Читать книгу Julie's Monsters - Susanne Sievert - Страница 10

Leben am Limit

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Dieser verdammte sechste Tag will einfach nicht enden. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es noch eine sehr lange Nacht wird. Mir fallen immer wieder die Augen zu, während ich an einen Balken gelehnt dasitze und gegen die Müdigkeit kämpfe. Jules und Bobby befreien die Gefangenen, schneiden die Fesseln durch und reißen das Klebeband von ihren Mündern. Sofort saugen sie gierig die frische Luft ein und die Frau beginnt erleichtert zu schluchzen und zu weinen. Ich blinzele einzelne Tränen fort und schaue in eine andere Richtung. Der Anblick ist nur schwer zu ertragen. Es ist so viel Furchtbares geschehen, dass die guten Dinge umso schmerzhafter sind.

Ich höre ein Zischen und weiß, dass es von Grace stammt, die aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht ist und mir seitdem stechende Blicke zuwirft. Sie sitzt gefesselt neben ihrer Tochter Poppy und ihrem Sohn Nico, der noch immer von Jules’ Tritt benebelt auf der Seite liegt. Marty hingegen ist tot. Hanks Kugel hat ihn in die Brust getroffen und Bobby hat ihm nachträglich noch eine weitere in den Kopf verpasst. Aus Sicherheitsgründen.

Nach wie vor hält der Zaun uns die Zombies vom Leib, doch wir wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis uns alles um die Ohren fliegt. Bei dem ganzen Lärm, den wir hier veranstalten, sind wir sicher für zahlreiche Neuankömmlinge ein schmackhaftes Ziel geworden.

„Hier, nimm.“ Judith reicht mir eine Zigarette.

Vom Heuboden aus bekomme ich Gesellschaft. Judith, Olivia und Rob sind nicht wie geplant aus dem Fenster geflohen. Sie waren die ganze Zeit in unserer Nähe und haben jedes Wort gehört. Bei ihrem Fluchtversuch ist Rob die Kette aus der Hand gerutscht und hat sich in der Dunkelheit verabschiedet. Mir liegt ein Spruch auf den Lippen, aber wer seinen Arsch nicht über den Zaun bekommt, weiß, dass es manchmal klüger ist, die Klappe zu halten.

Ob es meinem Ruf dient, dass ich einen abgetrennten Kopf aufgefangen habe? Grace wusste es immerhin zu schätzen.

Judith zündet erst mir, dann sich eine an.

„Ja, wir sind verrückt“, sagt sie, als Hank auf uns zukommt und den Mund zu einer seiner Ansprachen öffnet. „Das hier ist eine Scheune, voll mit Heu. Das willst du doch sagen Hank, richtig? Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir hier alles abfackeln. Wir werden bestimmt heute oder morgen sterben, aber nicht bei einem Feuer. Versprochen.“

Hank klappt seinen Mund wieder zu und geht zu meinem Bruder und Bobby, die aus unseren Rucksäcken Kleidung für die Opfer heraussuchen. Rob murrt etwas Unverständliches, aber Bobby bringt ihn zum Schweigen. Es ist beruhigend, dass mein alter Freund zu sich zurückgefunden hat.

Olivia sitzt bei uns und zeigt Poppy den Stinkefinger, die ihr wiederum unheimliche Luftküsschen zuwirft. Das Mädchen hat definitiv einen Schlag zu viel auf den Kopf bekommen.

„Leben am Limit.“ Judith genießt die ersten Züge und sieht mich forschend an.

Ihr Gesicht ist für meinen Geschmack zu nah an meinem und ihr schlechter Atem dringt in meine Wohlfühlzone ein. Ich möchte sie am liebsten schlagen.

„Ich könnte da gut drauf verzichten, aber zu einer Zigarette sage ich nicht nein“, antworte ich und rücke ein Stück zur Seite, weil ich Judith nicht verletzen möchte.

Sie ist immerhin meine Freundin und mein Atem riecht bestimmt auch nicht nach Pfefferminz.

Rauch füllt meine Lungen, ich huste und ziehe noch einmal an der Zigarette. Auch wenn sich alles in mir sträubt, drehe ich mich zu Grace um und betrachte ihre hasserfüllten Blicke. Ich gehöre nicht mehr zu ihrer Familie, so viel steht fest.

