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Narben und Muster

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Die Geister, die ich rief, sind verschwunden.

Es ist der nächste Tag - die Sonne scheint durch das Fenster und das Zimmer erstrahlt in einem anderen Licht. Es sieht kälter, steriler und ungemütlicher aus als zuvor. Das liegt an der neuen Perspektive, denn von einem kalten Boden aus, inmitten von Glasscherben und Wasser, wirkt alles ein wenig hässlicher.

Heilige Scheiße, ich bin am Leben. Nach so einer Nacht des Schreckens! Und was soll ich sagen? Ich fühle mich gut, dafür, dass letzte Nacht der Teufel an meinem Bett gesessen hat.

Der Schmerz ist abgeklungen. Er ist jetzt eher ein konzentriertes Pochen in der Mitte meiner Brust. Meine Finger tasten über den klebrigen Verband. Er ist voller Blut. Na prima, der muss gewechselt werden. Mein bisheriger Aufenthalt in diesem Krankenhaus hat mich gelehrt, dass Besuchszeiten nur von Geistern wahrgenommen werden. Also muss ich die Lebenden wohl selbst suchen.

Das Aufstehen ist nicht so unkompliziert, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich fühle mich, als hätte mir jemand zwei Sandsäcke auf die Schultern gebunden. Aber langsam, Stück für Stück, raffe ich mich auf und komme zum Stehen. Mit einer Hand halte ich mich an der Fensterbank fest und wage einen Blick durch das Zimmer, das nach wie vor verlassen vor mir liegt. Ich bin allein, meine Eltern sind nirgendwo zu sehen. Gott sei Dank.

In Zeitlupe bewege ich mich vorwärts, immer darauf bedacht, nicht in einer Wasserpfütze auszurutschen und auf keinen Fall in eine Glasscherbe zu treten. Es ist mein selbst gemachter Parcours des Grauens und ich meistere ihn wie ein Profi. Ein paar schlurfende Schritte, dann erreiche ich eine Tür, hoffentlich die zum Badezimmer.

Ich werde nicht enttäuscht – keine Abstellkammer oder Ähnliches. Es ist ein typisches Krankenhaus-Bad mit einer Toilette, einer Dusche und einer Menge Desinfektionsmittel. Ich entdecke zwei Literbehälter auf der Ablage des Waschbeckens und einen ganzen Kanister in der Ecke der Duschkabine. Das ist ungewöhnlich und, hey, was haben wir denn hier? Eine Packung Aspirin und einen Kosmetikbeutel mit Duschgel, Zahnpasta, Parfüm und einer Bürste, ohne fremde Haare zwischen den Borsten.

Das ist mein verdammter Glückstag!

Auf einem Stuhl vor der Duschkabine liegen Kleidung und Schuhe, sauber und ordentlich zusammengelegt. Als Erstes greife ich mir ein T-Shirt mit der Aufschrift „Time for wine“ – es spricht die Wahrheit aus - frische Unterwäsche und was ist das? Eine graue Jogginghose … Ich falte den Stoff auseinander und erkenne sofort, dass es sich um meine Hose aus dem Motel handelt. Aber jemand hat sie gewaschen, sodass sie statt nach Pisse nach Waschmittel riecht. Ich streiche über den Stoff, über die verblassten Blutflecke und lasse mich auf den Stuhl fallen. Die Erinnerungen treffen mich wie ein Presslufthammer und ich zittere am ganzen Körper.

Nolan mit einer Waffe in der Hand.

Olivia und Jules, die meinen Namen rufen.

Ein Schuss.

Der Schmerz.

Mein Bruder, der mich auffängt und in seinen Armen hält.

Ein greller Blitz und …

Nein, ich bin nicht gestorben, offensichtlich nicht, aber es war knapp. Nolan hat auf mich geschossen, doch das nehme ich ihm nicht übel. Rosalie, seine Freundin, hatte kurz zuvor ihr Leben selbst beendet und sich binnen Sekunden verwandelt. Verdammt, es ging alles so rasch und ich war nicht schnell genug, um den Biss in Jules’ Arm zu verhindern. Mir blieb keine Wahl und um die Gruppe zu schützen, tötete ich Rosalie. Was für ein schrecklicher Kampf.

