Читать книгу Bloody Julie 2.0 - Susanne Sievert - Страница 7
Die alte Dame
ОглавлениеAls ich diesmal aufwache, erkenne ich, wo ich bin – keine Verwirrung, nur ein leichtes Unbehagen.
Mein Gesicht ist zum geöffneten Fenster gewandt. Es wird langsam dunkel. Zwielicht nennt man das, der Übergang zwischen Tag und Nacht. Die kühle Luft erfrischt und ich fühle mich seltsam entspannt. Schmerzen habe ich immer noch, aber ich kann trotzdem eine gewisse Gelassenheit nicht leugnen. Es ist, als hätte Bobby etwas zurückgelassen. Ein letztes Geschenk an mich.
Ich drehe den Kopf zur Wasserflasche und entdecke einen Blumenstrauß. Wildblumen. Jemand muss in meinem Zimmer gewesen sein, während ich schlief. Die Blütenblätter haben verschiedene Farben: Blau, Lila, Gelb und Rot.
Wie hübsch. Ich mag Rot, denke ich.
„Na, Liebchen, gefallen dir die Blumen?“
Mein Kopf ruckt zur anderen Seite - Schmerz und Schreck zucken gleichzeitig durch meinen Körper.
„Vorsicht“, mahnt die Stimme, vertraut und doch nicht greifbar. „Du musst dich schonen, bis du soweit bist.“
Ich reibe über mein Auge, blinzle die Sterne weg und hoffe, dass auch dieser Besucher mir wohlgesonnen ist. Ach, warum gibt es bloß so viele Menschen, von denen ich nur das Schlimmste erwarte?
Auf einem Stuhl zu meiner Linken, auf Höhe meines Bauches, sitzt eine alte Frau. Eine Dame, um genau zu sein. Sie trägt ein weißes Baumwollkleid und um den Hals eine Kette aus Bernstein. Ihr modisch kurz geschnittenes Haar glänzt silbrig und ihre klaren blauen Augen schauen freundlich zu mir herab. Diese Frau strahlt Würde aus. Plötzlich fällt mir ein, warum sie mir so vertraut erscheint.
Bei unserem letzten Treffen saß sie an einen Baum gelehnt. Vor dem Haus meiner Eltern, kurz bevor sie versuchte, meinen Kopf platt zu treten. Die Erinnerungen ploppen wieder auf. Mein schönes Paillettenkleid, die Vorfreude auf Bobs Bar und einen erfrischenden Drink, ihre orthopädischen Schuhe auf meinen Schädel gepresst.
„Hi, Doris“, flüstere ich.
Ich kann nicht anders und schaue zu Boden und da, tatsächlich! Die orthopädischen Todestreter! Vor mir sitzt die alte Dame, die immer die scheußlichen Bilder meiner Mutter gekauft hat. Ihre einzige Kundin, wohlgemerkt.
„Oh, du erinnerst dich.“ Freudig ergreift Doris meine Hände und drückt sie einen Moment zu fest. Sie sieht mein angespanntes Gesicht und lässt mich mit einem entschuldigenden Lächeln los. „Schön, dass du wach bist. Du bist so groß geworden. Und sieh dich an. Eine Schönheit bist du auch.“
O Mann, das sagen bestimmt viele Großeltern zu ihren Enkeln.
„Tja … Na ja … Danke? Schön, dich zu sehen“, antworte ich.
Wenn ich Jules das erzähle, wird er mächtig neidisch sein. Als Zombie zu enden wäre cool? Mit Toten zu sprechen ist das nächste Level. Aber nur, wenn man weiß, dass man selber nicht dazu gehört.
„Ich vergesse niemanden, der Kuchen mitbringt“, antworte ich. „Das waren immer ganz besondere Tage für Jules und mich.“
Doris lacht.
„Jetzt wo du das sagst … Das ist mir aber unangenehm. Ich habe gar keinen Kuchen dabei. Sonntag ist immer Backtag, musst du wissen.“
„Mach dir keine Umstände, Doris.“ Ich bin ein bisschen enttäuscht. Geisterkuchen hatte ich noch nie. Das wäre mal eine Erfahrung. „Du bist hier und ich weniger allein. Wenn ich an unser letztes Treffen denke, ist dieses hier deutlich unterhaltsamer. Du warst damals ein wenig neben der Spur.“
Und stumm. Und wild entschlossen, mich zu zerstückeln.
Ich bin gespannt, ob ihr meine Andeutung etwas sagt. Soweit ich mich erinnere, war Doris der erste Mensch mit den Anzeichen der Verwandlung. Sie knurrte, grunzte und schnappte nach den Sanitätern, die ich angerufen hatte. Damals sah sie ganz anders aus. Wild und hungrig. Und jetzt? So gesittet und … normal?
„Was meinst du, Liebchen?“ Ihr Blick wandert zur Decke. Sie überlegt angestrengt und tippt sich leicht mit dem Finger ans Kinn. Nach einer Weile schüttelt sie den Kopf.