Was soll mit den Vieren geschehen? Lassen wir sie leben? Das würde bedeuten, dass sie sich neue Opfer suchen, sie quälen, missbrauchen und Gott weiß, was sonst noch. Monster wie diese drei hören nicht einfach auf. Nein, sie machen immer weiter, bis jemand kommt und das Ganze beendet. Sollten wir diejenigen sein, die sie töten? Können wir das?

Wir müssen, sagt eine Stimme in meinem Kopf.

Mein Blick fällt auf Poppy. Wenn wir sie tatsächlich töten, dann muss auch ich sterben. Das Mädchen ist das Ergebnis von etwas Schrecklichem, das ihre Eltern zu verantworten haben. Und die Wahrheit ist: Ich bin wie sie. Ich bin wie mein Vater. Ich bin ein Monster.

„Hey.“ Judith unterbricht meine Grübelei. „Was bedrückt dich?“

„Abgesehen von dem ganzen Scheiß hier? Oh, gar nichts“, antworte ich bissig, aber meine Freundin nimmt es mir nicht übel.

„Lügnerin. Ich weiß, was los ist.“

„Dann behalt es einfach für dich, okay?“ Meine Laune wird immer schlechter und die Angst kriecht meinen Nacken hinauf. Judith und ich kennen uns erst seit wenigen Tagen, aber sie weiß besser über mich Bescheid, als mir lieb ist.

Natürlich behält sie ihre Gedanken nicht für sich.

„Warum trage ich wohl eine Glatze?“, fragt sie und ich zucke mit den Schultern.

„Weil es dir gefällt?“

„Nein.“ Sie schüttelt lächelnd den Kopf. „Seit meiner Kindheit hasse ich Haare. Besonders meine eigenen. Ich kann nicht verstehen, wie jemand Friseur werden kann; komisch, oder? Na ja, auf den Luxus müssen wir in Zukunft sowieso verzichten.“

Das klingt nach einer Geschichte, die ich nicht hören will, aber was wäre ich für eine Freundin, wenn ich jetzt nicht für sie da bin?

„Meine Eltern trennten sich, da war ich neun Jahre alt. Ich erinnere mich nicht mehr an das Gesicht meines Vaters, aber ich sehe noch die gepackten Koffer vor mir und höre das Geräusch der zufallenden Tür, als er sich eines Morgens verpisste. Er gab mir keinen Kuss und er hinterließ keinen Brief. Es gab keine Anrufe und offensichtlich wollte er mich auch nicht wiedersehen. Er verschwand einfach und ließ meine Mutter und mich zurück.“

Judith holt tief Luft und erzählt dann weiter: „Meine Mutter trauerte und ich stützte sie in der Zeit, so gut ich es konnte. Ich gab mir die Schuld für die Trennung. Was sollte ich auch anderes denken? Ich hörte nichts von meinem Vater und der Streit fand nur zwischen den Anwälten meiner Eltern statt. Eines Tages kam ich von der Schule nach Hause und statt eines Mittagsessens fand ich eine Bürste auf dem Küchentisch. Meine Mutter wollte mein langes schwarzes Haar bürsten, sie tat es sanft und mit viel Ruhe. Ich hatte nach dem Schultag Hunger und fragte sie nach dem Mittagessen, da begann der Albtraum. Sie fing an, mich zu beleidigen, schimpfte, zog und zerrte an meinen Haaren, riss mir ganze Strähnen aus, bis sie sich endlich wieder beruhigte. Das wiederholte sich ein oder zweimal die Woche und die Grausamkeiten steigerten sich mit jeder neuen Frisur, die sie mir verpasste. Zu ihren Spielzeugen gehörte zum Beispiel eine Bürste mit spitz gefeilten Borsten, oder ein Scherenkamm und manchmal, ja, manchmal steckte sie sich einfach Nägel zwischen die Finger. Damit riss sie meine Kopfhaut auf, bis das Blut über meine Stirn und in den Nacken tropfte. Sie stellte den Föhn auf höchste Stufe und hielt ihn solange an eine bestimmte Stelle, bis ich vor Schmerzen vom Stuhl fiel. Dann gab es noch das Glätteisen, das meine Ohren verbrannte. Wenn ich Glück hatte, verprügelte sie mich nur damit.

