Читать книгу Meine Reise durch das Trauerland - Susanne Ospelkaus - Страница 8

Auf der Suche nach Klarheit

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Ich habe keine Lust, zu einem Arzt zu gehen, aber ich habe es Thomas versprochen. Die Kinder muss ich mitnehmen, denn wir haben keine Eltern in der Nähe, die uns die Jungs abnehmen könnten. Um aus einem unangenehmen Weg ein Ereignis zu machen, nehme ich den Bollerwagen. Ich polstere ihn mit Decken und Kissen aus, setze einen Plüschelefanten und einen Plastiktraktor hinein. Es sind nur anderthalb Kilometer zur Praxis und trotzdem verlässt mich meine Kraft auf halbem Weg. Ich habe mir zu viel vorgenommen. Die Wartezeit beim Arzt vertreiben wir uns mit krümelfreien Keksen und dem dreimaligen Vorlesen des Bilderbuches Die Raupe Nimmersatt.

Ich bin stolz, dass sich meine Söhne alleine beschäftigen, während sich der Arzt mit mir unterhält. Er macht sich Notizen und wiederholt: „Sie sind also erschöpft und haben keinen Appetit. Die Stimme versagt Ihnen und seit sechs Monaten fühlen Sie sich schlapp.“

Ich nicke. Er knipst auf dem Kugelschreiber herum und holt einen Rezeptzettel hervor. „Sie sind eine junge Mutter. Gönnen Sie sich Ruhe. Und gegen den Hustenreiz nehmen Sie Lutschpastillen.“

„Aber … könnte es nicht sein, dass ich …“

„Ach was, jetzt übertreiben Sie nicht. Sie sind einfach nur überfordert.“

Er gibt mir die Hand und reflexartig greife ich zu. Das ist ein Fehler, denn sein Griff wird fest, hebelt mich aus dem Stuhl und navigiert mich zur Tür. Meine Kinder krabbeln und tapsen dem großen Onkel mit dem weißen Kittel hinterher. Auf dem Flur nehme ich Eduard auf den Arm. Ferdinand geht vor mir her und versucht, die Haustür zu öffnen.

„Ich kann das alleine“, sagt er und stemmt seinen kleinen Körper dagegen.

„Ja, das machst du toll.“

Wir zuckeln zurück. Die Kinder laufen neben mir her und bleiben an jedem Gartenzaun stehen. Es ist mir recht, denn so kann ich verschnaufen. Durch einen Vorgarten marschiert eine Gartenzwergparade, einer hässlicher als der andere. Die Jungs lieben sie, drücken ihren Kopf gegen den Zaun, schieben ihre Finger durch den Maschendraht und deuten auf die Zwerge.

In mir brodelt es. Ich bin nicht überfordert. Oder doch? Will ich es nur nicht zugeben? Sind meine Gefühle falsch? Lutschpastillen sollen gegen Gefühle der Liebesunfähigkeit helfen? Ich könnte heulen, tue es aber nicht, weil die Kinder auf den Arm genommen werden wollen, um einen Zwerg zu sehen, der gegen eine Blume pinkelt. Das finden sie lustig. Ferdinands Gekicher lenkt mich von den Lutschpastillen ab.

Meine Ärzte-Rallye geht weiter, und zunehmend schleicht sich Unruhe in meine Gedanken. Wir trauen uns nicht, die Sorgen auszusprechen, denn man möchte kein Unheil heraufbeschwören. Als wäre es ein Zeichen mangelnden Gottvertrauens, wenn man Ängste in Worte packt. Ist es nicht so, dass sich der Mensch von Natur aus mehr sorgt als nötig? Viele Befürchtungen treffen nie ein, und man würde nur kostbare Zeit durch schwere Gedanken vergeuden.

Nach drei weiteren Ärzten, die mich ebenfalls als überforderte Mutter bezeichnen, kümmert sich endlich eine Ärztin um mich. Inzwischen bin ich nicht nur besorgt, sondern auch verärgert. Männer meinen, den Belastungsgrad von Müttern erkennen zu können, und sprechen einer Frau ihre Intuition im Umgang mit dem eigenen Körper ab. Ist es normal, dass eine Mutter nicht mehr im Liegen schlafen kann?

Jeden Abend errichte ich ein Kissenlager und bette mich wie eine orientalische Prinzessin. Ich versuche, aufrecht zu schlafen, denn sobald sich mein Oberkörper senkt, überfallen mich Hustenattacken. Weckt mich nicht der Husten, so ist es die Kälte. Meine durchgeschwitzte Nachtwäsche lässt mich frieren. Wüstennächte sind kalt, bitterkalt.

Die Ärztin schickt mich in die Radiologie, mein Thorax wird durchleuchtet. Stumm reicht mir die Radiologin die Aufnahmen. Sie sind gut verschlossen in einem Papierumschlag.

„Alles in Ordnung?“, frage ich.

Sie rollt die Lippen nach innen und kaut langsam darauf herum. Schließlich sagt sie: „Sie sollten sofort zu Ihrer Hausärztin gehen. Sie wird Ihnen alles erklären. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Sie öffnet die Tür. Und ich trage den braunen Umschlag vorsichtig wie eine Briefbombe in meinen Händen.

Machen Sie sich keine Sorgen! Der Satz gibt meinem Gedankenkarussell erst recht Schwung, und ich rotierte mit immer größerem Tempo um die Sorge, dass ich krank sei. Soll ich Thomas anrufen? Er ist unterwegs und braucht Stunden, ehe er zu Hause ist. Ich lasse es bleiben. Es reicht, wenn meine Sorgen Achterbahn fahren.

Ich setze mich ins Auto, löse vorsichtig den Klebestreifen und ziehe meine Röntgenaufnahmen aus dem Umschlag. Ich halte sie an den Rändern und versuche, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Das Schlüsselbein und die Rippen kann ich gut erkennen. Auf der linken Seite sind Schatten. Das müsste das Herz sein. Ich starre noch eine Weile auf das blau-graue Bild und kann es nicht deuten. Durch meinen therapeutischen Beruf habe ich großes Vertrauen in die Medizin. Wenn etwas in meinem Brustkorb ist, das da nicht hingehört, soll man es herausschneiden. Fertig!

Ich lege die Briefbombe auf den Beifahrersitz und fahre zu meiner Hausärztin. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er in jeder Kurve hin und her rutscht. Wie explosiv ist der Brief? Wird er mich in den Tod reißen? Ich hoffe, dass er nur eine Attrappe ist, denn die Radiologin hatte gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Ich schleppe mich in die Hausarztpraxis, und die Sprechstundenhilfe lotst mich an den Wartenden vorbei direkt zur Ärztin. Sie reißt den Umschlag auf, hält das Röntgenbild gegen das Licht und seufzt. Dann geht alles ganz schnell: Klinikeinweisung. MRT. Arztgespräche. PET. Aus der angeblich überlasteten Mutter ist von einem Tag auf den anderen eine Patientin mit einer Wucherung im Brustkorb geworden.

Meine Reise durch das Trauerland

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