagen wird?“

„Wie kommen Sie dann darauf? Wie ist Ihr Name doch gleich?“

„Deisterkamp, Sabine Deisterkamp.“

„Lassen Sie uns unsere Arbeit machen, ja? Wenn wir etwas Konkretes haben, sind Sie die Erste, die ich das wissen lasse.“

Der Fotograf ging geduckt um ihn herum, wobei sein Schuh im schlammigen Boden versank. Er musste stehen bleiben, um ihn zu befreien.

Schuster grinste amüsiert. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Frau Deistermann …“

„Deisterkamp.“

„Oder so. Schreiben Sie nichts von dem, was Sie sich da zusammenreimen. Sie würden die Bremer Bevölkerung nur aufwiegeln. Und das wollen Sie doch nicht, oder?“ Er lächelte sein nettestes Lächeln. „Ich kann auch sehr lieb zur Presse sein.“

„Ach ja?“

Der Fotograf hatte seinen Schuh endlich befreit und machte weiter, seine Runde um Schuster zu drehen.

„Wir suchen nach dem zweiten Schuh der toten Frau.“ Schuster zeigte hinter sich. „Ich könnte Sie ein bisschen über die Schulter des Suchtrupps sehen lassen …“

Die Reporterin war nicht abgeneigt, das sah man deutlich. „Sie kooperieren mit uns, wenn wir das schreiben, was Sie wollen?“

„Na na, so würde ich das nicht nennen, Frau Deiselkamp.“

„Deisterkamp.“

„Ach ja. Ich bitte Sie nur darum, sich nichts aus den Fingern zu saugen. Möchten Sie den Suchtrupp begleiten?“

Sie schien hin- und hergerissen. „Na schön.“ Sie gab ihrem Fotografen einen Wink. „Los, Guido, mach schon. Der Herr Kommissar lässt uns nah ran.“

Schuster fuhr zurück ins Büro, schrieb seinen Bericht, machte sich danach auf den Heimweg und freute sich auf eine heiße Dusche.

Er ging früh schlafen, stellte sich sein Glas Wasser ans Bett, etwas, das seit seiner Kindheit zu einem festen Ritual geworden war, und verschränkte die Hände im Nacken. Er brauchte das Gefühl, das Wasser neben seinem Bett zu wissen. Morgen für Morgen nahm er das Glas und goss den Inhalt aus, um es dann am Abend erneut zu füllen.

Er wälzte sich fast zwei Stunden herum, bis er endlich in einen unruhigen Schlaf fand, begleitet von seltsamen Träumen. Um halb sechs stand er stöhnend auf, sein Rücken schmerzte grauenhaft. Gebückt ging er zum Wandschrank, in dem seine Klamotten zerknüllt herumlagen, und zog ein dunkelblaues Hemd heraus.

Andersfarbige Hemden würden ihm Unglück bringen, davon war er felsenfest überzeugt. In einem grauen Pulli könnte er beim Überqueren einer Straße von einem Lkw erfasst werden.

Als er fertig angezogen war, stieg er in seinen alten Peugeot und machte sich auf den Weg zu seiner Frau, besser gesagt, seiner Nochfrau. Er hatte ihr versprochen, seine restlichen Sachen abzuholen.

Bei dem Gedanken, das Haus zu betreten, das er so geliebt und mit Hingabe renoviert hatte, wurde ihm ganz elend. Wahrscheinlich hatte Silke recht, und er war ein durchgeknallter Kerl, der so viele Macken und Neurosen hatte, dass man sie kaum aufzählen konnte.

Bereits in der späten Jugend hatte es angefangen, dass er etwas seltsam wurde. Er hatte einen Kontrollzwang entwickelt, musste sich manchmal zehnmal hintereinander vergewissern, dass er sein Radio ausgestellt hatte. Immer wieder hatte er es berühren müssen, begleitet von einem leisen Zählen. Erst bei dreißig hatte er sein Zimmer verlassen können.

Später hatte er auf Wunsch seiner Eltern mit einem Psychologen darüber gesprochen, der glaubte, es könnte an seiner übervorsichtigen, ängstlichen Mutter liegen, die in ständiger Sorge um ihren einzigen Sohn war. Danach war Schuster nicht mehr hingegangen. Das Stochern in seiner Seele machte ihm Angst, und die Ursachenforschung war ihm ziemlich egal. Was sollte das auch bringen?