Was glotzt du mich so an, Julie? Fragst du dich, warum ich nicht einfach weggelaufen bin? Ich hab darüber nachgedacht, ehrlich, aber sie war meine Mutter und sie brauchte mich.

Es wurde so schlimm, dass ich nicht mehr regelmäßig in die Schule gehen konnte und es dauerte knapp drei Monate, bis meine Lehrerin vor der Tür stand, zusammen mit zwei Polizisten. Der Horror war vorbei, und das so schnell, dass mir die Zeit noch immer wie ein langer, schrecklicher Albtraum vorkommt. Ich wurde in eine Pflegefamilie vermittelt und hörte nie wieder etwas von meiner Mutter. Was meinst du, war das Erste, was ich nach der Geschichte gemacht habe?“

Ich habe keinen blassen Schimmer und bin derart geschockt, dass ich keinen Ton herausbekomme.

Judith lächelt nachsichtig und erzählt: „Mit einem Messer rasierte ich mir eine schöne Glatze. Stell dir das mal vor; ein neunjähriges Mädchen mit Glatze! Mit 16 ließ ich mir das Tattoo auf dem Hinterkopf stechen. Es verdeckt die Narben.“

„Hast du je wieder von deinen Eltern gehört?“, fragt Olivia.

„Nein. Und weißt du was? Das ist auch gut so. Ich erinnere mich nur an ein Foto, das mir die Polizei später mit ein paar anderen Sachen gab. Es war ein Schnappschuss meines Vaters mit einer jungen Frau. Sie hatte auffallend lange schwarze Haare.“

Judith wendet sich an mich und greift nach meiner Hand. Mein Herz rast, aber ich lasse es zu und ziehe die Hand nicht zurück.

„Ich will dich nicht mit Geschichten aus meiner Kindheit langweilen, Julie. Ich sehe, dass du auch nicht auf rosa Einhörnern geritten bist. Du weißt genau, wovon ich spreche. Ich möchte dir damit nur sagen, dass nur du allein entscheiden kannst, was aus dir wird. Nur du entscheidest dich für links oder rechts, weiß oder schwarz, gut oder böse. Du bist kein Monster, weil andere es dir sagen. Du bist erst ein Monster, wenn du dich wie eines verhältst. Und ich sage dir noch was, Julie Mond: Du bist ein guter Mensch mit vielen Macken. Eigensinnig, vorlaut, stur, eine Frau mit Ecken und Kanten. Kein Monster. Du gehörst zu uns. Und weil ich eine gute Freundin bin, werde ich dir auch beibringen, wie man über einen Zaun klettert.“

„Mann, das wird mir ewig nachhängen.“

Ich lache wie eine Krähe und fasse mir an den Hals, den Nico kurz zuvor noch zusammengequetscht hat. Tränen laufen über meine Wangen. Schuld daran muss die Müdigkeit sein. Ich hasse es, zu weinen.

Zwei Arme legen sich um meine Schultern und ich rieche Olivias süßen Duft. Sie hält mich in einem Moment, in dem ich zu zerbrechen fürchte. Ihre Berührungen sind die einzigen, die mich nicht bedrängen, nein, sie fügen die Scherben meines Lebens wieder zusammen.

Im Hintergrund höre ich Poppys irres Kichern. Sie kann diesen Moment nicht zerstören, denn er gehört ganz allein uns. Der Teufel wird sich bestimmt gerne um die Familie kümmern. Früher oder später.

„Was hast du danach gemacht?“, will ich von Judith wissen.

„Ich war mal hier, mal dort“, antwortet sie und drückt die Zigarette aus. „Irgendwann traf ich Bob und bin bei ihm geblieben. Kurz darauf bist du aufgetaucht und die Apokalypse nahm ihren Lauf.“

„Tut mir echt schrecklich leid, dass ich euer Mädchengespräch beenden muss.“ Jules steht vor uns und deutet auf die Party hinter seinen Rücken.

Bobby und Rob reden mit den Fremden, die mittlerweile etwas Passendes zum Anziehen gefunden haben.

„Wir müssen mit den Opfern sprechen und entscheiden, was mit den Arschlöchern hier passieren soll“, sagt er ernst und in mir zieht sich alles zusammen.

