Читать книгу Julie's Monsters - Susanne Sievert - Страница 9
Monster
ОглавлениеAls draußen Schüsse fallen, bin ich sofort wach. Es muss mitten in der Nacht sein, die Öllampe ist erloschen und ich sehe gar nichts. Mein Herz klopft und das Blut rauscht in meinen Ohren. Mein erster Gedanke gilt Jules und dann Bob, die sich noch unten befinden. Olivia sitzt ebenfalls aufrecht und ich streichle ihr beruhigend über das Haar.
„Sei leise“, flüstere ich.
Es ist nicht nötig, dem Mädchen Anweisungen zu geben, das war es noch nie. Olivia wusste schon immer, was in gefährlichen Situationen zu tun ist. Und wer sagt, dass wir uns in einer gefährlichen Situation befinden? Mein Bauchgefühl natürlich. Ätzend.
„Psst, Julie.“ Hank rückt nah an uns heran. „Hast du das auch gehört?“
„Es war nicht zu überhören, Schlaumeier“, antwortet Rob aus der Dunkelheit und bringt meinen Magen wieder dazu, sich zu verknoten.
Erschreckend, wie viel Macht dieser Mann noch immer über mich besitzt.
Er ist nicht das Schlimmste, versuche ich, mir einzureden. Aber die Wunden sitzen tief und dass sie je verheilen werden, ist sehr unwahrscheinlich.
Erst wenn er tot ist, wispert ein dünnes Stimmchen und ich nicke. Ja, erst wenn er tot ist.
Die Stimmen hinter dem Tor werden lauter und mit einem knarrenden Geräusch öffnet sich der Eingang zur Scheune. Mein Herz bleibt kurz stehen, ich kneife die Augen zusammen und hoffe, dass Jules und Bobby sich bedeckt halten.
„Pa? Bist du hier? Wir haben dir was mitgebracht. Es wird dir gefallen. Pa?“
Keine Antwort und mir dämmert auch so langsam, warum. Pa liegt unter einem Berg aus Heu, mit einem roten Loch im Kopf.
„Scheiße“, zischt Judith kaum hörbar und zusammen robben wir zum Rand des Bodens.
Öllampen werden angezündet und jetzt sehen wir, dass Pas Familie nach Hause gekommen ist. Eine Frau mit grauem Haar geht um den Traktor herum. Sie hält etwas Rundes im Arm. Einen Ball?
Als sie ins Licht tritt, sehe ich, dass der Ball Haare, Augen, Nase und Mund besitzt. Judith schlägt die Hände vor das Gesicht und ich gehe sicher, dass Rob, Hank und Olivia hinter uns bleiben. Wenn sie davon erfahren, bricht hier oben die Hölle los. Hank wirft mir einen fragenden Blick zu und ich schüttle vor Schreck nur den Kopf.
Neben der Frau stehen zwei junge Männer und ein Mädchen, das nicht viel älter als Olivia sein dürfte. Mein Gefühl sagt mir, dass sie ganz bestimmt keine Freundinnen werden. Das werde ich zu verhindern wissen.
Die Männer halten jeweils ein Seil in der Hand und was sie da hinter sich her zerren, dreht mir den Magen um. Am Ende der Seile, an Händen und Füßen gefesselt, stehen ein Mann und eine Frau – beide nackt und zitternd. Ihre Münder sind zugeklebt und nur ein dumpfes Wimmern und Keuchen dringt unter dem Klebeband hervor. Der Schweiß läuft wie Öl an ihren Körpern herab und sie glänzen im Schein der Lampe.
„Heilige Scheiße“, flüstere ich und robbe zu den anderen zurück.
Ich schwitze und unterdrücke ein Würgen. Meine Zunge ist dick und pelzig und selbst ein Schluck Alkohol kann mir hier nicht helfen.
„Was ist los?“, fragt Rob. Mit einem Klaps auf die Schulter bringt Judith ihn zum Schweigen.
Wir halten einen Moment die Luft an und lauschen nach unten, aber die Leute sind so sehr mit ihrem Fang beschäftigt, dass sie uns noch nicht bemerkt haben. Großer Gott, lass das bitte nicht geschehen!
Wir müssen hier raus, so viel steht fest, aber wie holen wir Jules und Bob aus der Klemme? Die Familie lädt uns bestimmt nicht zum Kaffee ein. Ich bin mir sicher, dass sie gänzlich andere Pläne verfolgen.
