Читать книгу Bloody Julie 2.0 - Susanne Sievert - Страница 6

Die Geister, die ich rief

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Das Leben ist eine Herausforderung. Und es lässt dir genau zwei Möglichkeiten: Annehmen oder Ablehnen.

Ach, ich formuliere es deutlicher: Aufgeben oder Weitermachen.

Na, lieber ganz direkt: den Mittelfinger in den Wind halten oder zu Mami laufen.

Früher gehörte es mal zu meinen Plänen, das Leben einfach anzunehmen. Und was ist passiert? Gevatter Tod kam um die Ecke. Seit ich auf der Welt bin, spuckt es in mein Gesicht, dieses Leben. Mein Dasein war schon immer kompliziert, anstrengend und voller Stolpersteine. Und jetzt stelle ich fest, dass Sterben sogar noch viel unangenehmer ist. Es ist nicht friedlich oder erlösend. Da ist kein Licht, nur Bedauern. Und selbst im Tod lasse ich Jules nicht los.

Der Tod lässt dir keine Wahl, das Leben schon.

Ja, leben ist besser.

Aber ich muss fair bleiben, schließlich hätte ich es übler treffen können, denn nach meinem Tod sehe ich Jules. Es ist immer derselbe Traum, der sich in einer endlosen Schleife wiederholt. Keine Ahnung, ob es wirklich ein Traum ist, aber wie beschreibe ich die Bilder am besten, die sich in meinem toten Hirn abspielen?

Jules beugt sich über mich und auf seinem Gesicht sehe ich das traurige Lächeln aus unserer Kindheit. Ein gequältes Lächeln, das sagt: Kopf hoch, Julie. Es wird schon. Er verspricht mir mit Tränen in den Augen, dass er bei mir bleibt. Dass er mich nicht verlässt und mich liebt. Seine Arme zittern, während er mich verbissen festhält, und ich atme seinen Duft ein, der mir die Angst vor dem Sterben nimmt. Ich fühle etwas, das es lange Zeit nicht gab. Einen Hauch von Glück.

Wie eine Blume.

Und wie ein Herz.

Ach, Jules. Ich habe es versaut und werde dich nicht mehr unterstützen können, wenn die Welt zusammenbricht. Ich bin tot und das ist allein meine Schuld. Verdammt, ich wusste, dass meine große Klappe mich eines Tages ins Grab bringen wird. Aber so schnell? Und gerade dann, wenn ein Wunder geschieht?

Universum, ich habe dich oft beschimpft und sage es liebend gern noch einmal: Du bist eine dumme Sau.

Ich träume von meinem Bruder. Von diesem einen Moment, kurz bevor ich sterbe. Der Traum endet an der Stelle, an der Jules seinen Mund öffnet, um etwas zu sagen. Genau dann spüre ich den brennenden Schmerz und der Ablauf wiederholt sich - erlöst mich von den Qualen. Jules’ Lächeln ist alles, was mir bleibt. Wie gesagt: Nicht die schlechteste Wiederholung, wenn man in einer Spirale gefangen ist.

Es ist wieder soweit. Die Bilder spulen sich von Neuem ab, dieses Mal ist es jedoch anders. Ich spüre es, obwohl ich tot bin und nichts mehr wissen sollte. Es ist nur ein vages Gefühl, aber es reicht aus, dass mir kalt wird. Dieses Mal fürchte ich mich, als ich Jules’ Lächeln und die dicken, runden Tränen betrachte, die seine Wangen hinunterrollen. Kein Mitgefühl, nur die Gewissheit, dass mir etwas Unheilvolles bevorsteht. Eine seiner Tränen tropft auf meine Wange. Seine Arme zittern, sie schütteln mich regelrecht durch und als er seinen Mund öffnet, ahne ich, dass der Traum sich nicht wiederholen wird. Jules’ Lächeln bleibt und der Schmerz ist unbeschreiblich, als er seine Zähne in meinen Arm schlägt.

Ich möchte um Hilfe rufen, aber wer soll mich retten, wenn mein eigener Bruder mich töten will? Ich versuche zu schreien, aber alles, was ich höre, ist ein Wimmern und dann geschieht etwas Merkwürdiges: Jules verschwindet. Was man vom Schmerz leider nicht sagen kann. Ein reißendes Gefühl breitet sich in meinem Brustkorb aus und als ich die Augen öffne, höre ich einen Schrei. Meinen.