Mit den Opfern sprechen? Ich bin doch kein Psychologe. Ich müsste selbst mal einen Termin vereinbaren. Erst recht nach dem Gespräch mit Judith. Ihre Geschichte hat mich völlig zerrüttet.

„Muss das sein?“ Der Versuch, mich aus der Affäre zu ziehen, scheitert kläglich.

„Das ist eine Entscheidung, die uns alle betrifft“, ist alles, was Jules antwortet.

Ich stelle mich seufzend dem Unvermeidlichen und frage mich, ob ich überhaupt wissen möchte, was die Fremden zu berichten haben. Die letzten Stunden müssen für sie eine Tortur gewesen sein und die Zukunft verspricht keine Besserung.

Bobby klopft mir aufmunternd auf die Schulter.

„Danke“, flüstert er mir zu. „Und sorry. Wir wollten dich nicht ins Lächerliche ziehen, Julie. Du warst sehr mutig vorhin. Deshalb: Danke. Ich weiß, dass du für uns deinen Kopf hingehalten hast. Oder soll ich aufgefangen sagen? Denk an meine Worte, Püppi: Nur die guten Dinge bekommen einen Namen.“

Er zwinkert mir zu und ich verzeihe ihm sofort. Wie konnte ich nur so blöd sein und glauben, die beiden machen sich einen Spaß mit mir? Ich sollte aufhören, alles auf die Goldwaage zu legen. Na ja, Zombies, Verrückte, Schlafmangel und schlechte Hygiene verändern wohl jeden Menschen.

„Entschuldigung angenommen“, sage ich lächelnd und werde im nächsten Moment von einem schluchzenden Etwas umarmt.

Mein Hals schnürt sich zu und ich bekomme keine Luft mehr, während ich in meiner Panik gegen jemanden ankämpfe, der nach Schweiß und Urin riecht. Ich fühle mich derart abgekämpft, dass ich mich nicht ohne Weiteres befreien kann und so versetze ich meinem Gegner eine schwungvolle Kopfnuss. Der Griff wird locker und ich rutsche, mit Sternen vor den Augen, in Bobbys Arme.

„Sorry, ich hätte euch vorwarnen sollen“, höre ich Jules und blicke auf.

Vor mir sitzt die fremde Frau und reibt sich mit zusammengebissenen Zähnen die Stirn. Da habe ich einen Volltreffer gelandet. Autsch.

„Was sollte das?“, blaffe ich.

Ja, sie ist ein Opfer und hat viel Schlimmes erlebt, aber das gibt ihr noch lange nicht das Recht, mir an den verdammten Hals zu springen! Hat sie denn überhaupt nicht dazugelernt?

„Es tut mir leid“, stammelt mein Gegenüber und blickt zu ihrem Partner auf.

„Wir möchten uns nur bei euch bedanken.“ Er kommt auf mich zu und ich bin bereit, eine weitere Kopfnuss auszuteilen.

Entgegen meinen Erwartungen reicht er mir die Hand. Ich schäme mich ein wenig.

Julie Mond, wie war das noch gleich mit deinen guten Vorsätzen?

„Das ist Rosalie und ich bin Nolan.“ Wir schütteln uns die Hände. „Vielen Dank. Für alles.“

Mir gefallen Menschen mit einem festen Händedruck und Nolan gibt sich alle Mühe. Seine Haut ist rau und ich spüre Hornhaut auf seiner Handinnenfläche.

Was soll ich antworten? Kein Problem? Gern geschehen? Bringt mich nicht noch einmal in so eine abgefuckte Situation?

Ich nicke. Für mich ist alles geklärt.

Dann betrachte ich Nolan genauer, obwohl es gegen meine Prinzipien verstößt. Unsere Wege werden sich trennen, das ist unausweichlich, aber ich möchte ein Auge mehr auf ihn werfen und mich später daran erinnern, zwei Menschen das Leben gerettet zu haben. Diese gute Tat wird mir über die nächste Lebenskrise helfen. Hoffentlich.