Mein Blick irrt über den Heuboden und bleibt an einem Fenster hängen. Natürlich!
Ich bedeute den anderen, dicht zusammenzurücken.
„Wir müssen abhauen, und zwar schnell und leise. Das ist die Familie von dem toten Kerl und sie werden nicht glücklich sein, wenn sie Daddys leblosen Körper finden.“ Ich verschweige zunächst die Gefangenen. Der detaillierte Bericht muss bis später warten. „Ihr haut durch das Fenster ab.“
„Was heißt denn ihr? Was ist mit dir?“, will Hank wissen.
„Jules und Bob sind noch unten. Ich muss sie irgendwie hier rausschaffen. Glaubt mir, mit diesen Leuten werden wir nicht reden können.“ Judith bestätigt das mit einem heftigen Nicken. „Bringt Olivia heil nach unten und wartet draußen auf uns.“
„Es ist viel zu hoch“, wirft Judith ein. „Und außerdem habe ich keinen Bock mehr auf deine One-Man-Show, Julie Mond! Wir hängen zusammen hier drin und kommen zusammen wieder raus.“
„Du hast recht“, sage ich und schaue in ihr verdutztes Gesicht. „Hank bleibt bei mir. Du kümmerst dich um Olivia. Ich vertraue dir, dass ihr nichts zustößt.“
Mein Blick fällt auf Rob und sie weiß, wovon ich spreche.
„Okay“, antwortet Judith. „Aber wie soll es denn gehen? Wir brechen uns die Beine, wenn wir runterspringen, und an der Fassade zu klettern ist unmöglich. Viel zu glatt.“
„Hinten liegt eine Kette. Die kann ich am Fenster befestigen und wir seilen uns ab.“ Der erste vernünftige Kommentar von Rob. Ich bin begeistert.
„Das ist viel zu laut“, wendet Hank ein.
„Da kommen wir ins Spiel, mein Freund“, sage ich. „Wir lenken die Gesellschaft unten ab, so können die drei unbemerkt verschwinden.“
„Was ist mit Jules und Bob?“, fragt er weiter.
Ich zucke mit den Schultern: „Das wird sich zeigen. Je nachdem, wie es läuft.“
„Je nachdem, wie es läuft? Das ist der ganze Plan? Julie, das sollten wir besser durchdenken. Vielleicht sind die beiden auch schon weg.“
„Ohne uns mitzunehmen? Niemals.“ Ich fasse Hank bei den Schultern. „Wir müssen es versuchen. Bitte. Ich brauche deine Rückendeckung. Wir wissen nicht, was das für Menschen sind, aber der erste Eindruck war nicht gerade vielversprechend. Die alte Lady trägt einen abgetrennten Kopf im Arm. Einen Kopf, Hank!“
Mir wird plötzlich heiß und kalt zugleich. Was ist, wenn … Ein Kreischen lässt uns zusammenzucken und ich fluche innerlich. Sie haben die Blutlache entdeckt. Jetzt bleibt uns keine Zeit mehr. Sie werden alles durchsuchen, uns finden und ich will nicht wissen, was dann mit uns geschieht.
Olivias große braune Augen beobachten mich voller Schrecken. Sie ist so ein tapferes Mädchen und hat diese Scheiße nicht verdient. Niemand hat das. Abgesehen von Rob versteht sich, dem ich einen Zombiebiss durchaus gönne. Ich muss improvisieren, um meinen Freunden wenigstens eine Chance zu ermöglichen.
„Los geht’s“, sage ich und bevor die Gruppe bemerkt, worauf ich hinauswill, stehe ich auf und gehe zur Leiter.
„Oh, wow. Guten Morgen“, rufe ich von oben und gewinne sofort die Aufmerksamkeit der Familie unten. „Ist der Kaffee schon fertig oder kann ich mich noch eine Weile hinlegen?“
„Julie, bist du verrückt?“, höre ich Hank in meinem Rücken, drehe mich aber nicht um.
Ja, das ist doch nichts Neues, Hanky Boy.
Die beiden Kerle glotzen dümmlich und mit offenem Mund zu mir herauf und die Gefangenen beginnen heftig zu zittern. Sie schnaufen und der Rotz läuft ihnen die Nase hinunter. Der Mann will mir offensichtlich etwas mitteilen, die Frau fängt an zu weinen.
