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Stille
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Tag 5
Anfänge sind schwierig, besonders für mich. Und dennoch führe ich immer wieder welche herbei, fange ich immer wieder neu an. Es ist wie ein innerer Druck, der sich erst löst, wenn ich alles abbreche und lautlos verschwinde. Ich halte es unter anderen Menschen einfach nicht lange aus. Alle paar Monate wechsle ich meine Arbeitsstelle und meinen Wohnsitz, wenn ich überhaupt eine Wohnung bezogen habe. Es ist mir ganz gleich, ob ich im Lager arbeite, Botengänge durchführe, Zeitungen verkaufe oder im Restaurant kellnere. Manchmal nehme ich drei oder vier Jobs gleichzeitig an, nur, um nicht zu viel freie Zeit zu haben. Natürlich benötige ich auch das Geld, aber bisher kam ich immer mit sehr wenig aus. So reiste ich mit einem Rucksack und wenigen Habseligkeiten rastlos von Stadt zu Stadt. Bisher. Denn dies hier ist der furchtbarste Anfang meines Lebens.
Der Wind streicht um meine nackten Beine und ich beginne zu frösteln. Es ist April und der Frühling kündigt sich mit lebendigen Farben an. Die Luft riecht nun frisch und blumig mit einem Hauch von Metall, die Sonne schaut hin und wieder hinter den Wolken hervor und taucht die Welt in ein helleres Licht. Mein Blick gleitet hinab von dem Dach, auf dem ich sitze, und ich lache bitter.
Sie stehen unten und starren mich mit blutunterlaufenen Augen an, hinter denen ich ihren unstillbaren Hunger erkennen kann. Hunger nach Tod – Hunger nach unserem Fleisch. Ich ziehe meine Beine enger an den Körper, aber es ist sinnlos. Die Kälte, die sich unter meine Haut gefressen hat, lässt sich nicht mehr vertreiben.
Heute ist der erste Tag, an dem es ganz still geworden ist. In den Tagen zuvor habe ich noch Sirenen, quietschende Autoreifen, splitterndes Glas und Schreie vernommen – entsetzliche Schreie von Frauen, Männern und Kindern, die ich niemals vergessen werde... Das Zerreißen von Haut, das Brechen von Knochen und das widerliche Schmatzen und Kauen auf menschlichen Muskeln. Wie ein Geist habe ich die schrecklichen Szenen vom Dach aus verfolgt, meine Hände gehoben und stundenlang nach Hilfe geschrien. Die Rettung erreichte uns nicht – sie erreichte niemanden in dieser Stadt. Rufe haben nur noch mehr von diesen Dingern angezogen.
Meine Gedanken werden von seltsam schmatzenden Geräuschen und leisem Stöhnen gestört. Die Welt befindet sich in einem entsetzlichen Albtraum. Es ist das Ende der Menschheit, das Ende der Menschlichkeit. Das Ende in den Köpfen der Überlebenden, doch nicht für mich. Für mich ist es ein weiterer Anfang, ein entsetzlicher Anfang.
Das Dach, auf dem ich sitze, gehört meinem neuen Boss Hendrik Jefferson. Er verkauft Musikinstrumente. Ich persönlich habe wenig Interesse an Musik, geschweige denn an Instrumenten.
Als ich noch ein Kind war, haben mich meine Eltern gezwungen, Blockflöte zu lernen. Mein Vater bestand auf Kultur, Kunst und Musik in unserem Haus. In mir schlummert kein musikalisches Talent, aber er sah das anders. Er sagte, Blockflöte könne doch jeder Idiot spielen und bestellte einen Musiklehrer, der mich jeden Tag unterrichtete. Ob ich es nun wollte oder nicht, ich musste auf dieser dämlichen Blockflöte spielen und am Ende stellte sich heraus, dass nicht nur ich ein Idiot war. Der Unterricht kostete einen Haufen Geld und meine Eltern drohten mir mit Strafen, wenn ich mich weigerte.
Eines Tages luden sie unsere Nachbarn ein. Sie waren nicht befreundet und ich nehme an, sie waren sich nicht einmal sympathisch, aber wenn man viel Geld auf dem Konto vorzuweisen hat, dann muss man gelegentlich seinen Reichtum mit anderen Menschen teilen, indem man den Luxus vorführt, in dem man lebt.
Meine Stunde hatte geschlagen. Eltern und Nachbarn saßen versammelt im Wohnzimmer und sahen erwartungsvoll zu mir auf. Ich, ein kleines rothaariges Mädchen mit Sommersprossen und krummer Nase, sollte ein klassisches Werk auf meiner Blockflöte vortragen. Ich spielte und flötete, wie es mir passte, kein Ton passte zum anderen und selbst als mein Vater wutentbrannt aufstand und mich aus dem Zimmer trug, spielte ich weiter meine Teufelsmusik.