Wo auch immer ich bin, es ist stickig und warm. Ich bekomme keine Luft und mit jedem schweren Atemzug habe ich das Gefühl, Staub in meine Lunge zu saugen. Ich huste, blinzle und versuche, mich zu orientieren.

Wo bin ich? Was …? Was … geschieht mit mir?

Meine Augen tränen, das Blut rauscht in meinen Ohren und ich höre nichts als meinen eigenen Atem.

Jules? O Gott, wo bin ich nur?

Meine Hände kribbeln und abgesehen vom Schmerz schnürt mir die aufkommende Panik den Brustkorb enger. Mittlerweile bin ich klitschnass geschwitzt und frage mich hechelnd, ob das die Hölle ist, von der meine Mutter immer gesprochen hatte, wenn sie über ihr Leben klagte.

Ächzend rutsche ich ein Stück nach unten – jede Bewegung ist eine zu viel – und höre ein Rascheln. Ich schrecke zusammen und stelle erleichtert fest, dass ich selbst das Geräusch verursacht habe.

„Nicht durchdrehen, Julie“, ermahne ich mich. Meine Stimme klingt rau und trocken, aber sie ist vertraut. Ein Anker.

Mir wird schwindlig, also beschließe ich, lieber klein anzufangen. Ich taste neben mich und fühle Stoff auf einer weichen Oberfläche. So weit, so gut. Ich schätze, ich liege auf einer Matratze mit einer Decke, rau, geruchslos und gestärkt.

„Wie kuschlig“, murmle ich und versuche, die Decke mit den Füßen abzustreifen. „Das ist ja wie im Krankenhaus. Schrecklich.“ Es klappt nicht, also klemme ich die Decke zwischen meine Füße, muss aber einsehen, dass ich nicht genug Kraft habe. Es ist keine gute Idee, es weiter zu versuchen. Ich lege eine Pause ein.

„Also gut, immer mit der Ruhe, Julie.“ Selbstgespräche hatte ich lustiger in Erinnerung. Ach nein, das waren ja meine anderen verrückten Stimmen, die mich jetzt im Stich lassen.

Ich kneife die Augen zusammen, blinzle und wische mit der Schulter mein Gesicht trocken. Langsam lichtet sich der Schleier und Ruhe verdrängt die Panik. Eine gute Gelegenheit, meine Umgebung näher zu betrachten.

Mein Kopf rollt nach links und das erste, was in mein Blickfeld fällt, ist ein Kleiderschrank, geschmackvoll in Kotzgrün gehalten, mit offenen Fächern, in denen Handtücher und andere Stoffstapel liegen – aus meiner Perspektive schlecht zu erkennen. Daneben ist eine Tür, leider geschlossen, und ein Stück weiter entdecke ich noch eine. Ob sie auf einen Flur führt, in Richtung „irgendwohin“?

Ich fühle mich nicht belastbar genug, um es herauszufinden, und drehe meinen Kopf nach rechts, vorbei an der weißen Wand mit Raufasertapete und einem Bild, auf dem eine breite Brücke umgeben von Nebel zu sehen ist. Der Abgrund darauf wirkt unendlich – verschlingend – und ich blicke mich lieber weiter um.

Rechts von mir in der Ecke stehen am Fenster ein Tisch und zwei Stühle, beide leer. Gott sei Dank, ich bin nicht in Stimmung, Besuch zu empfangen. Es ist Tag und die Sonne scheint ins Zimmer. Eigentlich schön, wenn ich wüsste, wo ich bin. So fühle ich mich nur schutzlos, ängstlich und allein.

„Ich … ich lebe, gottverdammt“, murmle ich und rutschte ein Stück nach oben. Das war wieder eine Bewegung zu viel und ich beiße mir vor Schmerz auf die Unterlippe.

Ich schmecke Blut; ein weiterer Beweis, dass ich den Löffel noch nicht abgegeben habe. Ich kann mich nicht entscheiden: Soll ich lachen oder heulen?

