Читать книгу Julie's Monsters - Susanne Sievert - Страница 6

Waffenstillstand

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Heute ist der sechste Tag, die Fahrt geht weiter, und wir haben kein Wasser mehr. Judith öffnet unsere letzten Konserven und sammelt die Flüssigkeit in einer Literflasche. Ein trübes Gemisch aus Pfirsichsaft, Gurken- und Wurstwasser.

Welch Delikatesse!

„Das ist absolut widerlich“, murrt Rob und mein Magen verkrampft sich.

Es gibt Momente, da vergesse ich, dass er mit an Bord ist. Ich blende ihn aus, wie alles, was mir nicht passt. Das betrifft momentan jeden Einzelnen aus der Gruppe. Die Enge macht mir zu schaffen und auch die Gewissheit, dass kein Weg aus diesem Boot führt. Wir sind gefangen und gehen uns alle gegenseitig auf die Nerven. Es ist schrecklich. Ich bin nie alleine, ständig glotzt jemand in meine Richtung, starrt mich an, will mit mir sprechen. Ich weiß nicht, wie lange ich das durchstehe. Für jemanden wie mich, der Menschen meidet und Nähe nicht ertragen kann, ist diese Situation die absolute Hölle.

„Solange du nicht deine eigene Pisse trinken musst, ist doch alles in Ordnung“, behauptet Bob und ich höre Jules’ unterdrücktes Lachen.

Mein Bruder sitzt links von mir. Er weicht nicht von meiner Seite. Wo sollte er auch hingehen? Um uns herum gibt es nur Wasser und Tod. Er spürt, dass es mir immer schlechter geht, und versucht hin und wieder, mich aufzumuntern.

„Wir schaffen es. Du wirst sehen“, verspricht er.

Lächerlich, als könnte mich das aufmuntern. Sein Optimismus bleibt ungebrochen und ich frage mich, wo er das wohl herhat. Es fällt mir schwer, ihm zu glauben, aber ich muss es versuchen und mich an den kleinen Funken Hoffnung klammern, den er mir anbietet.

Von der Situation und mir selbst genervt starre ich auf Olivias Hinterkopf.

Natürlich bin ich erleichtert, dass wir Olivia retten konnten, doch ich erinnere mich nicht gerne an den Tag zurück. Damals habe ich eine Grenze überschritten und einen Menschen umgebracht. Einen Zombie zu töten ist das eine, aber einen Menschen? Dabei hatte ich die Wahl. Sie hätte nicht sterben müssen. Statt Shirley zu retten, ließ ich ihre Hand los und warf sie den Zombies zum Fraß vor. Und all das nur, weil sie mich belogen hatte.

Sie hatte sich als Tante von Olivia ausgegeben und nicht als ihre Mutter. Sie hatte ihr Kind ganze fünf Tage sich selbst überlassen. Schlimmer noch: Olivia hatte die Anfänge der Apokalypse alleine bewältigen müssen, in einem Haus, in dem sich ihre richtige Tante bereits verwandelt hatte. Sicher, ich bin keine Expertin für Familienangelegenheiten, aber eine Mutter sollte sich vor und nicht hinter das eigene Kind stellen.

Also habe ich die Grenze der Menschlichkeit überschritten. Wie viele werden es ebenfalls tun? Das Schlimmste ist, dass niemand weiß, wo die Grenze in dieser neuen Welt verläuft. Alles ist möglich.

Wenn ich bei solchen Gedanken Rob betrachte, wird mir übel.

Mir entgehen nicht die Blicke, mit denen er Olivia mustert. Es sind dieselben, mit denen er damals Jules und mich begutachtet hatte. Es blieb nie beim Anschauen.

Mit einem grummelnden Magen drehe ich mich von den anderen weg und lasse meine Hand durchs Wasser gleiten, bevor mein Verstand zerspringt.

Bob, Hank, Rob und Judith kämpfen sich weiter paddelnd an der Küste entlang, aber ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Das Vorankommen ist ein einziger Krampf, mühselig, langsam und ein Ende ist nicht in Sicht.

Was wir hier machen, ist sinnlos!

Ich bin so müde, dass mir alles egal ist. Wir suchen seit sechs Tagen eine Gelegenheit, an Land zu kommen, aber die Untoten sind einfach überall und so zahlreich, dass ein Durchkommen unmöglich erscheint. Entweder werden wir gebissen oder brechen uns beim Besteigen der Klippen alle Knochen. Beides keine guten Aussichten.