Ich stecke tief in der Scheiße, diese Information ist bereits bei mir angekommen, vielen Dank. Die alte Lady tritt vor und streichelt versonnen den abgetrennten Kopf. Jemand muss ihr dringend erzählen, dass es sich hier nicht um eine kuschelige Katze handelt.
„Guten Morgen“, sagt sie und klingt erschreckend normal.
Wer einen Kopf im Arm hält, sollte doch zumindest ein bisschen wie der Teufel klingen, oder? „Möchtest du zu uns kommen?“
„Puh, nein, eigentlich nicht“, antworte ich und versuche lässig zu wirken. In Wahrheit spielen meine Gedanken verrückt.
Bleib stark, Julie. Stell dir vor, sie ist dein Vater. Wie damals, weißt du noch? Jules hatte solchen Hunger und du hattest eine Wurst für ihn aus dem Kühlschrank geklaut. Mann, war der alte Herr wütend, als er die fehlende Wurst bemerkte. Wer sollte denn auch ahnen, dass alle Lebensmittel nummeriert waren? Du hast dich ihm entgegengestellt, hast deine Angst runtergeschluckt und gelogen, bis du deine eigene Lüge glaubtest. Du hast zwar trotzdem Schläge einstecken müssen, aber nicht wegen der Wurst.
Das kannst du jetzt auch. Zeig keine Angst.
Die Angst tötet dich.
„Mädchen, bist du allein?“ Ihre Stimme holt mich zurück in die Gegenwart. „Ach, komm runter, Herzchen. So führt man doch keine Unterhaltung. Ich kann dich besser verstehen, wenn wir uns in die Augen sehen und du schuldest mir ein paar Antworten. Das siehst du doch ein, oder?“
Sie deutet auf die Blutlache und meine Kehle wird trocken. Ich huste ein-, zweimal und nicke. Da ich das Spiel angefangen habe, komme ich ohnehin nicht drum herum. Hinter mir wird es unruhig, als ich die Leiter umfasse, um rückwärts hinunterzusteigen. Ich schaue jeden Einzelnen an und jeder von ihnen weiß, dass es kein Zurück gibt. Rob reicht Hank eine Waffe und ich bete, dass Hanky Boy ein guter Schütze ist.
Unten angekommen, läuft die Fremde sofort auf mich zu, aber ich strecke die Arme aus und rufe: „Immer mit der Ruhe, Lady! Die Kennenlernphase ist noch nicht vorbei. Abstand halten, verstanden?“
Aus der Nähe betrachtet, sieht meine Lage auch nicht viel besser aus. Das Mädchen ist mittlerweile auf den Traktor geklettert und spielt mit ihren verfilzten schwarzen Haaren. Ich hoffe, sie kann von dort oben nichts sehen oder hören. Momentan bin ich noch das Ziel und es gefällt mir überhaupt nicht, wie sie mich fixiert. In ihren Augen erkenne ich einen Hunger, den ich bisher nur bei den Zombies gesehen habe. Die beiden Kerle wenden ihre Blicke auch nicht von mir ab, aber was sich in deren Gedanken abspielt, ist geradezu offensichtlich.
Mein Blick schweift an der Familie vorbei, über die Boxen, auf der Suche nach einem Hinweis oder einer Bewegung. Ein Zeichen vielleicht? Kommt schon, irgendein Zeichen? Sollte Hank recht behalten, haben Jules und Bob sich rechtzeitig geflüchtet? Wenn ja, wartet eine Menge Ärger auf die beiden. Ich nehme nur ungern das Risiko der Konfrontation mit einer durchgeknallten Familie auf mich. Die Erfahrung kann ich bereits von meiner Lebensliste streichen.
„Na schön“, erwidert die grauhaarige Frau und ein Grinsen stiehlt sich auf ihr Gesicht. Endlich, ein Zeichen, dass doch ein kleiner Teufel in ihr wohnt. „So verfahren wir normalerweise nicht, aber ich finde dich interessant.“
„Sie ist witzig, Ma“, ruft das Mädchen vom Traktor und kichert.
Oh je, sie ist die Erste, die das von mir behauptet. Ich lache nervös und weiß nicht, was ich sagen soll.
