Читать книгу Schuster und das Chaos im Kopf - Susanne Lieder - Страница 9

5.

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Er hatte sich angeboten, Grätschs Enkelsohn Lukas zur Sprachtherapie zu bringen. Es lag fast auf seinem Weg, außerdem mochte er den aufgeweckten Jungen. Er hatte sich immer einen Sohn wie ihn gewünscht.

Er hielt Lukas die Autotür auf, stieg ein und drehte den Zündschlüssel. Der Motor hustete und spuckte.

„Komm schon, alter Junge.“

„Vielleicht brauchst du ein neues Auto.“

Er zwinkerte Lukas zu. „Stimmt, aber ich hänge an dem alten Knaben.“

„Es gibt echt coole Autos“, meinte Lukas, und er musste lachen.

Er probierte es erneut. Erfolglos.

„Ich kann auch die Bahn nehmen.“ Der Junge hatte die Hand bereits am Türgriff.

„Kommt nicht infrage.“ Er drehte erneut den Zündschlüssel, und der Motor sprang an. „Na bitte, geht doch.“

„Wir haben das Spiel gestern gewonnen. Fünf zu eins“, erzählte Lukas.

Schuster schmunzelte. „Ein haushoher Sieg. Bist du noch immer Linksaußen?“ „Na klar.“

Der Morgenverkehr war zäh, und er fluchte leise. „Ich hab keine Ahnung, wo die Praxis ist. Sei so nett und lotse mich, ja?“

Lukas zeigte nach rechts. „Da vorne. Gleich das erste Haus auf der linken Seite.“

Es gab einen freien Parkplatz direkt vor dem Haus. Heute war wirklich ein guter Tag.

Lukas drückte auf den Klingelknopf rechts neben der Tür. „Wieso hast du eigentlich keine Kinder?“

Er schluckte. „Das, ähm, hat sich irgendwie nie ergeben.“ Diese Frage versetzte ihm wie immer einen heißen Stich.

Der Türsummer dröhnte, und Lukas schob die Tür auf.

„Soll ich dich noch hochbringen?“, fragte Schuster.

„Musst du nicht.“

Oben in der Tür stand eine hübsche Frau, eine Brille in der Hand. „Hallo, Lukas. Pünktlich wie immer.“

Lukas war bereits die Treppe hochgelaufen, und Schuster folgte ihm. „Ich glaube, ich bringe dich doch besser …“ Er hatte einen verstohlenen Blick auf die attraktive Frau geworfen. War das Lukas’ Logopädin? Donnerwetter!

Als sie ihm ein strahlendes Lächeln schenkte, schlug sein Herz eine verblüffende Kapriole. Lass das!

Ziemlich durcheinander fuhr er ins Büro.

Polizeipräsidium

Es gab kaum Zeugen, die etwas gesehen, gehört oder sonst wie bemerkt hatten.

Heidi Stolze war gegen 20 Uhr aus dem Haus gelaufen, hatte den Weg zum Bürgerpark eingeschlagen und war offenbar irgendwo dort ihrem Mörder begegnet. Ob der ihr nun aufgelauert oder sie verfolgt hatte, war bislang unklar.

Schuster fand es seltsam, dass niemand die Joggerin gesehen hatte. Gut, es hatte fürchterlich geschüttet an dem Abend, und bei so einem Wetter trieb es nur die ganz hartgesottenen Sportler ins Freie. Er selbst lief auch bei schlechtem Wetter, mitunter sogar ausgesprochen gern.

Der Mann, der glaubte, einen dunklen Wagen gesehen zu haben, räumte schließlich kleinlaut ein, dass er an besagtem Abend ein starkes Schmerzmittel eingenommen und unvernünftigerweise mit einem Bier nachgespült hatte. Danach sei er vor dem Fernseher eingenickt. Da habe ein dunkler Wagen gestanden, ja, das könne aber auch am Tag davor gewesen sein. Inzwischen sei er sich da nicht mehr so sicher.

Schuster verbuchte es als klassische Zeugenaussage. Ihn würde in dieser Hinsicht nichts mehr erschüttern. Es gab Zeugen, die schworen auf die Bibel und gaben hinterher zerknirscht zu, dass sie sich einfach getäuscht hatten. Wenn er sich deswegen ständig die Haare raufen würde, hätte er bald noch weniger als ohnehin schon.