Nolan trägt einen Bart, der ihn ein paar Jahre älter macht, und im Licht der Öllampen sehe ich einen rötlichen Schimmer in seinem braunen Haar. Er sieht genauso kraftlos aus, wie ich mich fühle, aber in seinem Blick liegt eine Entschlossenheit, die mir gefällt. Ich schätze, vor mir steht ein Mann, der sich von den Zombies nicht den Arsch versohlen lässt. Von meinem Bruder hat Nolan ein Hemd und eine Jeans bekommen, die ihm eine Nummer zu groß sein müssen.

Rosalie hat langes blondes Haar und in ihrem schmutzigen Gesicht sehe ich blaue, schreckensweit geöffnete Augen.

Rosalie und Nolan, diese Namen werde ich mir merken.

Judith und Olivia stellen sich als letzte Mitglieder unserer Gruppe vor und das darauffolgende bedrückte Schweigen wird nur von Poppys Glucksen durchbrochen. Es steht eine Entscheidung bevor, die keiner von uns treffen möchte.

„Was werdet ihr mit … denen machen?“, fragt Rosalie und deutet auf Grace und ihre Familie.

Ihr ausgestreckter Zeigefinger zeigt durch mich hindurch und allein diese Geste trifft ungewollt auf einen Nerv, rollt die Wut erneut auf. Als Kinder haben Jules und ich oft auf Menschen, Tiere und Gegenstände gezeigt. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil wir etwas Neues und Interessantes gesehen hatten. Wie oft haben wir einen Klaps auf die Hände bekommen? Wie oft wurden wir dafür in den Schrank gesperrt? Wie lange mussten wir Hunger leiden? Und Durst? Und das alles wegen eines ausgestreckten Zeigefingers?

Eins, zwei, drei. Ich atme tief durch, schaue in die andere Richtung und zu Grace, die belustigt meinen Blick auffängt. Ihr Kopf wippt auf und ab, als wüsste sie, was in mir vorgeht.

Verdammte Hexe!

Wir?“, halte ich dagegen.

„Gar nichts“, sagt Jules. Er stellt sich zwischen uns, denn er erkennt am Klang meiner Stimme, dass ich alles andere als begeistert von Rosalie bin. „Wir brechen morgen früh auf und lassen sie zurück. Die Zombies erledigen den Rest.“

Er sieht mich an und ich spüre, was Jules in Wahrheit sagen möchte: Es geht kein weiteres Leben auf unser Konto.

„Das könnt ihr nicht machen!“, schreit Rosalie und ich zucke vor Schreck zusammen. Wer hätte gedacht, dass aus solch einer zarten Person solch ein Stimmchen ertönt. „Ihr müsst sie töten! Sie werden uns verfolgen. Ihr habt ja keine Ahnung! Nolan, sag es ihnen. Sag es ihnen!“

„Hör auf, Rose.“ Tröstend nimmt er sie in die Arme. „Es ist vorbei.“

Ja, und zwar genau solange, bis wir auf die nächste Gruppe Lebende treffen. Es ist kein Geheimnis: Der Mensch will immer das haben, was andere besitzen. Seit die Zombies da sind, verschwimmen die Grenzen und es gibt keine Regeln mehr. Alles ist möglich.

„Ich finde, wir sollten abstimmen.“ Rob tritt vor und streicht sich über den runden Bauch.

Hank wirft mir einen besorgten Blick zu und ich zucke mit den Schultern. Ich habe eine ganz andere Idee.

„Abstimmen?“, fragt Bobby und hält Ester locker in beiden Händen.

Der König der Arschlöcher zeigt sich unbeeindruckt.

„Hörst du schlecht, alter Mann? Wir stimmen ab! Wer dafür ist, die Familie abzuknallen, hebt die Hand. Die Mehrheit gewinnt und das Problem ist gelöst.“

„Ist das ein Witz?“, fragt Judith, während ich mich von der Gruppe entferne. „Du willst, dass wir über das Leben dieser Menschen abstimmen? Wer gibt dir das Recht dazu?“

„Die verkackte Welt, Judith!“ Rob wird immer lauter, er redet sich in Rage. „Weiß du was? Warum diskutieren wir überhaupt über das Leben der drei Idioten? Machen wir es doch wie Jules und ballern denen einfach eine Kugel in den Kopf! Oder wie Hank, der den hier über den Haufen geschossen hat. Wenn wir sie nicht töten, dann töten sie uns. So läuft das und nicht anders.“