„Wie fange ich am besten an? Ja, wir stellen uns vor. Entspricht das deinem Wunsch?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, spricht sie weiter: „Darf ich dir meine beiden Jungs vorstellen? Das sind Marty und Nico. Zwei gut aussehende Burschen, nicht wahr?“
Um ehrlich zu sein, sehe ich nur zwei zu groß geratene Schweine vor mir, die mit einem abartigen Grinsen ihre eindeutigen Absichten unterstreichen. Ein beißender Geruch geht von den beiden Männern aus und aus ihren Mündern ragen graue, faulige Zähne, die ganz sicher bereits vor der Apokalypse vernachlässigt wurden.
Mit einem Satz springt das Mädchen vom Traktor und stellt sich zu den beiden Männern, die gerade damit beschäftigt sind, die Gefangenen an einen Holzbalken zu fesseln. Die Nackten erbitten stumm meine Hilfe und ich fühle einen riesigen Klumpen Mist in meinem Magen. So gerne ich ihnen helfen möchte, Jules und Bob stehen an erster Stelle. Genauso wie meine Freunde auf dem Heuboden und Hank, der mir hoffentlich im richtigen Moment Rückendeckung gibt.
Es tut mir leid, aber ich muss an meine Gruppe denken.
„Ich bin Poppy“, sagt das Mädchen und zeigt auf sich und dann auf Marty und Nico, „und das sind meine Brüder. Du siehst kacke aus. Hat dir das mal jemand gesagt? Was ist das da auf deinem Hemd?“
Ich schaue an mir herab und sage: „Das ist Blut und eine Menge Zombieschleim. Sorry, das bekommt man ganz schlecht raus. Hier gibt es nicht zufällig eine Waschmaschine?“
Mein Herz rast und ich tadle mich selbst: Julie, reiß dich zusammen. Du und dein loses Mundwerk!
Poppy lacht und kommt näher. Mit einem Finger zeigt sie auf mein Gesicht. Dem Mädchen hat die Mutter kein Benehmen beigebracht.
„Deine Nase ist voll krumm und was ist mit deinem Mund passiert?“
Unbewusst fasse ich an mein Gesicht und denke an den Moment, als ich mir selbst ein halbes Lächeln geschnitzt habe. Ich sehe Ruby vor mir und Hank, der um das Leben seiner Liebsten kämpfte, obwohl ein Biss sie längst entstellt hatte. Mir wird kalt und mit der Kälte verschwindet die Angst. Alles, was bleibt, ist meine Wut und ich heiße sie herzlich willkommen.
„Das ist eine lange Geschichte“, antworte ich und kann das Zittern nicht aus meiner Stimme verscheuchen.
Diese Leute denken, sie könnten mich beeindrucken, aber es gibt nur wenig, was mich tatsächlich noch überrascht. Ich habe alles erlebt und kann alles ertragen.
„Bist du dumm oder so?“, fragt Poppy und bringt mich wieder zum Lächeln.
Nein, Lebensmüde. Definitiv Lebensmüde.
„Ach, halt doch dein blödes Maul!“ Ohne Vorwarnung schlägt die alte Lady Poppy ins Gesicht.
Die fällt rückwärts auf den Po. Blut läuft aus ihrem Mund. Trotz der Schmerzen grinst Poppy und zeigt mir ihre blutig roten Zähne.
„Das Mädchen redet zu viel“, entschuldigt sich die Frau.
Sie reicht mir ihre Hand, aber ich lehne ab. Nicht nur, weil die Berührungen von Fremden mich ängstigen, sondern auch, weil sie in meinen Augen bereits tot ist. Sie zieht die Hand zurück.
„Ich bin Grace und wer bist du, Herzchen?“
Grace? Ist das ihr verdammter Ernst?
„Julie“, antworte ich und füge etwas lauter, damit auch Jules und Bob mich hören können, hinzu: „Julie Mond.“
Scheiße, wo sind sie und was dauert da oben so lange?
Grace wendet sich an ihre Kinder: „War das so richtig? Sind das die ersten Schritte, um sich kennenzulernen? Wie amüsant! Entschuldige, Julie, aber es ist ewig her, dass wir uns die Mühe gemacht haben, eine richtige Unterhaltung zu führen.“
Einer ihrer Söhne antwortet, Marty oder Nico, wer auch immer: „Ja, normalerweise stopfen wir allen das dämliche Maul und haben dann unseren Spaß.“
„Genau“, grunzt das andere Schwein. „Unseren Spaß.“
Wie auf Kommando befassen sich die Brüder mit den Gefangenen und beginnen, deren Körper abzutasten. Sie streicheln, kneifen und lecken über die ölige Haut. Ein bitterer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus und ich weiß nicht, wohin ich schauen soll. Die Wut wirbelt meine Gedanken durcheinander.