„Julie, Kindchen, unser letztes Treffen ist so lange her, da warst du noch ein Kind. Beim besten Willen, ich weiß nicht, was du meinst.“
Ein schwarzer Schatten huscht über mein Bett. Ich schreie auf, als etwas meine Decke berührt, und sehe dabei Doris’ freudig aufleuchtendes Gesicht.
„Oh, wie entzückend!“
Dieser Moment kommt mir seltsam bekannt vor. Wie ein Déjà-vu. Ich krame in meinem Gedächtnis und zaubere das Bild von Rosalie hervor – damals im Motel, als wir es uns gerade erkämpft hatten. Schwingendes blondes Haar, blaue Augen, Kaugummi kauend und auf dem Arm hält sie ein Fellknäuel. Ein kleines Kätzchen mit einem schwarz-weißen Kopf und gelben Augen. So wie dieses auf dem Schoß von Doris. Es starrt mich an, genau wie damals, kurz bevor es Rosalie das Gesicht zerkratzte. Verhalten rutsche ich auf dem Bett hin und her.
Es kann unmöglich dieselbe Katze sein, Julie, ermahne ich mich. Aber warum denn nicht? Das ist doch alles verrückt und daneben, oder? In meiner Welt ist offenbar vieles möglich.
Das Vieh hat sich zu einer Kugel zusammengerollt und schnurrt selig.
„Wie kommt eine Katze in ein Krankenhaus?“, frage ich Doris. „Es ist doch ein Krankenhaus, oder nicht?“
Bei meinen Worten hebt die Katze ihren Kopf und ich schwöre, das Mistvieh lächelt mich an! Die gelben Augen glänzen, als wolle es mir sagen, dass mir der größte Knall noch bevorsteht.
Doris’ knotige Hände liegen beschützend auf dem kleinen Körper. „Seit ich hier aufgewacht bin, ist Scratcher bei mir und leistet mir Gesellschaft. Kaum zu glauben, aber es ist eine einsame und leere Welt geworden …“
„‚Scratcher‘, ja?“, wiederhole ich.
Die Ähnlichkeit, der Name – auch wenn es unhöflich ist, fange ich an zu lachen. Scratcher, das bedeutet übersetzt „Kratzer“ und daran ist nichts witzig. Ist es Zufall? Nein, bestimmt nicht. Rosalie veränderte sich, wurde kränklich, bekam Albträume, nur weil eine Katze – diese Katze, davon bin ich völlig überzeugt – ihr das Gesicht zerkratzt hatte.
Mein Lachen bleibt mir im Hals stecken, zu gewaltig sind die Schmerzen. Tja, wie schnell man so ein Einschussloch vergessen kann.
Tadelnd schüttelt Doris den Kopf.
„Langsam, langsam, junge Dame. Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich schonen, bis du soweit bist.“
Den letzten Satz habe ich schon mal gehört und so erwartungsvoll wie ihr Blick auf mir ruht, bedeutet er etwas.
„Schon klar“, antworte ich und höre mich eher genervt und nicht dankbar an.
Ganz ehrlich, wenn ich mich noch mehr zurückhalte, bin ich tot. Auf der anderen Seite sehe ich ein, dass sie recht hat. Ich muss fit werden, und zwar so schnell wie möglich. Jules ist hier. Er wartet auf mich, so wie immer, und ich will ihn nicht enttäuschen. Es muss einen Grund geben, warum er mich noch nicht hier herausgeholt hat und ich stattdessen mit Toten spreche. Ihm ist etwas passiert.
„Warum bist du hier, Doris?“ Statt einer Antwort höre ich ein Schnurren. Der Mund der alten Dame verzieht sich zu einem Grinsen und auf einmal sieht sie nicht mehr so nett aus.
„Ich bin schon lange hier“, antwortet sie. „Ich war nie weg. Und immer allein, abgesehen von Scratcher natürlich. Du bist die Erste, mit der ich spreche.“
Ihre Stimme hat nichts Beruhigendes mehr. Sie klingt lauernd und gefährlich. Verwirrt, aber vor allem misstrauisch wünsche ich mir, dass sie wieder verschwindet. Ihr Blick verheißt nichts Gutes. Es ist wie damals, als wir vor dem Haus meiner Eltern den Starr-Wettbewerb veranstalteten, bis der Krankenwagen eintraf. Da hatte ich noch nicht begriffen, dass Doris die Apokalypse eingeläutet hatte.
Sie hat dich aber nicht angegriffen. Abgesehen von dem Kies im Gesicht ist dir nichts passiert. Und was sagte sie? Sie ist schon lange hier? Die Sanitäter haben sie damals in ein Krankenhaus gebracht. Dieses hier? Bedeutet das …?
Ich führe den Gedanken nicht zu Ende, denn Scratcher hat sich aufgesetzt und setzt zum Sprung an. Die Ohren liegen weit nach hinten und am Rücken sträubt sich sein schwarzes Fell. Es ist nur eine Katze, aber zum Teufel, ich habe eine Scheißangst!
