Читать книгу Bloody Julie 2.0 - Susanne Sievert - Страница 8
Wer früher stirbt, ist länger tot
ОглавлениеEs ist an der Zeit, ein paar Fakten zusammenzutragen.
Erster und wichtigster Punkt: Ich lebe.
Direkt gefolgt von: In einem Krankenhaus, dessen Personal gekündigt und verklagt werden sollte, denn es macht einen echt beschissenen Job und schert sich offensichtlich einen Dreck um die Patienten. In diesem Fall: um mich. Andere habe ich noch nicht gesehen.
Was haben wir noch? Mein Zustand verschlechtert sich. Mit welchem Medikament ich auch immer über diesen Schlauch versorgt werde, es zeigt keine Wirkung. Ich spüre ein Reißen in der Brust, als ob sich etwas von innen nach außen wühlt und seit Scratchers Überfall brennt mein Oberarm wie verrückt.
In meinem ersten Traum hat Jules mich gebissen. Hat er das auch in Wirklichkeit getan?
Was soll’s, zu rätseln, ist anstrengend - ich bin müde und kaputt. Wie eine Barbiepuppe, der man den Kopf abgerissen hat.
„Sieh dir unser Mädchen an, Liebling. Ist sie nicht bezaubernd?“
Mein Körper versteift sich und mir bricht der Schweiß aus. Ich halte die Augen geschlossen und kneife die Beine fest zusammen, um nicht vor Angst ins Bett zu pinkeln. Die Stimme, seine Stimme, brennt in meinen Ohren und meinem Kopf und mein Herz steht kurz vor dem Kollaps.
„Bezaubernd, ja?“, höre ich sie. Spitz, abfällig, ohne Liebe. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Alles was ich sehe, ist ein jammerndes Gör, das sich auf seiner faulen Haut ausruht.“
Vielen Dank, Mutter, für deine mitfühlenden Worte.
Ich spreche es nicht laut aus. Dazu bin ich nicht in der Verfassung. Ich befürchte sogar, dass ich das Sprechen schlagartig verlernt habe. Aber ich muss mich ihnen stellen, sonst werde ich sie ewig mit mir herumtragen. Es gibt einen Grund, warum ich sie mir einbilde. Warum das Fieber mir den Endgegner schickt.
Schwitzend öffne ich die Augen und verkneife mir die Tränen. Sie zu hören ist eine Sache, aber sie zu sehen, eine andere.
Links von mir sitzt mein Vater. Er trägt seinen besten Anzug, mit passendem Hemd und Krawatte. Seine Hände liegen locker in seinem Schoß und er lächelt. Manche nennen es einnehmend - ein Lächeln, bei dem man seine weißen und geraden Zähne sieht, makellos. Aber ich weiß es besser. Dieses Lächeln ist steif, kalt und so gut eingeübt, dass er damit jeden täuscht. Seine Haare sind streng nach hinten gekämmt. Das Öl darin schimmert im Mondlicht. Obwohl es Nacht ist, sehe ich ihn deutlich vor mir.
Und dann haben wir sie. Meine Mutter, die rechts von mir sitzt und demonstrativ in die andere Richtung schaut. Ihre Arme sind vor der Brust verschränkt, ihre Nase ein klein wenig nach oben gereckt und ihre braunen Locken fallen weich auf ihre spitzen, knochigen Schultern. Sie trägt ein rotes Cocktailkleid – bereit für einen bunten Cocktail und ihre Pillen am Abend.
Meine Mutter bemüht sich sichtlich, mich nicht anzusehen, mein Vater hat dagegen keine Probleme und rutscht mit seinem Stuhl sogar ein Stück näher. Das quietschende Geräusch jagt mir eine Gänsehaut über den Körper und obwohl ich mich kaum bewegen kann, schiebe ich mich mit aller Kraft ans Kopfende und versuche, die Beine anzuwinkeln. Mir wird übel und schwindelig, aber ich gebe alles, um von ihm fortzukommen.
„Bleib weg von mir“, sage ich.
Verdammt! Er erkennt meine Angst, wie ein Wolf, der Blut wittert.
„Liebling, was ist los?“ Mein Vater beugt sich grinsend vor und legt eine Hand auf die Matratze. Wie Würmer kriechen seine Finger näher an mich heran. „Mommy und Daddy sind jetzt da.“
„Bleib weg von mir“, wiederhole ich und diesmal klingt meine Stimme entschlossener.
Weiter so, Julie. Du kannst es.