Meine Hand berührt etwas Kaltes und erst jetzt bemerke ich einen kleinen Rolltisch direkt am Kopfende des Bettes. Eine Flasche Wasser steht darauf. So etwas sieht man nur im Krankenhaus.

Und was ist das? In meiner Hand steckt eine Kanüle, verbunden mit einem Schlauch, der am Tropf endet. Sieht professionell aus, lindert jedoch nicht die Schmerzen. Einen kurzen Moment überlege ich mir, das Ding selbst zu entfernen, aber das verschiebe ich auf später.

„Okay, ein Krankenhaus. Ich hab’s ja gleich geahnt. So ein Mist. Oder nicht? Ist das jetzt was Gutes oder was Schlechtes?“

Niemand antwortet mir. Damit habe ich allerdings auch nicht gerechnet. Wenn das ein Krankenhaus ist, dann wird irgendwann jemand kommen, um nach mir zu sehen, schließlich bin ich eindeutig nicht allein hierhergekommen. Auf diesen Besuch muss ich mich vorbereiten.

„Wasser, ja, Wasser ist erst mal eine gute Idee.“

Ich hebe meinen Arm, ächze und stöhne dabei, versuche es ein kleines Stück weiter und stelle frustriert fest, dass das Wasser genauso gut im Weltall schwirren könnte.

„Ach Mann, Jules, wo bist du nur?“, maule ich und verkneife mir die Tränen. „Ich liege weiß Gott wo, bin ein absoluter Pflegefall und zum Sterben hier vergessen worden. Das ist doch einfach nur zum …“

„Na komm, Püppi, ich helfe dir.“

Mir fehlt zwar die Kraft, an das Wasser zu gelangen, aber ich bin in der Lage, zu schreien. Und das sehr laut.

Wie aus dem Nichts erscheint ein Mann. Ein Mann, der enorme Ähnlichkeit mit Bob Baker hat. Aber er kann es unmöglich sein.

Bobby Bear, so durften mein Bruder und ich ihn nennen, ist tot. Und ich muss es wissen, war ich doch diejenige, die ihn erschossen hat, weil er sich in einen Zombie verwandelte. Das war damals am Motel. Ein weiteres dunkles Kapitel in meiner Geschichte. O mein Gott, Zombies … Mein Gehirn kommt langsam auf Touren. Die Scheißer hatte ich für einen winzigen Augenblick ausgeblendet.

Fakt ist: Mein Freund lebt nicht mehr und tausend Tränen sind meine Zeugen. Dennoch steht er am Fußende, betrachtet andächtig das grässliche Bild und nimmt von meinem Gezeter und Geschrei kaum Notiz.

„Bist du bald mal fertig?“, fragt er nach einer Weile, während ich Atem für den nächsten Schrei sammle. „Ist nämlich nicht so, dass ich ewig hier abhängen kann.“

Seine Worte nehmen mir die letzte Kraft, und ich gebe nach. Okay, warum nicht? Unterhalte ich mich mit einem Toten. Es ist Bobby Bear, wie schlimm kann es werden?

„Bobby …“, hauche ich und kaum habe ich seinen Namen ausgesprochen, fange ich an zu heulen. Ich schluchze und sabbere auf meine Decke, bis seine großen Hände mein Gesicht berühren und ich seine Wärme spüre.

Verrückt, absolut verrückt!

„Das kann doch nicht sein. Ich träume, nicht wahr? Bobby? Ist doch so, oder?“

„Wenn du dich dann besser fühlst, nenn’s einen Traum, Püppi. Schon okay, und jetzt …“ Er greift nach der Flasche, dreht am Verschluss, der sich zischend öffnet und hält den Flaschenhals an meine Lippen. „Trink. Na los, Kleines. Du hast es bitternötig. Danach reden wir. Ganz in Ruhe.“

Mit einigen kleinen Schlucken leere ich die Hälfte der Flasche, was Bobby mit einem zufriedenen Brummen quittiert. Noch nie hat imaginäres Wasser so erfrischend geschmeckt.

„Danke“, sage ich und schaue zu Bobby hinauf. „Macht es dir was aus, eins der Fenster zu öffnen? Ist verdammt stickig hier drin.“

Hey, er hat mir die Flasche aufgemacht, warum nicht auch ein Fenster?