Jules’ Atem kitzelt mein Ohr. Wir liegen Kopf an Kopf und starren auf das Wasser. Auf dem Boot gibt es keine Privatsphäre und wenn wir ungestört reden wollen, rücken wir dicht zusammen und flüstern uns unsere Gedanken zu.

„Was ist los?“, fragt er leise. „Du sagst seit Tagen kein Wort.“

Ist das ein Wunder? Ist dir entgangen, in was für einer beschissenen Situation wir stecken?, möchte ich gerne brüllen, aber ich bleibe still.

Stattdessen antworte ich: „Sobald ich meine eigene Pisse trinken muss, knalle ich hier jemanden ab.“

„Das ist dein Problem? Du Glückliche“, er kratzt sich am Hintern und seufzt. „Was gäbe ich nur für eine Toilette. Ich habe es satt, meinen Arsch aus dem Boot zu strecken. Das ist nicht so einfach, wie es aussieht. Man muss die Balance halten, den Wind berechnen und …“

„Schon gut“, flüstere ich und schüttle mühevoll meinen Ekel ab. Natürlich sehe ich sofort die Bilder vor mir, wie wir mit ausgestreckten Ärschen unsere Notdurft verrichten.

Es gibt Schlimmeres, rede ich mir ein, aber das Gefühl der Demütigung bleibt. Die Gerüche von Scheiße und Kotze werden nur noch vom Verwesungsgeruch der Untoten übertroffen. Meine Kopfhaut juckt unangenehm.

Großartig, ich habe bestimmt Läuse. Wir haben bestimmt alle Läuse. Widerlich! Bei dem Gedanken wachsen mir direkt drei neue Herpesbläschen.

„Du amüsierst dich prächtig, nicht wahr?“ Meine Laune wird immer schlechter und ein Knoten bildet sich in meiner Brust.

„Es gibt Schlimmeres, Julie, als den Hintern an die frische Luft zu halten“, ist seine Antwort und damit hat er recht, wobei ich das nicht gern zugebe.

Das Wasser an meiner Hand fühlt sich gut an. Es ist eisig und nach kurzer Zeit fängt meine Haut an zu prickeln. Ich bin am Leben, sogar zusammen mit meinem Bruder, dessen Fürsorge ich gar nicht verdient habe.

„Ey, ihr da hinten!“, höre ich Bobby brüllen. Er hat seit zwei Tagen keinen Rum getrunken und nüchtern betrachtet, ist unsere Lage nur halb so lustig. „Das hier ist kein Urlaub und keine beschissene Kaffeefahrt. Aufwachen! Bewegt eure faulen Ärsche und paddelt, sonst mache ich euch Beine! Faules Pack. Immer wieder die Geschwister Mond ...“ Die letzten Worte grummelt er vor sich hin, aber wir haben sie trotzdem gehört und wissen, was zwischen den Zeilen steht.

Ich will euch in Sicherheit bringen.

Bobby Bear, wie Jules und ich ihn nennen dürfen, ist kein flauschiges Kuscheltier. Ich habe ihn als einen groben, rauen und unbarmherzigen Menschen kennengelernt, der für Geld und Ehre gerne den Abzug seiner Schrotflinte betätigt. Er war der Besitzer einer Bar, in der sich ganz Cherryhill versammelte. Seine Huren lagen ihm zu Füßen, Drogen und Alkohol füllten seine Kasse und obwohl alle Welt ihn für einen schlechten Menschen hielt, rettete er uns das Leben. Bobby Bear, ein schlechter Mensch mit guten Absichten.

„Ich will nicht mehr.“ Ich spreche meinen Gedanken laut aus und öffne damit eine Tür, die besser verschlossen geblieben wäre.

Ich will stark sein, das Paddel in die Hand nehmen und Bobby stolz machen. Aber ich kann es nicht. Die Nähe der anderen erdrückt mich und ich würde lieber über Bord springen, als noch einen einzigen Tag auf diesem schwankenden Boot verbringen zu müssen.

Mein Herz schlägt schneller und schmerzt in meiner Brust.

Oh nein, hör auf. Hör auf! Ich muss hier weg!, denke ich und weiß doch, dass es keinen Ausweg gibt.

Panik schnürt meinen Hals zu und wie in meinen Träumen spüre ich plötzlich raue Hände über meinen Körper gleiten. Sie quetschen meine Brüste zusammen und der Geruch von Schweiß und Zigarettenrauch liegt in der Luft.

