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2. Folge der Trauer

Ich bin die Trauer und gehe durch die Zeit von Generation zu Generation. Ich durchwandere Wälder und Wüsten, überquere Flüsse und Ozeane, erklimme Berge und durchstreife Täler. Ich bin auf der Suche nach Menschenherzen, nach den schweren und dunklen, den zerbrochenen und gesplitterten, den erschöpften und mutlosen. Ich suche und berühre sie, pflege und umsorge sie, bis sie wieder leicht und hell, heil und kraftvoll sind.

Ich bin Teil der Schöpfung. Ich wurde für dunkle Stunden, einsame Augenblicke und schmerzhafte Momente erschaffen.

Ich bin die Trauer und meine es gut mit den Menschenkindern. Ich meine es gut mit dir.

Wenn dein Glaube schwankt, die Liebe zerbricht oder Hoffnung schwindet, werde ich bei dir sein, dir meine Hand reichen und dich bitten, mir zu folgen.

Folge mir in mein Trauerland. Es hat Wüsten, aber auch Oasen. Du spürst das Leben in all seinen Gegensätzen: Empfangen und Loslassen, Leichtigkeit und Schwere, Überfluss und Mangel, Aufstehen und Niederfallen, Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte. Sorge dich nicht, ich begleite dich durch all die Spannungsfelder und darüber hinaus. Ich lasse dich den Horizont sehen, der die Unendlichkeit berührt, und erkläre dir das Firmament, das leuchtet, glitzert und strahlt, weil es in die Finsternis gelegt wurde.

Ich lehre dich, die Spuren zu lesen, die dein Glaube hinterlassen hat, und zeige dir, wie leidensfähig und unerschöpflich die Liebe ist. Gemeinsam gehen wir durch das fremde Land, bis du dich zurechtfindest und erstarkst. Wenn Glaube, Liebe und Hoffnung sich in dir erheben, werde ich mich verabschieden.

Ich bin die Trauer und meine es gut mit dir.

Ich sehe dich

Ich, die Trauer, stand am wuchtigen Garderobenständer, als der Arzt Susannes Diagnose verlas. Das Paar hielt sich an den Händen und lauschte stumm dem Vortrag über Behandlung und Prognose von Lymphdrüsenkrebs. Das Metall der Garderobe bohrte sich in meinen Rücken, ich hätte mich gern zu Susanne und Thomas gestellt, aber da war kein Platz für mich. Ich wollte da sein, falls sie mich brauchten, also polsterte ich meinen Rücken mit ihren Jacken aus und wartete. Es wurde viel geredet und die medizinischen Fachtermini schwirrten in meinem Kopf. Die Tragweite der Diagnose konnte dem Paar noch nicht bewusst sein, aber sie nickten eifrig und unterschrieben Einverständniserklärungen. Susanne fragte, was mit ihrem Haar in der Therapie geschehen würde. Dabei hielt sie ihren dicken Zopf in beiden Händen.

Wir fuhren erst zu einem See, und ich schaute ihnen aus der Ferne zu, wie sie ihn umrundeten. Sonne, Wind und Regen stritten am Himmel. Es war alles zugleich, aber so ist das Leben. Vieles geschieht gleichzeitig.

Dann holten sie ihre Söhne von Freunden ab und fuhren heim. Ich trug ihnen das Schühchen hinterher, das der Kleinste verloren hatte. Gemeinsam betraten wir die Wohnung, und ich schaute zu, wie Susanne den Kindern die Jacken auszog und die kleine Füße in Noppensocken steckte. Sie flitzten durch die Wohnung, der Große schleppte einen Plüschelefanten über den Flur, und der Kleine krabbelte mit einem Holzauto über das Parkett. Es war laut. Ich wollte mich vorstellen und reichte Susanne meine Hand, aber sie drehte sich weg und ging in die Knie. Dem Kleinen nahm sie das Auto ab. Daraufhin heulte er und es wurde noch lauter. Ich bückte mich, trotz meines Alters, und wollte sie in den Arm nehmen. Doch da hatte sie das schreiende Kleinkind hochgenommen und lenkte es mit einem Fingerspiel ab.

„Himpelchen und Pimpelchen gingen auf den Berg.“

Mit steifen Knien saß ich auf dem Parkett, unsicher, was ich jetzt tun sollte. Ich lauschte dem alten Reim. Viele Mütter und Großmütter haben ihn schon aufgesagt und dabei mit ihren Fingern gewackelt. Es waren Hände von Bäuerinnen, zerstochene Finger von Näherinnen oder zarte von Adligen. Doch den Kindern war das egal, Hauptsache, sie konnten auf dem Schoß sitzen und die mütterliche Nähe spüren.

„Himpelchen war ein Heinzelmann und Pimpelchen ein Zwerg.“

Das Fingerspiel dauerte an, und ich brauchte einen besseren Platz. Langsam richtete ich mich auf und setzte mich an den Küchentisch. Dort blieb ich sitzen und hörte dem Reim ein drittes und viertes Mal zu.

„Noch mal“, quiekte der Kleine.

„Jetzt machen wir Brotzeit“, sagte Susanne, und der Große begann den Tisch zu decken. Er bugsierte Teller aus dem Regal, seine Mama rief ihm hinterher, dass er immer nur einen nehmen sollte.

Er antwortete: „Ich kann das alleine.“

Mit Sorge betrachtete ich die Keramikteller, die er in seinem Arm balancierte und auf die Tischplatte hievte. Tatsächlich, er schaffte es alleine, auch wenn es ein großes Durcheinander aus Tellern, Bechern und Besteck war.

Irgendwann saßen sie zu viert am Tisch. Mutter, Vater und zwei Kinder. Es war ein hübsches Bild. Sie nahmen sich an den Händen und sprachen ein Gebet. Ich nickte und dankte Gott für diese kleine Familie. Als ich beim Essen Susanne über den Rücken strich, zuckte sie zusammen und duckte sich weg. Sie ruckelte mit ihren Schultern, als würde sie frieren. Ich hätte sie gern fest in den Arm genommen, damit sie meine Wärme hätte spüren können. Meine Umarmung wäre weit genug gewesen, um auch Thomas zu bergen, aber sie wollten nicht.

Wenn sich die Menschen voll und ganz auf eine Sache konzentrieren, gerate ich in den Hintergrund. Ich wurde für das Jetzt geschaffen, man kann nicht rückwärtig oder zukünftig trauern. Man kann nur in der Gegenwart trauern.

In dieser Familie war kein Platz für mich – noch nicht. Ich verstehe das. Der Mensch muss seine Kräfte bündeln, und manchmal muss man sich im Heute die Kraft für das Morgen aufsparen. Susanne und Thomas nahmen die Zukunft in den Blick, die Therapie am nächsten Tag, die Untersuchungen am übernächsten und die Normalität für die Zeit danach.

Vorsichtig stand ich auf und zog mich zurück. Ich schlich durch den Flur zur Haustür, dabei stupsten meine Füße gegen den Plüschelefanten und er kullerte auf den Rücken. Ich packte das Rüsseltier an den Ohren und setzte es aufrecht in die Ecke. Doch das weiche Ding sank immer wieder in sich zusammen und ließ den Kopf hängen. Ich stupste ihn in die Ecke, bis er darin Halt fand, dann schloss ich die Tür.

Ich bin die Trauer und meine es gut mit Susanne und ihrer Familie.

Meine Reise durch das Trauerland

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