Mein Freund lacht – ach, dieses kraftvolle, tiefe Lachen – und tut mir den Gefallen. Umgehend strömt klare Luft in das Zimmer und kühlt mein verschwitztes Gesicht.

Ich schließe die Augen, genieße die Frische und werde sogar ein wenig schläfrig, bis ein Quietschen meine Ruhe stört. Bobby schiebt sich einen der Stühle ans Bett und ich sehe ein, dass das hier nicht vorbei ist.

Tja, so ist das, wenn man eine verdammte Verrückte ist.

„Weißt du, was echt lustig ist?“, frage ich und Bob schaut aufmerksam in meine Richtung. Er lacht gerne und der Witz wird ihm gefallen. „Bis vor ein paar Sekunden dachte ich noch, ich wäre am Leben. Aber das kann unmöglich sein, wenn du mein erster Besucher bist. Ist das das Wartezimmer zur Hölle, oder was?“

Hmm, er lacht nicht. Nein, er steht auf und es ist zu spät, sich gegen seine ausgestreckte Hand zu wehren. Mein Freund drückt seinen Finger direkt in meine Brust und ein Feuer verzehrt mich von innen. Es tut so verdammt weh, dass ich zu atmen vergesse. Sein Zeigefinger bohrt sich immer tiefer in das blutige, knirschende Loch und ein Feuerwerk explodiert vor meinen Augen.

Kurz vor einer Ohnmacht hört es überraschend auf.

„Na, wie siehst du die Dinge jetzt?“, fragt Bob ohne eine Entschuldigung. „Hör auf zu heulen, Püppi, und reiß dich zusammen. Es wird niemand kommen, nicht sofort, und darüber solltest du dich freuen. Beim Schichtwechsel interessiert es niemanden, was auf der Station passiert. Schau mich nicht so an, Kleines. Deine Vermutung ist richtig. Das hier ist ein Krankenhaus. Nicht die Hölle. Wer hat dir den Mist erzählt?“ Er macht eine wegwerfende Handbewegung, während ich damit beschäftigt bin, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Na schön, und was soll das Ganze dann? Ich meine, ich sehe dich, ich spreche mit dir. Da kann ich mir schwer vorstellen, dass …“ Bobby hebt seinen Zeigefinger zum zweiten Mal in die Höhe und panisch wehre ich ab: „Kapiert. Ich hab’s ja kapiert! Ja, ich lebe, verdammt noch mal.“

„Gut“, antwortet Bobby und nickt zufrieden.

So wie er vor mir sitzt, sieht er aus wie damals, zu seinen goldenen Zeiten in der Bar. Das schwarze Haar glänzt und die Elvis-Tolle ist perfekt gestylt. Das karierte Hemd spannt sich um seinen üppig genährten Bauch und seine Hände, die großen, schwieligen Arbeiterhände, liegen zusammengefaltet auf seinem Schoß. Ich erinnere mich, wie ich mit elf Jahren meine fünfzig Cent für eine Packung Milch hatte hineinfallen lassen. So tief wie ein Brunnen, dachte ich damals. Noch heute machen sie diesen Eindruck. Kraftvoll, beschützend und unbesiegbar.

„Du siehst gut aus, Bob Baker“, stelle ich fest und meine Stimme wird schwer und leise. Das Aussehen meines Freundes ist weit von dem Zombie entfernt, den ich erschossen habe. „Ich vermisse dich.“

Mein Leben ist nicht mehr dasselbe. Wer richtet mich jetzt auf? Du bist der Beste. Du gibst mir Sicherheit. Was wird aus mir?

All das würde ich gerne sagen, kann es aber nicht, ohne in Tränen auszubrechen. Vielleicht ist das nicht nötig. Sein warmer Blick gibt mir zu verstehen, dass er Bescheid weiß.

„Soll ich dir was verraten?“ Er beugt sich zu mir, so nah, dass ich seinen Atem riechen kann. Bier und Zigarettenrauch umgeben meinen Freund. Der Himmel behandelt ihn sicher gut. Nach seinem Leben hat er das verdient. „Ich verlasse dich nicht, kann ich gar nicht, so oft, wie du an mich denkst.“

„Ach, Bobby“, sage ich. Auch wenn seine Worte weichgespült und abgedroschen klingen, berühren sie mich.