Es kostet mich einiges an Überwindung, aber ich schaue ihn an und erinnere mich dabei an den Tag, als wir die beiden verlassen haben. Jules und ich, gemeinsam. Wir hatten in diesem verfluchten Schrank gehockt und auf das Unvermeidliche gewartet, bis ich einen Entschluss fasste. Mein Vater hatte damals die kleine Tür unter der Treppe geöffnet und einen kräftigen Fußtritt zur Begrüßung erhalten. Und noch einen und noch einen. Mit jedem Tritt wurde ich sicherer und meißelte meine Entscheidung in sein Gesicht.
„Du kannst mir nichts mehr tun“, sage ich. „Ich bin erwachsen und du bist tot. Also verpiss dich!“
Meine Mutter wagt einen flüchtigen Blick in meine Richtung. Liegt da etwa Erstaunen in ihrer Miene? Ein Hauch von Bewunderung?
Meinen Vater wiederum beeindrucken die Drohungen nicht im Geringsten. Er grinst herablassend und allmählich fällt die Freundlichkeit von ihm ab. Das hat ja nicht lange gedauert.
„Ach ja? Bist du dir da ganz sicher?“ Während er mich das fragt, erreichen seine Finger meinen Fuß und ich erstarre zu Stein. Mein Mut schwindet und lässt nur die kindliche Angst zurück, die niemals ganz gewichen ist. Die Erinnerungen sind noch da und seine Berührungen wecken sie, als wäre all das erst gestern geschehen.
Mit einem kratzenden Geräusch fährt er über die Decke, streichelt meinen Knöchel, meine Wade, bis er an meinem Knie angelangt ist. Wie damals suche ich den Kontakt zu meiner Mutter, doch die schaut aus dem Fenster und wippt ungeduldig mit einem Bein. Sie will, dass es schnell vorbei ist, damit sie ihren eigenen Kram erledigen kann. So etwas wie schlafen, malen oder mich für diese Dreistigkeit verprügeln.
„Hör auf“, flüstere ich. Oder erklingen die Worte nur in meinem Kopf? Keine Ahnung.
Seine Hand streicht über mein Knie, nähert sich meinem Oberschenkel und dann passiert es.
Ich pinkle mich ein.
Einen besseren Augenblick gibt es nicht, denn genau das löst meine Starre und ich rolle mit einem kräftigen Ruck auf die Seite. Weg von meinem Vater. Raus aus dem Bett. Der Sturz zwischen die Matratze und das rollende Tischchen ist kurz und dennoch schießen drei Gedanken durch meinen Kopf, während der grüne Linoleumboden auf mich zukommt:
Er wird niemals aufhören, dich zu verletzen.
Du bist ihm scheißegal.
Er liebt dich nicht.
Der Aufprall ist lauter als vermutet. Ich falle gegen den Rolltisch, sodass Blumenvase und Wasserflasche klirrend auf dem Boden zerspringen und das Wasser in alle Richtungen spritzt. Die Kanüle wird aus meiner Hand gerissen und der metallene Infusionsständer kracht auf mich. Für einen Moment wird es dunkel und still. Ich höre meinen eigenen Atem, sonst nichts. Im nächsten Moment zerreißt ein unglaublicher Schmerz meine Brust. Jetzt wäre der perfekte Augenblick, um in Ohnmacht zu fallen. Aber einfach kann ja jeder.
Ächzend robbe ich vorwärts, über Glasscherben und Wasser hinweg, zur anderen Seite des Raums. Ich spüre die Blicke meiner Eltern auf mir und der Gedanke, dass ich mich nirgends vor ihnen verstecken kann, entlockt mir ein irres Kichern. Meine Hand berührt die Wand und ich bleibe unter dem Fenster liegen. Aufsetzen ist keine Option.
Ich ringe nach Atem, weine und kichere wie eine Bekloppte.
„Siehst du“, sage ich zum Schatten meines Vaters hinter dem Bett. Er hat sich nicht bewegt und das macht mir Hoffnung. „Du hast keine Macht über mich. Nicht mehr.“
Ich blinzle den Schweiß aus meinen Augen und erkenne, dass es an der Zeit ist, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Ich muss mich von ihnen lösen, hier und jetzt.
Meine Hand streicht über den Boden und ertastet eine Glasscherbe. Davon liegen viele um das Bett herum und diese Scherbe ist groß genug, um alles zu beenden.
Mein Vater antwortet nicht. Kunststück: Er ist verschwunden. Einfach weg. Aber sie ist noch da und wirft mir einen Blick zu, den ich nur allzu gut kenne. Ich habe sie enttäuscht.