„Wir haben kein Recht, über Leben und Tod zu entscheiden“, ertönt Hanks Stimme. „Ich habe geschossen, um Julie zu retten.“

„Und das macht dich zum Helden?“ Rob lacht. „Du kannst es drehen und wenden wie du willst, halbes Hemd, aber es macht dich zu einem Mörder. Ganz gleich, was deine Absichten waren.“

Ich entferne mich immer weiter von dem Stimmengewirr der sechs Menschen und bleibe vor dem abgetrennten Kopf namens Howard stehen. Mit dem Fuß drehe ich ihn um, sodass ich das Gesicht sehen kann. Seine Augen sind grau, der Mund ist zu einem stummen Schrei aufgerissen und an der Schläfe entdecke ich die Wunde, die sein Zombiedasein beendet hat. Ich greife nach dem Haarschopf, stelle mich vor Grace und lasse Howard in ihren Schoß fallen.

„Danke, Liebchen“, sagt sie, ohne die Beherrschung zu verlieren. „Wie schade. Ich habe dich bereits in unserer Familie gesehen. Du hast solches Talent. Aber deine Entscheidung ist gefallen und ich bedauere es sehr. Oh, sieh nur Poppy, die Abstimmung ist in eine hitzige Debatte ausgeartet.“ Sie zwinkert mir zu und flüstert: „Und? Verrate es mir, wie hast du gestimmt?“

„Ja“, äfft Poppy nach, „wie hast du gestimmt?“

„Wenn wir ganz ehrlich zueinander sind“, antworte ich, „hat Howard uns längst die Entscheidung abgenommen. Du hast den Test bestanden, Grace.“

„Hat er dir keinen Schrecken eingejagt, Julie?“ Poppy bückt sich nach vorn, aber die Fesseln halten sie zurück.

Sie spricht meinen Namen mit kindlicher Stimme aus und es tut weh. Denn das ist sie: ein Kind. Sollte Rob tatsächlich so skrupellos sein? Ach komm, Julie, das weißt du doch am besten.

„Er ist ein böser Mann“, flüstert Poppy.

Grace wirft ihr einen kalten Blick zu und ihre Tochter verstummt.

„Oh nein, nein, nein.“ Grace schüttelt den Kopf und ihre grauen Haare flattern hin und her. „Wir reden nicht über Howard. Nein, niemals.“

„Ich will es auch nicht wissen“, sage ich.

Es gibt so viele Dinge, über die ich ebenfalls nicht sprechen möchte. Sie verfolgen mich jeden Tag und jede Nacht. Was ist, wenn ich nie die Kraft finde, sie auszusprechen? Bleiben die Albträume dann für immer?

„Ich will euch nicht töten.“ Meine Stimme ist belegt. „Aber ich will auch nicht, dass ihr uns im Schlaf erstickt. Es muss eine Lösung geben, ohne dass jemand aus unseren Familien sein Leben verliert.“

„Ahhhh …“ Graces Augen werden groß und glasig. „Das klingt in meinen Ohren nach einem vernünftigen Abkommen, Herzchen.“

Bevor ich antworten kann, sehe ich aus dem Augenwinkel Rob. Mit roten Backen und Speichel am Mund stößt er mich zur Seite, greift zu seinem Holster und zieht eine Waffe.

Ich schreie „NEIN!“, aber da spritzt nach einem lauten Knall Poppys Hirnmasse aus ihrem Hinterkopf und verteilt sich in grauen Stücken im Heu. Ein zweiter Schuss ertönt und trifft Nico, der bewusstlos und ohne Schmerzen den Tod findet. Rob hebt die Waffe an, schwitzend und prustend wie ein alter Bulle, zielt auf Grace und gerade, als ich mich auf ihn stürzen will, feuert er ein letztes Mal. Ein roter Schleier legt sich auf mein Gesicht. Ich wische mir das Blut aus den Augen und blinzle auf Graces Leichnam hinab.

In meinem Kopf höre ich ihre Stimme flüstern und kann die Tränen nicht länger zurückhalten: „Das hast du nicht kommen sehen, Herzchen, oder? Böse Menschen verdienen ein böses Ende.“

„Erledigt.“ Robs Stimme klingt stumpf in meinen Ohren. Da verliere ich die Beherrschung.

Julie's Monsters

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