„Okay, dann legen wir los.“ Voller Tatendrang klatscht er in die Hände. Ich schwanke zwischen Aufregung und Angst. Beides gefällt mir nicht.

„Keine Ahnung, wann wir uns wiedersehen, deshalb werde ich nicht an guten Ratschlägen sparen, Püppi.“

Ich nicke stumm und denke: Wir werden uns wiedersehen, da kannst du drauf wetten.

Bobby war der Einzige, der mich jemals zurechtgewiesen hatte, auf seine eigene, liebevolle Art versteht sich. Das hat mich vor manchem Fehler bewahrt. Leider nicht vor allen. Aber hey, Fehltritte gehören zum Leben dazu, oder?

„Ach, Püppi, du hast so viel ertragen müssen. Das reicht glatt für fünf Leben, aber all das Geschehene steckt in deinem dürren Körper. Kein liebevolles Heim, Eltern, die dich wie Ware behandeln, jahrelang auf dich allein gestellt und trotzdem hast du dich um deinen Bruder gekümmert.“ Seine Hand liegt auf meinem Fuß. In meinem Hals bildet sich ein Kloß, und wenn er so weiterredet, werde ich ihn zurechtweisen müssen.

„Was erzählst du da, Bobby? Wir hatten dich. Wir hatten einen Rückzugsort. Du hast uns befreit.“

„Mag sein. Vielleicht hast du recht.“

Kurz ist er still und ich genieße zum ersten Mal unser Beisammensein. Ist es nicht das Schweigen, das einen Augenblick perfekt macht?

„Vermutlich muss ich es dir nicht sagen. Will ich aber. Aus einem starken Kind wurde schließlich eine starke Frau. Halte durch, Püppi. Die Zeiten werden nicht besser, die Zombies nicht freundlicher und die Menschen …? Halte durch, wenn es richtig wehtut, und gib nicht auf. Versprich mir das.“

In seinen Augen liegt ein Flehen, das ich in all den Jahren nie bemerkt habe. Er meint es ernst und ich würde ihm das Versprechen gerne geben, weiß aber nicht, ob ich so stark bin, wie er behauptet.

„Na klar, Bobby. Ich meine, ich versuche es natürlich. Also, alles wie immer, richtig?“, frage ich und bin doch verwirrt. Den nächsten Satz überlege ich mir genau, denn ich möchte meinen Freund nicht verletzen. „Mal unter uns, Bobby, das ist ein ganz schön dürftiger Rat, meinst du nicht?“

„Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann.“ Er streicht sich über seinen Bart. „Und wer hat behauptet, dass ich fertig bin? Hör gut zu: Es wird der Moment kommen, da musst du loslassen. Das wird für dich eine Herausforderung, Kleines, aber lass einfach los.“

Keine Ahnung, was die Hinweise meines Freundes sollen. So einen Ratschlag würde ich jedem Menschen auf der Straße geben. Sorry, aber von einem Toten erwarte ich etwas Bahnbrechenderes. Etwas Imposantes. So etwas wie das Öffnen der himmlischen Tore, Engelsgesang, Fanfare und den ganzen anderen Mist. Die totale Erleuchtung!

Halte durch. Lass los. Ist das sein Ernst?

„Entschuldige, Bob, aber ich muss es einfach loswerden. Was soll das?“, frage ich. „Wenn du mir jetzt noch sagst Folge deinem Herzen, dann sterbe ich freiwillig. Das hier ist doch kein Disney-Film. Ich brauche mehr, verstehst du? Wo ist Jules? Wie geht es den anderen? Wo bin ich überhaupt und was ist mein Ziel? Können wir die Zombies überleben? Was genau macht Menschen zu Zombies? Siehst du? Das sind wichtige Fragen und darauf brauche ich echte Antworten.“

Bob senkt leicht den Kopf, als wäre er von mir enttäuscht. Okay, ich sehe ein, der Vergleich mit dem Disney-Film war frech. Aus seiner Brusttasche zieht er gemächlich eine Packung Zigaretten und würde er mir eine anbieten, würde ich nicht Nein sagen. Macht er aber nicht. Tja, Julie, selbst schuld. Mit einer Ruhe, die nur Bobby ausstrahlen kann, zündet er sich die Kippe an und bläst den Rauch nach oben.