Das Zittern lässt nach und bevor ich mich ausziehe, schließe ich die Tür. Die Geister sind zwar ausgeflogen, aber auf spontanen Besuch habe ich dennoch keine große Lust.

Ich will nicht in den Spiegel sehen, tue es dann trotzdem und bereue es sofort. Die dünne und blasse Frau, die mir gegenübersteht, ist kaum wiederzuerkennen. Zotteliges Haar, dunkle Ringe unter den Augen und was ist das? Ich trete näher an den Spiegel und ziehe mein Augenlid ein Stück nach unten. Auf der weißen Lederhaut sind rote Äderchen geplatzt und als ich mit dem Finger über das obere Lid streiche, breitet sich das Rot weiter aus. Ich sehe genauso schaurig aus, wie ich mich fühle. Prima, wenn Körper und Geist im Einklang sind.

Das künstliche Licht ist zu grell und hebt all die Narben hervor, an die ich nicht mal denken will. Ich schaue sie mir trotzdem an. Früher habe ich ihre Existenz verdrängt, aber heute fühle ich mich bereit dafür. Ich betrachte die Spuren mit einer seltsamen Distanz, wie durch die Augen einer Fremden. Es haftet kein Schrecken mehr an ihnen.

Da sind blasse kleine Punkte auf meinen Armen, die man nur erkennt, wenn man weiß, dass sie da sind. Sie verlaufen vom Oberarm bis zum Handgelenk. Kleine Einstiche, die meine Mutter mit einer heißen Nadel gemacht hat. Ich streiche darüber und fühle nichts. Meine Haut ist glatt, die Berührung nicht unangenehm, was seltsam ist, denn jede, selbst meine eigene, hat sonst immer Ekel ausgelöst.

Ich taste über meinen Po und spüre längliche Wölbungen auf der Haut, für die mein Vater verantwortlich ist. Früher nahm er gerne seinen Gürtel und schlug mit der Schnalle auf meinen Hintern oder den Rücken – je nachdem, wie lausig seine Laune war. Er ließ Jules dabei zusehen, ob der wollte oder nicht. Er sollte lernen, was mein Vater als wichtig erachtete.

Gott sein Dank ist aus meinem Bruder trotz allem ein anständiger Mensch geworden. Wir haben beide früh verstanden, dass die Gedanken eines Psychopathen für uns nicht nachvollziehbar sind.

Auf meinen Ober- und Unterschenkeln finde ich Brandnarben und Einschnitte zahlreicher fremder Hände, so viele, dass es eine Menge Zeit kosten würde, sie zu zählen.

„Okay, Julie, genug ist genug“, sage ich zu mir selbst.

Dann fällt mein Blick auf die Verbände. Leider gibt es da noch eine Sache, die zu erledigen ist. Ich löse den Anfang der Mullbinde mit Zeigefinger und Daumen und rolle das Band von meinem linken Oberarm. Dann drehe ich mich mit dem Oberkörper zum Spiegel und starre auf dünne rote Linien, die ein seltsames Muster auf meine Haut malen. Vorsichtig streiche ich mit dem Finger darüber, spüre aber keine Erhebungen. Die Wunde ist glatt, verheilt, und mit einem flauen Gefühl rechne ich mir aus, wie lange ich hier schon gelegen haben muss. Unterm Strich würde ich sagen: Lang genug.

Was zum Teufel ist das?, denke ich und mustere die zarten Linien.

Na, komm schon, Julie! An was erinnert dich das? Das sind Zahnabdrücke. Zahnabdrücke! Und zwar von deinem Bruder. Du hast es nicht geträumt. Es ist tatsächlich passiert und was auch immer Jules verändert hat, es steckt jetzt in dir!

Tja, es ist furchtbar schwer, sich selbst zu belügen.