Bleib ruhig, Julie. Bleib ruhig!
„Ich fühle mich geschmeichelt, ehrlich.“ Ich schlucke die ersten Brocken Erbrochenes runter. Hank, wo bist du?! „Dann muss ich ja etwas ganz Besonderes sein.“
„Ich bin mir noch nicht sicher.“ Graces Augen verdunkeln sich und im Hintergrund höre ich gedämpfte Schreie. „Es kommt ganz darauf an.“
„Worauf?“, will ich wissen.
Was für eine selten dämliche Frage, Julie! Du weißt genau, wohin das hier führen wird.
„Hier, halt mal.“
Während Grace spricht, sehe ich einen Kopf auf mich zufliegen und fange ihn auf.
„Gut gemacht.“ Sie applaudiert. „Du hast Howard gefangen. Wir töten niemanden, der Howard fängt. Du hast recht, Julie Mond. Du bist etwas Besonderes. Ich habe es gleich an deinen kalten Augen gesehen. Du gehörst zu uns.“
Ich habe die Worte noch nicht ganz verarbeitet, da erklingt Kettengerassel vom Heuboden. Alle Augenpaare sind nun nach oben gerichtet und es wird still.
Der Kopf liegt schwer in meinen Händen. Das verfaulte Ding stinkt und ich will es mir nicht genauer ansehen. Was sagte Grace? Ich gehöre zu denen, wegen meiner kalten Augen? Was mache ich hier eigentlich? Ich unterhalte mich mit Verrückten, suche Jules und Bob und warte auf Hank. Es läuft nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Nein, ganz und gar nicht.
Du gehörst zu uns.
Weil ich ein Monster bin? Wartet nur ab. Ich zeige euch ein Monster.
„Du denkst, ich wäre wie ihr?“, brülle ich, wütend über die Worte der verknitterten Hexe.
Wütend auf Poppy und ihre dummen, unverschämten Fragen. Wütend auf die perversen Schweine, die sich über wehrlose Opfer hermachen, sie misshandeln und beschmutzen. Und ja, wütend über das scheiß tote Ding, das ich in Händen halte, obwohl ich es nicht einmal fangen wollte. Ich will meinen Bruder wiedersehen!
Ich werfe Grace den Kopf zurück. Sie sieht ihn nicht kommen, Howard prallt von ihrer Schulter ab und rollt über den Boden. Seine grauen Augen starren zur Decke und ich denke nur: Warum, zum Teufel, hat er einen Namen?
„Weshalb glauben alle, ich wäre jemand anderes? Ich bin nicht wie ihr, ich bin schlimmer! Ich bin Julie Mond und ich werde dir deinen faltigen Arsch aufreißen, Lady! Dort hinten liegt ein Mann in einer Box mit einem schönen Loch im Kopf. Peng, ein Schuss und er war tot. Sorry, jetzt habe ich die Überraschung versaut. Los, geh und überzeug dich selbst!“
Grace schaut auf den am Boden liegenden Kopf. Ihre Lippen sind nur noch ein dünner Strich und ich sehe, wie die Gedanken hinter ihrer Stirn arbeiten.
„Dumm gelaufen für dich, Grace.“ Ich blicke vom Kopf zur Lady.
„Poppy, geh und schau, ob Julie die Wahrheit sagt.“ Ihre Stimme ist leise. In ihren Worten liegt eine unterschwellige Drohung.
„Ich mag zwar kalte Augen haben, aber ich lüge nicht, Grace.“
Ich taste meine Hüfte ab und fühle die Taschenlampe unter meinem Hemd. Gerade als ich sie hervorziehen will, fällt ein Schuss. Endlich, Hank hat seinen Arsch hochbekommen!
„Hände hoch“, ruft er vom Heuboden und klingt wie aus einem alten Westernfilm. Pech für uns, denn das beeindruckt heutzutage niemanden mehr.