Ich schaue auf mein Hemd und sehe nichts, aber sie sind da. Sie sind da! Schnaufend fasse ich mir an den Kopf und reiße mir ein paar meiner verfilzten Haarsträhnen aus. Sechs Tage lang habe ich mit meinen Albträumen gerungen und nur Jules ist es zu verdanken, dass ich nicht komplett irre geworden bin, doch seine Nähe reicht nicht mehr aus. Mit den ausgesprochenen Worten gewinnen meine Ängste die Oberhand und rütteln mich durch, als stünde ich inmitten eines Orkans.

„Hey, Julie, ruhig.“ Jules hält meine Hände fest und sucht meinen Blick. Ich schaue an ihm vorbei, spüre die Blicke der anderen, aber keiner von ihnen sagt etwas. Ich höre nur Jules’ Stimme.

„Ich helfe dir“, sagt er und flüstert in mein Ohr: „Wenn einer von uns schwach ist, stützt ihn der andere. So war es und wird es immer sein.“

„Du verstehst mich nicht“, erwidere ich und unterdrücke die Tränen. „Ich werde hier sterben.“

„Nein, das wirst du nicht.“ Jules lässt meine Hände los und umfasst stattdessen mein Gesicht. „Das lasse ich nicht zu.“

„Dann hilf mir“, fordere ich ihn heraus. „Bring mich hier weg. Ich halte es nicht mehr aus. Ich halte ihn nicht mehr aus.“

Der letzte Satz ist nur noch ein Flüstern. Jules versteht mich und im selben Moment frage ich mich, warum ihn keine Albträume plagen. Ja, warum wacht er nicht schreiend auf? Und warum habe ich das Gefühl, dass diese Fahrt für ihn ein riesengroßer Spaß ist? Dann bemerke ich seinen zitternden linken Arm und schäme mich. Rein gar nichts ist an ihm vorbeigegangen. Die Misshandlungen unserer Eltern haben auch bei ihm tiefe Spuren hinterlassen.

„Ich bin schon lange dafür, dass wir an Land gehen. Das ist doch auch mal der Plan gewesen, oder etwa nicht? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir uns alle die Köpfe einschlagen. Irgendwann müssen wir es versuchen und außerdem gab es genug Gelegenheiten, hätte nicht jemand hier die Hosen voll“, mischt sich Judith in unser Gespräch ein.

Sie richtet ihren Blick auf Rob, der völlig außer Atem das Paddel sinken lässt.

„Das sehe ich genauso“, stimmt Jules zu. „Wir brauchen neue Vorräte und von diesem Konservenfraß bekomme ich Durchfall. Wie lange sollen wir unsere Hintern noch in den Wind halten?“

Bobby fängt laut an zu lachen, aber Rob findet den Witz überhaupt nicht lustig. Sein Blick verrät mir, dass er anderer Meinung ist. Das ist ja was ganz Neues.

„Es ist zu gefährlich. Die Untoten sind überall“, brummt er unzufrieden. „Ich finde, wir sollten nicht einfach irgendwo halten, sondern den nächsten Hafen ansteuern. Benutzt doch mal euren Verstand! Das ist doch nicht zu viel verlangt.“

Eine ganze Gruppe auf einem kleinen Boot zu beleidigen, ist entweder mutig oder sehr dumm. Da es sich um Rob handelt, brauche ich nicht lange zu überlegen.

„Den nächsten Hafen ansteuern? Am Arsch! Das kann noch Tage dauern.“ Bob zwinkert mir zu und ich fühle mich ein bisschen besser. Es bedeutet mir viel, dass er auf meiner Seite steht, denn dann kann uns nichts aufhalten. „Ich bin einem kleinen Zwischenstopp nicht abgeneigt. Mein Rum ist leer und ich brauche was zur Aufmunterung. Deine Fresse ist auf Dauer nämlich schwer zu ertragen, weißt du?“

Die herzlichen Worte sind an Rob gerichtet, der sich wie ein Hahn aufplustert und zu einer Antwort ansetzt. Bevor er loslegen kann, kommt Hank ihm zuvor: „Wagen wir es. Warum auch nicht? Wir haben Waffen und die sollten wir benutzen. Ich bin mir absolut sicher, dass es irgendwo eine Auffangstation gibt, in der wir in Sicherheit sind. Es muss sie einfach geben! Wir können doch nicht die einzigen Überlebenden sein. Je länger wir auf diesem Boot bleiben, desto kleiner werden unsere Überlebenschancen. Denkt doch mal nach! Lasst den ersten Sturm kommen und wir sind Geschichte. Sechs Tage lang hatten wir Glück, das sollten wir nicht weiter strapazieren. Unsere Vorräte wachsen nicht von allein und ich habe es so satt, gegen den Wind zu pissen. Also“, er deutet auf mich, „Julie hat mehr Mut als Verstand. Schon diese Tatsache wird uns weit bringen. Ich spreche auch für Judith und Olivia, wenn ich sage, dass wir ohne sie nicht so weit gekommen wären. Und dank Jules sind wir überhaupt alle hier. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr auf diesem Gummiboot sterben wollt, wenn es noch andere Alternativen gibt.“