Kuhn kam und setzte sich auf die Ecke seines Schreibtischs. „Vielleicht sollten wir einen Profiler hinzuziehen.“

„Einen Profiler?“

„Finden Sie es nicht seltsam, dass ein Schuh des Opfers fehlt? Sie hat ihn vielleicht verloren, als sie gestürzt ist. Aber dann hätten wir ihn doch gefunden. Also hat der Täter ihn vielleicht mitgenommen. Was auf einen Fetisch hinweisen könnte.“

Er musterte seinen jungen Kollegen. „Ach, Kuhn.“ Er seufzte und verkniff sich ein „Was wissen Sie schon?“

„Warten Sie, ich weiß, was Sie sagen wollen: Es könnte Zufall sein. Sie könnte ihn verloren haben, und ein Hund hat ihn mitgenommen oder sonst was.“ Kuhn rieb sich die Nase. „Aber auch dann hätten wir ihn doch finden müssen.“

Schuster lehnte sich auf seinem quietschenden Stuhl zurück und versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken. „Und Sie meinen, allein, dass der Schuh fehlt, beweist, dass der Täter einen Fetisch hat oder so was?“

„Warum sonst sollte er den Schuh mitgenommen haben?“

„Vielleicht sehen Sie einfach zu viele amerikanische Serien. Ich hab neulich eine gesehen mit einem rothaarigen Ermittler, der ständig ’ne Sonnenbrille trägt. Es kommt oft vor, dass Kleidungsstücke oder irgendwas anderes der Opfer verschwinden. Die meisten Sachen tauchen wieder auf. Viele Täter nehmen die Dinge mit und schmeißen sie irgendwohin, manche werfen sie direkt in den nächsten Mülleimer. Andere nehmen sie mit nach Hause. Wer steckt schon im Kopf eines Irren?“

„Das ist doch genau das, was ich meine. Niemand ahnt, was in einem Täter vorgeht, aber wenn man das näher untersuchen lassen würde …“

„Na, dann gehen Sie mal zu unserem Herrn Staatsanwalt und erzählen Sie dem von Ihren Flausen.“

„Sie wissen, dass ich das nicht tun kann.“

Schuster lachte. „Warum denn nicht, Kuhn? Staatsanwalt Südmersen mag Mitarbeiter, die sich Gedanken machen.“

Jetzt schaltete sich Grätsch ein. „Lass gut sein, Heiner.“ Zu Kuhn gewandt sagte er: „Ihr Eifer in allen Ehren, Kuhn, aber denken Sie doch mal nach: Bei einem Mordfall einen Profiler hinzuzuziehen …“

„Heißen die bei uns nicht anders?“, überlegte Schuster.

„Fallanalytiker“, erklärte Kuhn.

Grätsch seufzte. „Wir haben einen Mordfall, Kuhn. Eine Leiche, verstehen Sie? Wie würde das aussehen, wenn man bei jedem Mordfall einen Fallanalytiker holen würde? So viele haben wir in Deutschland gar nicht.“ Er schenkte seinem jungen Kollegen ein väterliches Lächeln. „Das hat man Ihnen doch auf der Fachhochschule beigebracht, oder etwa nicht?“

„Die Kripo Bremen ist nicht CSI: New York.“ Das hatte Schuster sich nicht verkneifen können.

Kuhn verdrückte sich mit roten Ohren in sein kleines Büro, das gleich neben ihrem lag und eigentlich mehr eine Abstellkammer mit Schreibtisch war.

Schuster blickte ihm kopfschüttelnd nach. „Spinner.“

„Lassen wir ihm eine Weile seine Leidenschaft und seinen Optimismus“, meinte Grätsch.

„Seine Naivität meinst du wohl.“

„Und wenn schon. Früher oder später kommt er ganz von allein dahinter, dass hier nicht alles so abläuft wie in seinen Lehrbüchern.“

„Oder wie im Fernsehen.“

Die folgenden Tage waren sie damit beschäftigt, sämtlichen Hinweisen nachzugehen, die sich bislang noch immer in Grenzen hielten. Doch natürlich wollte man nichts unversucht lassen. Alle vorbestraften Täter, die irgendwie infrage kamen, wurden unter die Lupe genommen, und da nicht jeder ein Alibi vorweisen konnte, dauerten diese Untersuchungen einige Zeit. Sie gingen auch der Zeugenaussage eines Mannes nach, der meinte, am fraglichen Abend einen Mann in einem Kombi beobachtet zu haben, der hektisch und nervös etwas in sein Auto geladen hatte.

Schuster hatte vor Aufregung seinen Stift zerbissen, als er mit dem Mann telefonierte. „Ein dunkler Kombi?“

„Weiß nicht so genau. Ja, könnte sein.“

„Wo haben Sie ihn gesehen?“

„Den Mann oder den Kombi?“

„Beides.“

„Am Bürgerpark, nah bei der Stelle, wo Sie die Frau gefunden haben.“

Er sprang auf, wobei er seine Kaffeetasse herunterwarf. Mit der Fußspitze schob er die Scherben zusammen und beförderte sie unter seinen Schreibtisch. „Wann genau war das?“

„Hab ich doch gesagt: An dem Abend, als die Frau …“

Er ging halb um seinen Schreibtisch, wobei sich das Telefonkabel mit dem der Tastatur verhedderte. „Die Uhrzeit.“

„Ich glaub, es war so gegen acht.“

Sein Herz hämmerte. Heidi Stolze war gegen acht losgelaufen, hatte ihr Mann gesagt. Die Uhrzeit könnte also tatsächlich stimmen. Ein dunkler Kombi, der am Bürgerpark steht, Heidi Stolze joggt vorbei …

Auch würde sich die Aussage mit der des anderen Zeugen decken, der ebenfalls einen dunklen Kombi gesehen haben wollte. Auch wenn er sich hinterher nicht mehr sicher gewesen war.