„Verdammt noch mal!“ Meine Hände umklammern das Waschbecken. Am liebsten würde ich meinen Kopf dagegen schlagen, damit der Irrsinn ein Ende findet. Aber wem mache ich etwas vor? Es ist an der Zeit, weiterzumachen! Was ich dringend brauche, sind Antworten und die finde ich nicht im Waschbecken des Badezimmers.

Ich drehe den Wasserhahn auf, werfe mir zwei Aspirin ein und kippe mir eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht. So gern ich die Dusche benutzen würde – ich traue mich nicht, denn unter der Brause würde ich so gut wie nichts hören. Stattdessen wasche ich mich notdürftig und versuche vergeblich, meine roten Haare zu bändigen und die Knoten zu entwirren. Nach einer Weile gebe ich auf, binde sie zusammen und mache etwas, das in dieser neuen Welt absoluter Luxus ist: Ich benutze eine richtige, funktionierende Toilette.

Anschließend erneuere ich die Verbände, ziehe mich an, stecke mir ein paar Pillen in die Tasche und verschnaufe auf dem Stuhl. Das Bad gaukelt mir einen Hauch von Sicherheit vor, aber im Grunde ist es ein Ort wie jeder andere und Sicherheit gibt es schon lange nicht mehr. Ein paar Minuten gönne ich mir noch, zumindest solange, bis die Schmerzmittel ihre Wirkung zeigen.

Es gibt drei Punkte auf meiner Liste: Herausfinden, wo genau ich bin. Jules aufspüren. Nach Hause gehen.

Ja, okay, den letzten Punkt versehe ich mit einem Fragezeichen. Es klingt albern, aber wenn gleich zwei Geister – Bobby und Doris – darauf bestehen, muss ich diese Tour wohl mit auf die Liste setzen.

Das Zimmer ist kalt und ich friere am ganzen Körper. Entweder liegt das am offenen Fenster oder an dem Schauer, der mir über den Rücken läuft. Alles Mögliche kann dort draußen auf mich lauern und ja, ich habe Angst.

Meine Hand liegt auf der Klinke. Ich zögere einen Moment und dann, ganz langsam, öffne ich die Tür. Zuerst nur einen Spalt. Während ich in den dahinter liegenden Flur blinzle, achte ich auf ungewöhnliche Geräusche. Wer einmal einen Zombie gehört hat, wird das niemals vergessen, denn kein anderes Wesen macht sich derart bemerkbar. Ich habe ihre Laute oft genug gehört, um zu wissen, wann ich mächtig in der Scheiße stecke.

Draußen ist es still, was mir noch mehr Sorgen macht. Was ist, wenn ich mutterseelenallein in diesem Gebäude bin und Jules unauffindbar ist?

Hör auf mit dem Blödsinn!, denke ich. Geh da raus und der Sache auf den Grund. Wann hat dir heulen je geholfen, du blöde Kuh? Keine aufmunternden Worte, aber sie erfüllen ihren Zweck und mit pochendem Herzen ziehe ich die Tür ganz auf.

Der Flur ist dunkel, einzig das Licht, das durch die geöffnete Tür fällt, erhellt ihn genug, um etwas zu sehen. Kein Blut an Wänden und Boden. Das ist ein vielversprechendes Zeichen, oder?

Dieser Ort kommt mir irgendwie bekannt vor. Das kann allerdings auch an der nichtssagenden Flur-Atmosphäre liegen, die sich nicht sonderlich von anderen Kliniken unterscheidet.

Ich sacke innerlich zusammen, überwältigt von der Größe und Stille. In der Hoffnung, einen Treppenaufgang, eine geöffnete Tür oder eine Schwesternstation zu finden, wende ich mich nach links. Hier muss es doch Menschen geben, oder von mir aus zumindest Zombies.

Mit weichen Knien taste ich mich an der Wand entlang und jedes Mal, wenn ich an einem Zimmer vorbeikomme, lege ich mein Ohr an die Tür und horche.