„Na, muss ich dir helfen oder schaffst du das allein, Schätzchen?“
Meine Mutter deutet auf die Glasscherbe und mein Magen krampft sich zusammen. Ihr Zeigefinger läuft quer über ihr eigenes Handgelenk, während sie mich anstarrt und ein breites, irres Grinsen zeigt. Sie nickt mir aufmunternd zu, als gäbe es keine andere Möglichkeit für mich, aus diesem Albtraum zu fliehen. Heiße Tränen laufen über mein Gesicht und ich fühle eine Traurigkeit, die sich niemals wird lösen lassen.
Was hast du erwartet, Julie? Sei ehrlich. Was hast du verdammt noch mal erwartet?
Ich forme eine Faust, die Scherbe schneidet in mein Fleisch und dann denke ich mit einem Mal an Viva, das elfjährige Mädchen, das ich behüten möchte. Das Mädchen, das in meinen Armen Schutz sucht und so herrlich duftet. Sie riecht nach Himmel, nach Sonne, nach Wärme und nach Hoffnung. Am liebsten würde ich sie in Watte packen und einsperren, damit ihr niemand zu nahe kommt und sie verletzt. Weder Mensch noch Zombie. Aber das wird nicht funktionieren. Ich muss dafür sorgen, dass sie zäh wird – stärker, als ich es in ihrem Alter war.
Ich lasse die Scherbe fallen und höre meine Mutter verächtlich schnaufen.
„Wusste ich es doch“, sagt sie. Sie ist mal wieder wütend. „Du bekommst es alleine nicht hin. Ich habe einen Schwächling geboren. Einen richtigen Waschlappen. Aber weißt du was? Es ist mir egal, denn du bist sowieso tot. Dein Dasein ist bald zu Ende.“
Meine Mutter will mich provozieren, damit ich auf ihre Worte eingehe und ihr einen Grund liefere, mich nach Strich und Faden zu verprügeln. Doch das klappt nicht. Diesmal steige ich aus dem Spiel aus.
Ich sehe ihr ins Gesicht, halte ihrem Blick stand und denke: Mein Gott, es tut mir so leid.
All die Jahre habe ich mich gefragt, warum sie uns nicht liebt. Ich redete mir ein, dass es an uns liegen muss, weil wir anders sind - verabscheuungswürdig. Aber das stimmt nicht. Jules und ich sind nicht der Grund. Sie selbst ist es – und sie ahnt das nicht einmal.
Carla Mond, meine Mutter, hat nie diesen überwältigenden Duft gerochen. Ich erinnere mich genau, als sie mit meinem Vater aus dem Krankenhaus kam, ein Baby im Arm. Mein geliebter Jules. Ohne ein Wort legte sie den Säugling in meine dünnen Arme, stapfte die Treppe nach oben und kam eine ganze Woche nicht aus ihrem Zimmer. Ich drückte das kleine Geschöpf an mich und eine Wolke aus Unschuld, Milch und Butterkeksen umhüllte mich. Ich liebte Jules von der ersten Sekunde an, und zwar bedingungslos.
„Warum hast du uns nicht beschützt?“, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne. Aber manche Dinge müssen nun mal ausgesprochen werden.
Ihr Gesichtsausdruck wechselt schlagartig von wütend zu betroffen – geradezu schuldbewusst.
„Was willst du von mir hören, Julie?“ Sie zuckt mit den Schultern, als wäre das Antwort genug. „Natürlich habe ich es versucht. Ich bin doch keine schlechte Mutter! Ich bin zu deinem Vater gegangen und habe gesagt, dass es aufhören muss. Aber du kennst ihn ja. Er hat nicht auf mich gehört.“
Meine Mutter ist mit ihrer Aussage zufrieden und lehnt sich entspannt zurück.
Alles, was ich darauf erwidere, ist ein leises: „Ah.“
Ich entspanne mich, gebe mich dem Schmerz hin und es ist okay. Tief in mir spüre ich, dass es in Ordnung ist, auch mal erschöpft zu sein.
„Ich kann dir nicht verzeihen“, sage ich und starre an die Decke des Zimmers. „Ich kann dich auch nicht verstehen, aber eine Sache hat sich geändert, ganz klar.“
Mein Atem wird immer flacher und aus dem Brennen und Stechen in der Brust wird ein einziger, großer Schmerz.
Schon okay, denke ich und höre Bobbys Gesang im Hintergrund. Ich ergebe mich ja.
„Du tust mir leid“, hauche ich und schließe die Augen.
Ich würde ihr gerne mehr sagen, aber die Kraft verlässt mich. Dafür gehören meine letzten Gedanken nur ihr:
Ich wünsche dir eine zweite Chance, ein anderes Leben. Ein Leben voller Gerüche. Blumen und Herzen. Himmel und Sonne. Wärme und Butterkekse.
Wow, das war gar nicht so schwer. Ich lächle und dann lasse ich los.