„Hilf mir, Doris“, flehe ich und meine damit nicht nur das Vieh mit den scharfen Krallen. „Roll mich hier raus, dann suchen wir Jules. Danach bringen wir dich und … Scratcher - feine Katze! - wohin auch immer du möchtest. Okay?“
Doris’ Schultern sacken nach unten und es sieht so aus, als würde sie sich tatsächlich etwas entspannen und über meinen Vorschlag nachdenken. Scratcher tut es ihr gleich und putzt sein Fell, als wäre nichts geschehen.
O Mann, ich hasse Katzen.
„Das klingt zu schön, um wahr zu sein, Herzchen“, murmelt Doris und ich wage zu hoffen. „Wie gerne würde ich nach Hause gehen. Ich vermisse meine Katzen, meinen Garten und, ach, die Backtage. Ich habe so viele Ideen für neue Kuchen, aber …“ Sie seufzt und setzt dann wieder ihr Teufelsgrinsen auf. „Es geht nicht, Julie. Niemals. Und weißt du warum?“
Puff, die Hoffnung löst sich auf.
Mein Atem stockt, ich traue mich nicht, zu antworten, aus Angst, was danach passiert. Doris dauert die Reaktion zu lange, sie springt auf und packt mit beiden Händen meine Arme. Sie drückt zu, verdammt, viel zu fest für eine alte Dame. Aus den Augenwinkeln sehe ich etwas Haariges und Schwarzes auf der Kante meines Bettes sitzen.
Ich habe es mit zwei Gegnern zu tun, bei denen ich nicht abschätzen kann, welcher gefährlicher ist. Eine alte Frau und eine Katze. Ach, machen wir uns nichts vor: Ich habe gegen beide nicht die geringste Chance.
„Warum, habe ich gefragt?!“
Mit der Frage spuckt sie Speichel in mein Gesicht und endlich erwache ich aus meiner Starre.
„Du bist nicht echt!“, antworte ich und atme schwer. „Ein Produkt meiner Fantasie, ein Geist, ein Wunschgedanke, was weiß ich?! Du kannst nicht hier sein! Ich will doch nur zu meinem Bruder, verdammt.“
Ich glühe – wahrscheinlich habe ich Fieber. Die schlimmsten Albträume hat man doch, wenn man fiebert, oder?
O Gott, denke ich. Ging es Rosalie etwa genauso? Aber ich wurde weder gekratzt noch gebissen. Moment mal … O nein!
An meinem Arm entdeckte ich einen Verband. Mein Herz macht einen Sprung und ehe ich vollständig begreife, was sich darunter verbirgt, bringt Doris mich wieder aus dem Konzept.
„Falsch“, brüllt sie und aus ihrem Mund höre ich ein Krächzen und Gurgeln.
Spinne ich? Ich schließe die Augen und will mich wieder unter der Decke verkriechen, bis der Albtraum vorüber ist. Aber das wird nicht funktionieren. Ich hoffe einfach, dass der Scheiß bald vorbei ist.
Als ich die Augen wieder öffne, trifft mich der Schlag. Doris hat sich verändert, und zwar nicht zu ihrem Vorteil. Sie ächzt und stöhnt und genau wie Scratcher faucht sie in mein Gesicht.
Oh, Fuck, Zombie!
„Du hörst nie zu“, schnauft Zombie-Doris und mir wird übel von dem Geruch, der aus ihrem Mund strömt.
Mit einem schmatzenden Geräusch lässt sie mich los. Ich wage einen Blick auf meine gequetschten Arme und würde am liebsten schreien. Doris’ Haut hat sich gelöst und klebt in Fetzen auf meiner eigenen.
„Ich höre ja zu!“ Angewidert wische ich über das Laken. „Aber ich kapier’s nicht!“
Scratcher faucht und schreit, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Seine Laute ähneln dem Brüllen eines Babys. Bei dem Getöse fällt es mir immer schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Du bist nicht soweit!“, krächzt Doris und setzt sich wieder auf den Stuhl. Sie starrt mich an und ich begreife immer noch nicht, was ihre Ermahnungen bedeuten. „Das alles hat ein Ende, wenn du soweit bist, glaub mir. Und dann, Kindchen, dann gehst du mit deinem Bruder nach Cherryhill. Nach Hause.“
In meinem Hals bildet sich ein Kloß und Tränen verschleiern meinen Blick. Das Psycho-Drama kostet mich mehr Nerven als ein Kampf gegen einen Zombie. Ich habe keine Kraft für so was, ehrlich nicht. Niemand kann von mir verlangen, dass ich in das Höllenhaus zurückgehe. Weder mein alter Kumpel Bobby noch Zombie-Doris und schon gar nicht das Mistvieh Scratcher!
Ich schluchze leise und wünsche mir Jules an meine Seite, aber hier sind nur Doris und Scratcher und deren Plan ist es nicht, mich zu trösten.