„Ach, Püppi.“ Seine Stimme klingt einen Ton tiefer. Ich habe auf die harte Tour gelernt, dass ich ihn spätestens jetzt ernst nehmen sollte. „Ich habe keine Antworten auf deine Fragen. Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss. Weiß der Teufel, warum die Welt vor die Hunde geht. Das ist das Ende und die Menschen fressen sich gegenseitig auf. Wer hätte gedacht, dass Zombies uns mal die Ärsche aufreißen, was? Und siehe da: Die Erde dreht sich weiter, die Zeit läuft und läuft, und wenn du meine Ratschläge befolgst, findest du womöglich die Antworten auf deine Fragen. Willst du das denn?“

„Keine Ahnung, Bob“, gebe ich zurück.

Natürlich will ich wissen, warum Menschen zu Zombies werden. Aber ohne Jules? Allein auf mich gestellt? Schlagartig fühle ich mich klein und hilflos, wie damals im Schrank unter der Treppe. Das Gefühl klebt an mir wie Pech und stinkt zum Erbrechen. Am liebsten würde ich mich unter der Decke verkriechen und so tun, als wäre ich nicht da – zumindest für einen winzigen Augenblick.

„Mach, was ich dir gesagt habe.“ Das ist keine Bitte, so viel steht fest, auch wenn er die Anweisung mit einem Lächeln unterstreicht. „Und dann, Julie, greifst du dir deinen Bruder und setzt alles daran, dass du von hier verschwindest, kapiert?“

„Jules ist hier?“

Bobby brummt zustimmend. Fast beiläufig lässt er die Bombe doch platzen! Da sind sie endlich, die Fanfarenklänge und Engelsgesänge, die ich mir erhofft habe.

Mein Kopf ruckt hoch, ich will sofort aufstehen und losrennen und vergesse dabei, dass ich mit einem Einschussloch ans Bett gefesselt bin. Ich wurde erschossen, das steckt man nicht so leicht weg. Mir wird schwindelig und übel, Sterne tanzen vor meinen Augen und es wird für ein paar Sekunden dunkel.

Jules, Jules, Jules. Mein Bruder. Ich bin auf dem Weg. Schon fast da. Warte kurz … Egal, wo du bist, warte auf mich.

Durch die Dunkelheit sickert Bobbys Stimme zu mir. Tief, beruhigend, allumfassend. Er singt. Halt, Augenblick, er singt? Das hätte er zu Lebzeiten nie getan. „Weiberkram“, schimpfte er immer. Kein Trällern, Summen oder Pfeifen, niemals.

Es gab einen Abend in der Bar und Bobby war so beschwingt, dass er sogar ein paar Cent in die Jukebox warf. Für ihn war es eine Verschwendung, was natürlich nicht für seine Gäste galt. An die Box gelehnt sagte er damals: „Männer, die singen, pah! Es gibt nur einen einzigen Mann, der es voll draufhat. Es gibt niemanden, der dem King das Wasser reichen kann.“

Er singt, mein Gott, und nicht irgendeinen Song. Als die ersten Töne erklingen, kann ich mich nicht dagegen wehren. Ich bekomme eine Gänsehaut.

„Wise men say, only fools rush in. But I can’t help, falling in love with you.“

Herrlich, so fesselnd und wahrlich nicht von dieser Welt.

Ich höre ihm zu, seiner Stimme aus Gold, und verliere mich in Tränen und Wehmut.

„Take my hand, take my whole life, too.“

Warum, Bobby? Warum dieses Lied? Hat es eine Bedeutung?

Ach, was mache ich mir vor? Alles hat einen tieferen Sinn. Ich bin mal wieder nur zu selbstgerecht, zu engstirnig, um es an mich heranzulassen.

Das letzte „Falling in love“ höre ich nicht mehr, schade. Was für eine Show, mein Freund. Was für eine Show! In Gedanken applaudiere ich und wünsche mir, dass Bob meine unausgesprochenen Worte hört.

Der letzte Vorhang fällt und mit ihm wird es dunkel.

Bloody Julie 2.0

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