Anfangs fehlt mir der nötige Mumm, eine der Türen zu öffnen, und wieder frage ich mich: Was zur Hölle ist los mit mir? Ich atme tief durch und drücke die Klinke in Zeitlupe nach unten, um bloß kein Geräusch zu verursachen. Die Tür öffnet sich leicht, mein Herz hämmert in der Brust und ich werfe einen Blick ins Zimmer.

Auf dem Bett liegt ein Mann und schläft. Nein, das ist nicht ganz richtig. Er ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Ich ziehe mich zurück. Jetzt habe ich Gewissheit, dass ich nicht alleine bin, aber ich kann nicht jedes Zimmer nach Jules absuchen. Ich muss jemanden finden, der weiß, wo er sich aufhält.

Am besten gehe ich einfach los. Mein Zustand erinnert an einen fiesen Muskelkater: Man muss sich bewegen, damit es besser wird. Am Ende des Ganges wird die Wand als Stütze überflüssig.

Der Tag entwickelt sich prächtig! Wer hätte das gedacht? Ich bin ja eigentlich eher eine Pessimistin, aber offenbar habe ich mich instinktiv für die richtige Richtung entschieden. Links von mir befindet sich eine Glastür und dahinter liegt das Treppenhaus. Zunächst bin ich vorsichtig, lehne mich an das Glas und verfolge mit den Augen die steilen Stufen, die nach oben führen. Sie sind grau und kahl und reichen vermutlich bis zum Dach des Gebäudes.

Okay, Julie, dann eben den Weg nach unten.

Nie zuvor hat sich Treppensteigen derart wie Leistungssport angefühlt, aber hier gilt: Streng. Dich. An!

Mit zusammengebissenen Zähnen bahne ich mir den Weg nach unten. Ich begegne keinen Zombies. Hier sind nur ich, meine Gedanken und geknurrte Hasstiraden gegen Krankenhäuser und den Rest der Welt.

Schwitzend und zufrieden mit mir betrete ich die nächste Ebene. „Station 4“ steht in großen Buchstaben an der Wand und daneben entdecke ich endlich ein Schild mit handfesten Anhaltspunkten.

„Neurochirurgie“, lese ich laut vor. Der Pfeil zeigt nach links. Auf der anderen Seite steht: Neurologie.

Ich lag also auf der Station 5 und nein, ich werde sicher nicht die Stufen erklimmen, um herauszufinden, welche Fachabteilung für mich verantwortlich war. So wie das in meinem Leben läuft, ist es die Psychatrie.

Ich öffne die Tür und höre Schritte. Vor Schreck halte ich den Atem an und bleibe starr stehen. Mein Blick huscht von einer zur anderen Seite und da! Rechts von mir, am Ende des Ganges erkenne ich eine Gestalt. Groß und stämmig. Ein Mann?

Ich blinzle ein paar Mal und verfluche mich, dass ich ohne Waffe losgezogen bin. Mein Gott, ich habe auch gar nichts dazugelernt! Früher war ich mal so erfinderisch. Irgendetwas Brauchbares hätte ich im Zimmer bestimmt gefunden, aber nein! Das Wichtigste habe ich vergessen.

Der Fremde rührt sich genauso wenig wie ich und nachdem der Schreck sich gelegt hat, erkenne ich an ihm einen weißen Kittel und ein Klemmbrett, das unter seinem Arm steckt. Ein Arzt? Ein Pfleger? Auf jeden Fall ein Mensch, aber erfahrungsgemäß sind die Lebenden sogar noch gefährlicher als die Zombies. Ich erinnere mich nicht gerne an Grace und ihre Familie, aber die Bilder ploppen automatisch vor meinem geistigen Auge auf.

Sie waren die ersten anderen Menschen, die wir nach unserer Rettung auf der Jacht trafen, und es waren Monster, die einfach nur quälen und töten wollten.

Das ist gerade nicht hilfreich, denke ich.

Doch anstatt meiner Fantasie gerecht zu werden, hebt der Fremde seine Hand und winkt mir zu.

Bloody Julie 2.0

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