„Wir waren so nett zu dir, Julie. Wir haben uns bemüht und ich hatte gehofft, dass unsere Familie mit dir wachsen könnte.“ Sie kommt auf mich zu, bleibt aber mit kummervoller Miene vor Howard stehen. „Du musstest mir ja unbedingt ans Bein pissen. Jungs, hört auf zu spielen und helft eurer Mommy.“
„Sorry, Grace.“ Ich ziehe die Taschenlampe hervor, bereit, ihr damit den Schädel einzuschlagen. „Die Zeiten sind vorbei. Ich suche mir meine Familie selbst aus.“
Ein Schrei ertönt und Grace wirbelt herum. Ich nutze die Gelegenheit und ziehe der alten Lady die Taschenlampe über den Kopf. Es ist nicht die feine Art, jemanden k. o. zu schlagen, der einem den Rücken zukehrt, aber es ist einer weniger, der mir ans Bein pissen kann.
Für einen kurzen Moment habe ich die beiden Kerle vergessen, aber nur so lange, bis einer von ihnen auf mir liegt. Große, schmierige Hände greifen um meinen Hals und drücken zu. Da nützt die Taschenlampe auch nichts. Ich prügle auf Marty oder Nico ein – warum müssen die auch gleich beschissen aussehen – was ihn aber nicht daran hindert, noch fester zuzudrücken.
Ein Schuss ertönt und jemand schreit. Noch ein Schuss und ich höre jemanden fallen. Gott verdammt, es ist nicht mein Angreifer. Was ist nur mit Hank los? Wo liegen bei dem Mann bloß die Prioritäten?
Ich ächze und stöhne, prügle weiter auf ihn ein und reiße an seinen fettigen Haaren. Das Adrenalin pumpt durch meinen Körper, aber mit der fehlenden Luft verpufft meine Kraft und ich sehe leuchtende Sterne vor meinen Augen. Immerhin ist das Letzte, was ich sehe, nicht das hässliche Schweinsgesicht.
„Runter von ihr, Arschloch.“ Diese Stimme erkenne ich unter Millionen wieder. Jules!
Ein Stiefel trifft die Schläfe meines Angreifers und dieser sackt über mir zusammen.
Bäh, nicht schön, überhaupt nicht schön. Aber besser als zu sterben.
Hank und Jules rollen den bewusstlosen Körper von mir runter und ich bekomme endlich wieder Luft. Was würde ich bloß für eine heiße Dusche geben!
„Wie geht es dir?“, fragt Jules, während er mich aufrichtet.
Vor mir steht Bob mit einer blutspuckenden Poppy in seinen haarigen Armen. Grace liegt zu seinen Füßen. Sie ist noch immer bewusstlos.
„Ihr wollt mich wohl alle verarschen“, sage ich mit kratziger Stimme. „Habe ich euch bei einem Nickerchen gestört? Vielleicht ist es euch nicht aufgefallen, aber ich hatte hier echte Probleme!“
„Du hattest alles im Griff“, antwortet Jules und meint es tatsächlich ernst. „Wir haben auf den richtigen Moment gewartet.“
„Außerdem war es stellenweise recht amüsant“, brummt Bob und zwinkert mir zu. „Wir wussten, auf den roten Wüterich ist immer Verlass.“
„Wüterich?“, wiederhole ich fassungslos.
Neben der „rothaarigen Schlampe“ ist das mal ein origineller Spitzname für mich.
Jules klopft mir auf die Schulter. Blonde Strähnen verdecken seine blauen Augen. „Wir wussten, irgendwann schlägst du alles kurz und klein. Du bist eben leicht zu reizen.“
Ich fühle einen Stich in meiner Brust und unterdrücke die Tränen, die in meiner Kehle aufsteigen. Ich habe um das Leben der Gruppe gekämpft, für mein eigenes Leben, und für die beiden war es nur ein erheiterndes Theaterstück?
„Komm, ich helfe dir auf.“ Hank bietet mir seinen Arm an, doch ich lehne ab. Mit Mühe schaffe ich es selbst auf die Beine, taumle von einem Fuß auf den anderen und werde von Hank aufgefangen.
„Es war ein harter Tag“, sagt er und ich nicke. „Was ist das eigentlich für ein Ding?“
Hank zeigt auf den Kopf und ich antworte: „Das ist kein Ding. Das ist Howard und nein, mehr weiß ich nicht darüber und will ich auch nicht wissen. Ich will die ganze Scheiße schnell vergessen.“
Mein Gott, die Welt ist voller Monster und alle sehen aus wie Menschen. Egal, ob lebend oder untot.