„Ich bin gleich bei Ihnen.“

Stadtteil Schwachhausen

Es regnete Bindfäden, und als er aus dem Auto sprang, rutschte er aus und konnte sich gerade noch am linken Außenspiegel festhalten.

Jan Holte, der Mann, der ihn angerufen hatte, erwartete ihn bereits in der Tür. „Das ging aber schnell.“

„Zeigen Sie mir, wo Sie den Kombi gesehen haben.“ Er ging voraus, überquerte die Parkallee, und Holte folgte ihm.

Auf dem Parkstreifen, der sich am Bürgerpark entlang zog, blieb Holte stehen. „Hier hat er gestanden.“

„Genau hier?“ Nur wenige Meter entfernt hatte Heidi Stolze gelegen. „Sind Sie sicher?“

„Klar bin ich sicher. Hab’s von meinem Fenster aus gesehen.“ Holte drehte sich um und zeigte auf ein Haus auf der anderen Straßenseite. „Da oben rechts, das ist mein Wohnzimmerfenster.“

Schuster nickte. „Ich sehe mir das gleich mal von Ihrer Wohnung aus an.“

Holte zog sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf, und Schuster nestelte an seiner klammen Mütze. Die beiden gingen zurück zum Eingang von Holtes Haus.

In diesem Moment kam aus einem der Nachbarhäuser ein Mann mit einem Babyautositz in der Hand, darin ein Kind, das wie am Spieß schrie. Der Mann ging zu einem Passat Kombi, der in der Einfahrt stand.

Schuster zeigte auf den Wagen. „War es so ein Wagen?“

„Schon möglich.“

„Kennen Sie den Mann?“

Der war gerade damit beschäftigt, die Babyschale auf dem Rücksitz zu befestigen. Noch immer schrie das Baby aus vollem Hals. Zwischendrin zitterte die Stimme, vermutlich hatte es sich bereits heiser geschrien.

„Mann, was für ein Schreihals“, murmelte Holte.

„Kennen Sie den Mann?“, fragte Schuster erneut.

„Der wohnt hier noch nicht so lange. Hab ihn erst zwei- oder dreimal gesehen.“

Schuster ging zu dem Mann, der gerade in seinen Wagen steigen wollte, und klopfte an die Fahrertür.

Das Fenster fuhr herunter. „Ja?“

„Hauptkommissar Schuster, Kripo Bremen. Steigen Sie bitte kurz aus. Ich würde Sie gern was fragen.“ Er zeigte ihm seine Dienstmarke. „Wie ist Ihr Name?“

Der junge Mann war ausgestiegen. „Ahlers, Stefan Ahlers. Was ist denn passiert?“ Er drehte sich zu seinem schreienden Kind um und steckte ihm einen Schnuller in den Mund.

„Was hat es denn?“, fragte Schuster.

„Dreimonatskoliken.“

„Dann wollen Sie sicher zum Arzt. Es dauert auch nicht lange.“

Ahlers lächelte flüchtig. „Ich drehe jeden Abend ’ne Runde im Auto mit ihm. Nach einem Kilometer ist er eingeschlafen, jedes Mal.“

„Verstehe.“

„Meine Frau hat den kleinen Schreihals den ganzen Tag. Sie legt sich abends hin, und ich fahre mit ihm durch die Gegend.“

„Auch vor drei Wochen?“

„Ich fahre jeden Abend mit ihm los, seit er geboren wurde.“

„Es geht um den Mord an der Joggerin“, erklärte Schuster. „Wir haben einen Hinweis bekommen.“ Er zeigte auf die andere Straßenseite. „Parken Sie manchmal auch da drüben?“

„Wenn meine Frau ihr Auto hier in der Einfahrt geparkt hat, muss ich das, ja.“

Holte kam und stellte sich neben sie. „Ähm, vielleicht hab ich da was verwechselt.“

Das Baby machte eine Schreipause, holte tief Luft und legte wieder los.

„Kümmern Sie sich um Ihren Sohn“, sagte Schuster zu Ahlers.

Als der mit dem brüllenden Baby davongefahren war, meinte Holte kleinlaut: „Ich glaube, ich hab auch ein Kind schreien hören. Sorry, ist mir eben erst wieder eingefallen.“

Schuster schob sein Notizbuch, das völlig durchnässt war, resigniert in die Jackentasche zurück und fuhr mit einem heftigen Fiepen im Ohr in sein vorübergehendes Domizil.

Schuster und das Chaos im Kopf

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