Silke hatte irgendwann genug von seinen Marotten gehabt. Deine Neurosen sind nicht auszuhalten. Ich ertrage deine Hypochondrie und deine Unfähigkeit zur Spontaneität nicht mehr. Sogar die Dinge, die sie früher an ihm geliebt hatte, hatte sie nun auf ihrer Negativ-Liste.

Und er hatte dagestanden wie ein gescholtenes Schulkind und die Welt nicht mehr verstanden.

Ja, vielleicht war er ein Hypochonder, auch wenn er das Wort furchtbar fand. Er hatte einfach Angst vor Krankheiten, deswegen warf er ständig Vitamine ein. Und ja, vielleicht übertrieb er hin und wieder mit seinem ständigen Händewaschen. Richtig schlimm geworden war es vor ein paar Jahren. Er hatte nicht gewusst, dass es Silke so gestört hatte.

Als er jetzt in die vertraute Straße einbog, drohte ihn das beklemmende Gefühl in seiner Brust zu übermannen. Hier hatte er acht Jahre lang mit Silke gewohnt. Acht schöne Jahre. Aus seiner Sicht.

Er fuhr auf den Hof und griff sich kurz an die Stirn, so als wolle er sich vergewissern, dass seine Mütze da war, wo sie hingehörte. Beim Aussteigen stolperte er über seine eigenen Füße, seine Beine waren wie aus Blei, schwerfällig und steif. Er kramte nach seinem Hausschlüssel.

Das hätte er sich sparen können, er passte nämlich nicht ins Schloss. Also drückte er auf den Klingelknopf.

Kurz darauf stand Silke in der Tür. Sie sah toll aus, hatte ihr langes braunes Haar hochgesteckt, und sie trug Lippenstift in einer ungewöhnlichen Farbe, was ihm sofort auffiel. Seit wann benutzte sie Lippenstift?

Mühsam schluckte er gegen den Kloß in seinem Hals an. „Hallo, Silke. Ich, ähm, mein Schlüssel klemmt.“

Sie verzog keine Miene. „Er klemmt nicht, Heiner. Ich hab das Schloss auswechseln lassen.“

„Was? Warum tust du so was?“

Sie schnappte nach Luft. „Du stellst vielleicht Fragen. Ich will nicht, dass du hier einfach so reinplatzt. Also hab ich das Schloss auswechseln lassen.“ Sie trat zur Seite und ließ ihn vorbei. „Deine Sachen stehen oben.“

Mit hängenden Schultern lief er die Treppe hoch. Seine Reisetasche stand oben im Flur, daneben drei Kisten Bücher und CDs und zwei weitere Kartons mit Klamotten.

„Das müsste alles sein.“ Silke war ihm gefolgt.

Er drehte sich zu ihr um. „Das war’s dann also? Du lachst dir einen anderen Kerl an, packst meine Sachen, wechselst das Schloss aus und aus die Maus?“

Sie sagte kein Wort, sah ihn nicht mal an.

Das sollte die Frau sein, mit der er zwölf Jahre verheiratet war? Die, die noch vor zwei Jahren mit ihm nach Kanada hatte auswandern wollen?

„Was ist mit uns passiert, Silke?“ Er versuchte, ihren Blick einzufangen, aber sie schaute an ihm vorbei. „Was hab ich getan?“

„Wo soll ich anfangen, Heiner?“

Okay, es reichte. Er schnappte sich seine Reisetasche, warf sie sich über die Schulter, griff nach der Bücherkiste und stolperte die Treppe hinunter. Er schmiss alles in den Kofferraum, dann holte er den Rest.

Die ganze Zeit stand sie mit stoischem Gesichtsausdruck unten an der Treppe. Er hatte Lust, sie übel zu beschimpfen oder anzuschreien, einfach, weil er sich für den Moment besser gefühlt hätte. Aber hinterher hätte er es garantiert bereut. Also ignorierte er sie und den Druck in seinem Magen, und er ignorierte, dass er sich eine neue Beule holte, weil er sich den Kopf beim hastigen Einsteigen anstieß.

Er ließ den Motor an, der sofort ansprang, als könne selbst sein Auto nicht schnell genug von hier wegkommen. Beinahe verursachte er einen Auffahrunfall, weil er immer wieder gegen ein paar ausgesprochen hartnäckige Tränen anblinzeln musste. Er war niedergeschlagen, enttäuscht und wütend.

Er stellte das Radio an, und bei einem Lied von Joe Cocker sang er laut mit, um das Gefühl in seiner Kehle loszuwerden. Dann fuhr er zur Schlachte hinunter, parkte den Wagen im Halteverbot und ging in die nächste Kneipe.

Schuster und das Chaos im Kopf

Подняться наверх