Читать книгу Meine Reise durch das Trauerland - Susanne Ospelkaus - Страница 10
Was für ein Zirkus
ОглавлениеAls ich mich im Krankenhaus zur Biopsie melde, schickt man mich auf Station 15. Mit dem Rucksack erklimme ich die Stufen und starre mit Entsetzen auf die aufgeklebten Buchstaben der Milchglasscheibe. Ich habe mit der Inneren Medizin gerechnet, aber die Buchstaben weisen mich in die Onkologie. Die Ärzte rechnen mit Krebs, also doch! Von wegen, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie verpacken meine Diagnose in der blumigen Bezeichnung Gewächs. Ich bin so naiv. Vielleicht sollte ich es wie die anderen Patienten tun, das Schlimmste erwarten, um nicht enttäuscht zu werden. Doch wenn man an Jesus Christus glaubt, dann ist es umgekehrt. Man hofft das Beste trotz schlechter Nachrichten. Man vertraut inmitten der Schwierigkeiten. Wenn mich mein Glaube nicht in der Krise trägt, wann dann?
Ich atme tief durch und öffne die Tür. Die Buchstaben an der Milchglasscheibe kehren sich in ihr Spiegelbild. Eigolokno, lese ich und muss schmunzeln. Ferdinand hat momentan einen riesigen Spaß daran, sich Wörter rückwärts aufsagen zu lassen.
„Was heißt Ferdi?“, fragte er.
Und wir antworteten: „Idref.“
„Und Oma?“
„Amo.“
„Und Mama?“
„Amam.“
Er kringelte sich vor Lachen, und nun muss ich auch grinsen. Ei-go-lok-no. Ich gebe der Tür einen Schubs und gehe über den Gang. Ich will beides: Vertrauen und Wissen. Ich will wissen, wie das Gewächs in meinem Inneren heißt, und komme mir dabei wie die Königin aus Rumpelstilzchen vor. Sie musste den Namen des Gnoms nennen, um ihn zu entmachten und ihr Baby zu behalten. Ich muss den Namen der Krankheit kennen, um sie zu entmachten und das Leben behalten zu können. Gott, hilf mir!
Ich ziehe in ein Dreibettzimmer. Zwei ältere Damen stampfen wie alte Elefantenkühe in bunten Bademänteln die Trostlosigkeit in den Boden. Sie posaunen ihre Heilungschancen hinaus und geben sich dickhäutig. Schwerfällig umrunden sie mein Bett und sehen mich mit trüben Augen an. Ich weine im Schutz der kleinen Herde.
Man schiebt mich für die Biopsie auf einer Bahre durch die Klinik. Entweder starre ich nach oben in das kalte Licht der Neonröhren oder zur Seite. Auf Augenhöhe ziehen Bäuche und Hinterteile an mir vorbei. Da starre ich besser an die Decke. Nur mit einem Hemdchen bekleidet liege ich auf der Bahre und ziehe die Decke eng um mich. Blaue Punkte sind auf den steifen Stoff gedruckt und erinnern mich an Omas Bunzlauer Keramikgeschirr und ihre Kaffeetafel mit Streuselkuchen und Kakao. In die blau-weiß gepunkteten Tassen schaufelten wir Zucker, um den bitteren Geschmack des selbst gemachten Kakaos zu vertreiben.
„Nicht so viel“, mahnte Oma und ließ uns gewähren. In meinen Erinnerungen riecht und schmeckt es nach Geborgenheit und Sorglosigkeit.
„Hereinspaziert“, ruft der Arzt und zerreißt mein schönes Kindheitsbild. Er breitet die Arme aus und dreht sich leicht, als sei er ein Zirkusdirektor, der mich in der Manege begrüßt. Liegend schwebe ich hinein, und die Assistenten ziehen die Decke mit Schwung von meinem Körper. Ich friere und meine Nacktheit macht mich verlegen. Erwartungsvoll steht der Zirkusdirektor vor mir mit seinem Taktstock. Nein, es ist ein längliches, dünnes medizinisches Gerät, aber sobald er es hebt, gibt er das Tempo für die Biopsie an.
„Bitte nicht bewegen“, trällert er, „wir wollen doch nicht das Herz durchbohren, oder?“ Er lächelt, ich zittere und atme flach, voller Angst, dass ich husten muss und er mit seiner langen Nadel abrutscht. Er muss keine guten Witze machen, tröste ich mich, Hauptsache, er führt mit ruhiger Hand seinen Taktstock durch meine Rippen und knipst meinem Gewächs eine Knospe ab. Er hantiert schnell und ich spüre nichts. Gott sei Dank für Narkotika! Ich gehe mit meinen Gedanken spazieren, hinaus aus der Manege, lasse wilde Tiere, Assistenten und den Zirkusdirektor hinter mir. Ich suche Schutz bei meinem Gott. In der Bibel erzählt ein Text, dass er wie eine feste Burg ist. Ich sehe eine mittelalterliche Festung vor mir, mit dunklen und feuchten Wänden. Mich fröstelt bei dieser Vorstellung und meiner Nacktheit. Ich brauche einen warmen Ort und erinnere mich an die Zeilen, die Gottes Wesen mit einer beschützenden Henne beschreiben. Was für ein merkwürdiges Bild, einen mächtigen Gott als Glucke und seine Menschen als Küken zu bezeichnen. Bei diesem mütterlichen, fürsorglichen Gott möchte ich mich bergen. Ich husche unter seine flauschigwarmen Flügel. Ich schlafe ein und will erst wieder aufwachen, wenn der ganze Zirkus vorbei ist.
Roger, ein Freund von uns, ist Arzt in diesem Krankenhaus. Er tauscht sich mit dem Zirkusdirektor über mich aus und lässt mich hinter die Kulissen schauen. Wenn ich gut auf mich achte, dann darf ich auf eigene Verantwortung die Klinik verlassen.
Denn nur um auf die Ergebnisse zu warten, muss ich kein Patientenbett wärmen. Mit Rogers Fürsprache entkomme ich durch die Hintertür der Manege. Ich darf nach Hause zu meinen Kindern, ich darf mich zu Thomas ins Bett kuscheln, ich darf mich sicher fühlen.
Es gibt keine Entwarnung und doch werden wir ruhiger. Roger ist wie ein Finger an Gottes Hand, der mir den Puls fühlt, mich mahnt und mir die Richtung weist. Ich bin gewiss, mit der Diagnose werden die Sorgen ihre Kraft in unserem Alltag verlieren. Während ich mich um Sorglosigkeit bemühe, kategorisieren Experten im Labor mein Gewächs. Sie ordnen es einer Gattung zu und errechnen das Wachstum. Treibt es nur Knospen oder hat es Ableger, die an einer anderen Stelle meines Körpers Triebe bilden?