Der gute, alte Hanky Boy. Pragmatisch, realistisch und um keine Ansprache verlegen. Ich nicke ihm zu und er akzeptiert meine Geste mit einem dünnen Lächeln. Es ist kaum zu übersehen, wie schlecht es ihm geht. Als ich Hank kennenlernte, war er ein drahtiger, großer Mistkerl, der seine Freundin Ruby liebend gern herumkommandierte und jede Auseinandersetzung mit mir begrüßte. Heute, nachdem wir Ruby an die Untoten verloren haben und zusammen dem Tode nahe durch den Atlantik geschwommen sind, sind wir Freunde und respektieren uns.

Mir fällt auf, dass er abgenommen hat. Seine Haut ist grau, tiefe Schatten liegen unter seinen schmalen Augen und ihn umgibt eine Trauer, die mir Gänsehaut bereitet. Hank hat nicht die Hoffnung verloren, das ist nicht das Problem, aber alles andere hat er verloren. Alles, was er mal geliebt hat, ist weg, und nun will er den kläglichen Rest dessen geben, was er noch besitzt.

„Dann ist die Sache wohl klar“, sagt Jules und zeigt auf das Ufer. „Die nächste Anlegestelle gehört uns.“

„Das ist doch Wahnsinn!“, brüllt Rob und steht abrupt auf.

Das Boot schwankt und Olivia schreit überrascht auf. Sie ist die ganze Zeit so still gewesen, dass ihr Aufschrei uns allen einen Schrecken einjagt. Judith hält das Mädchen fest und wirft Rob einen bösen Blick zu, den er überhaupt nicht bemerkt.

„Die Waffen, von denen Hank spricht, gehören immer noch mir und ohne mich gehen die nirgendwo hin. Ist das klar? Ohne mich keine Waffen. Basta!“

„Ich bin bereit, das zu ändern“, werfe ich ein und schaue erst zu Rob und dann auf den Atlantik.

Ich freue mich über den Anblick seiner blassen Gesichtsfarbe und möchte noch etwas hinzufügen, als Bob ruft: „Stimmen wir ab, wie erwachsene Menschen!“

Sofort schnellen sechs Hände in die Höhe. Die Aussicht auf eine rasche Entscheidung stimmt mich munter. Mittlerweile habe ich auch meine Gefühle wieder im Griff. Dass die gesamte Gruppe sich gegen Rob stellt, kann meine Laune nur verbessern.

Er ist sauer und wirft mir einen Blick zu, der mir früher Albträume bereitet hätte, aber heute lasse ich mich nicht mehr erschrecken. Es reicht, dass er in meinen Träumen sein Unwesen treibt.

„Leckt mich! Da mache ich nicht mit. Geht und lasst euch fressen. Von mir bekommt ihr nicht eine einzige Waffe.“ Während er spricht, wippt sein Bauch auf und ab.

„Bist du dir sicher?“, fragt Judith herausfordernd. „Was nützen dir deine Spielzeuge, wenn du alleine vor einer Horde stehst? Gar nichts, Rob. Die Zombies werden dich zerfetzen, noch ehe du eine Pistole in den Händen hältst. Wir kommen ohne dich klar, keine Frage, aber du wirst es keine drei Schritte ohne uns schaffen. Denk mal darüber nach.“

Damit hat sie verdammt recht, das muss Rob einsehen. In der Gruppe steht er alleine da und aus dieser misslichen Lage werden ihm auch keine Pistolen helfen. Brummend setzt er sich auf seinen Hintern und hält endlich die Klappe. Seine Niederlage fühlt sich großartig an.

„Die Fahrt kann weitergehen“, verkündet Jules und zwinkert Judith zu, die das Paddel in die Hand nimmt und ihm ein strahlendes Lächeln zuwirft.

Ich schaue von einem zum anderen und überlege, was das zu bedeuten hat. Es ist nur eine kleine Geste, ganz normal und ohne Hintergedanken. Warum fühle ich mich dabei so unwohl? Warum gefällt mir dieses Vertrauen nicht? Ich schüttle den Kopf.

Das ist doch Unsinn, Julie, sage ich mir. Ich bin völlig durch den Wind. Sobald ich an Land bin, wird es mir besser gehen. Ganz bestimmt.

Julie's Monsters

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