Читать книгу Meine Reise durch das Trauerland - Susanne Ospelkaus - Страница 11

Besorgt und versorgt

Оглавление

Nur zwei Tage später erfahren wir die Antwort. Thomas und ich balancieren auf der Stuhlkante, während der Oberarzt in seinem großen Drehsessel vor und zurück wippt.

„Es ist bösartig, aber machen Sie sich keine Sorgen. Die Prognose ist nicht ungünstig“, tröstet er uns. Es ist eine unmögliche Aufforderung. Machen Sie sich keine Sorgen, machen Sie sich keine Sorgen, machen Sie sich keine Sorgen, hallt es in meinen Gedanken. Ich kann dem Gespräch nicht mehr folgen und bin froh, dass Thomas sachlich und konzentriert bleibt.

„Haben Sie noch Fragen?“

Ich kratze meine Gedanken zusammen: „Nicht ungünstig heißt, dass der Krebs eine gute Prognose hat?“

„Ja, es ist eine erfreuliche Nachricht, dass es kein metastasierender Krebs ist. Genau genommen ist es eine Form von Blutkrebs.“

Ich zucke zusammen und er erwidert rasch: „Nein, keine Leukämie. Wie ich Ihnen gerade erklärt habe, ist es ein Lymphom.“

Das Gespräch entgleitet wieder meiner Aufmerksamkeit, aber Thomas legt seine Hand auf meine und signalisiert: Schon gut, ich erkläre es dir später.

Ich schaue aus dem Fenster. Wolken ziehen vorbei und ich überlege, aus welcher Himmelsrichtung sie kommen. Dann starre ich auf das Gemälde an der Wand hinter dem Oberarzt. Die Sonne hat es ausgebleicht. Das Original hat mehr Blautöne, dieses sieht grünlich aus. Mein Blick bleibt am Arzt hängen. In der Brusttasche seines Kittels zeichnet sich eine Packung Zigaretten ab.

„Haben Sie noch eine letzte Frage?“

Ich tauche aus meiner Träumerei auf und plötzlich fällt mir eine ein: „Verliere ich meine Haare?“

„Ja, aber glauben Sie mir, in Anbetracht Ihrer Situation ist das zweitrangig.“

Ich drohe vom Stuhl zu rutschen, und Thomas greift meine Schultern. Der Arzt verabschiedet uns, lächelt und drückt lange unsere Hände. Dann sagt er wieder, dass wir uns keine Sorgen machen sollen.

Besorgt fahren wir nach Hause. Bevor wir die Kinder abholen, müssen wir uns sammeln. Wir halten an einem See und stehen in der kühlen Luft. Ich suche Thomas’ Umarmung, lehne mich an seine Brust und höre seinen Herzschlag. Er ist so groß, dass er sein Kinn auf meinen Kopf legen kann. Wir sind kompatibel und geben uns Halt. Sein Atem verändert sich, ich spüre, wie sich sein Brustkorb weitet und dann tief senkt. Thomas weint, und auch ich tropfe seinen Pullover voll.

„Machst du dir Sorgen?“, nuschle ich an seiner Brust.

„Nein, es ist so ein Schreck und schwer, dich in die Hände der Mediziner zu geben.“

Ein Spaziergang soll uns dabei helfen, wieder zurück in unsere Rollen zu finden. Zügig gehen wir um den See. Das Tempo beschleunigt den Herzschlag und die kalte Luft fühlt sich gut auf meinen tränennassen Wangen an. Es ist Herbst geworden. Das bemerke ich erst jetzt. Der Sommer ist an mir vorübergegangen, während mich Erschöpfung und Krankheit in mein Wüstenland zogen.

Es beginnt zu nieseln und wir ziehen unser Tempo an. Wir bemühen uns, im Gleichschritt zu gehen. Der kleine See ist rasch umrundet und wir haben ihn aus allen Perspektiven gesehen. Ich wünschte, wir könnten den Blickwinkel auf unsere Sorgen auch so schnell verändern. Die Sonne müht sich durch die Wolkendecke und wärmt unseren Rücken.

„Da, schau mal.“ Thomas bleibt stehen und deutet nach oben. Am Himmel bricht sich das Licht. Es ist mehr als nur Physik. Sechs bunte Bögen erinnern uns an Gottes Versprechen, dass er es gut mit uns meint.

Wir finden unseren Rhythmus, während wir laufen. Wir richten uns auf, während wir den Blick heben.

Als wir wieder als Familie am Küchentisch sitzen, habe ich das Gefühl, es wäre noch eine Person anwesend. Sie streift um meine Familie und will mich mit Traurigkeit einhüllen. Stopp, denke ich, Blick heben! Ich schaffe mir einen inneren Hansguck-in-die-Luft an. Aber wenn ich mich auf meine Kissen lege und die Nacht mich in den Schlaf zieht, tauchen ungewollte Bilder auf: Meine Familie steht an meinem Grab. Die Kinder wachsen ohne Mama auf. Ein trauernder Thomas, der im Haushalt versinkt. Diese Träume lassen sich nicht von Hansguck-in-die-Luft beeinflussen. Sie winden sich von ganz alleine durch meine Gedanken. Am Morgen kämpfe ich mich aus dem Bett, als wäre ich von feinstem Wüstensand verschüttet worden.

Ich klopfe ihn aus meiner Kleidung und schüttle ihn aus meinem Haar. Nein, ich will diese Bilder nicht. Ich will andere, von einer langen Zukunft als Paar und Familie. Ich will sehen, wie meine Söhne zu Männern heranwachsen. Ich will sehen, wie ich alt und grau werde, wie ich meine runzligen Hüften in Miederhosen stopfe und meine Brüste mit Stütz-BHs hebe. Ich will davon träumen, wie wir als uraltes Ehepaar am Frühstückstisch sitzen, die Semmel in kleine Stückchen zupfen und in den Tee tunken.

Thomas ruft mit kratziger Stimme: „Ich liebe dich!“

„Hä, was hast du gesagt?“

„Ich liebe dich.“

„Ja, Schatz, ja, Schatz, ich liebe dich auch.“

Dabei streichle ich über seine faltige, fleckige Hand. Unser Blick gleitet über die Familienfotos auf dem Küchentisch. Wir sind stolz auf unsere Söhne und ihre Familien und fühlen uns beschenkt. So muss es sein, denke ich, wenn man lebenssatt ist.

Meine Reise durch das Trauerland

Подняться наверх