Es gab neben dem üblichen Hausarrest, den ich nicht als Strafe betrachtete, da ich sowieso nicht unter Menschen sein wollte, auch einfallsreichere Repressalien: Unter anderem musste ich jeden Abend Blockflöte üben und bei jedem falschen Ton gab es einen Stich mit der heißen Nadel. Damit hatte ich mir selber keinen Gefallen getan, aber ich wusste, ich würde es jederzeit wieder genauso machen.
Mit erfundenen lustigen Details erzählte ich Mr. Jefferson meine ausgeschmückte Blockflötengeschichte und er lachte so herzlich und mit Tränen in den Augen, dass er mich einstellte. Er ist mal ein feiner Mann gewesen, stets in einem grauen Anzug mit weißem Hemd ohne eine einzige Falte und einer roten Krawatte, die ich ihm hin und wieder richtete.
Nun steht er unten und glotzt mich mit roten Augen an, öffnet gurgelnd seinen Mund und lässt seine Zunge raushängen wie ein hechelnder Hund. Speichel läuft seinen Mundwinkel hinab. Vor einigen Tagen haben wir zusammen zu Mittag gegessen – heute denkt er, ich werde seine nächste Mahlzeit. Der Anzug ist mit Blut besudelt und dicke blaue Adern pulsieren an seinem Hals. Das graue Haar steht zerzaust zu allen Seiten ab und würgend entdecke ich, dass die Hälfte seiner Schädeldecke fehlt. Armer Mr. Jefferson, sein Traum ist nun zu Ende geträumt und er gehört zu den seelenlosen Geschöpfen, die vom Hunger getrieben durch die Straßen ziehen.
Mit knackenden Gelenken erhebe ich mich aus dem Schatten und rutsche zu einem Stück vom Dach hinüber, das von der Sonne gewärmt wird. Seit fünf Tagen trage ich ein blau-violettes Paillettenkleid, das wie ein breiter Gürtel nur mein Hinterteil bedeckt und vorne viel zu weit ausgeschnitten ist. Meine Kleidung passt absolut nicht zum Weltuntergang, aber wie soll man sich auch darauf vorbereiten? Die Nacht traf uns alle wie eine Faust in den Magen, und alles, was wir tun konnten, war, um unser Leben zu rennen mit den Sachen, die wir am Leib trugen.
Auf meiner Flucht habe ich alles verloren. Meinen kostenfreien Drink, eine heiße Bekanntschaft auf der Tanzfläche und zu guter Letzt meine angetrunkene Heiterkeit.
„Hier bist du. Ich hab dich gesucht, Julie.“
In einer blutgetränkten Welt verlor ich alles und gewann unerwartet etwas viel Größeres.
Judith klettert die Feuerleiter hinauf und setzt sich ebenfalls in die Sonne. Ich habe sie vor fünf Tagen in der Bar getroffen, in der ich mich einfach nur betrinken wollte. Ich mache mir nie die Mühe, andere Menschen kennenzulernen, ihnen näherzukommen. Ich bin zufrieden, wenn ich mit mir selbst zurechtkomme, was selten genug der Fall ist. Selbst wenn ich einen Versuch starte, einen anderen Menschen kennenzulernen, so laufen meine Bemühungen immer wieder ins Leere.
Vor ein paar Jahren arbeitete ich als Nachtwächterin in einem Kaufhaus. Es gab nur einen weiteren Kollegen, mit dem ich versuchen musste, auszukommen. Wie war sein Name noch gleich? Terence? Spence? Spencer!
Er war ein netter, junger Mann mit tiefbraunen Augen und einem Lächeln, das ihn sehr interessant machte. Aus einer Laune heraus fasste ich den Entschluss, etwas zu riskieren. Warum auch nicht? Es gab womöglich Menschen, die der Mühe wert waren. Ich unterhielt mich mit ihm, erzählte ihm ein wenig von mir, aber am Ende blieb es immer nur bei einem höflichen „Hallo“ und „Schönen Feierabend“.
Mein Körper strahlt stets eine Warnung an alle Mitmenschen aus. Er sagt ihnen in roten Buchstaben: „Nicht anfassen! Verpiss dich!“
Bei Judith ist es anders. Sie pfeift auf alle Warnungen und durchdringt meine Schutzmauer, die ich jahrzehntelang vor mir her geschoben habe und von der ich selbst nicht wusste, ob ich sie je würde verlassen können.
Wir haben uns vor fünf Tagen vor der Bar gesehen und wussten sofort, dass unsere Leben auf merkwürdigste Weise miteinander verstrickt sind. Ich habe immer gehofft, dass ich mal jemanden finden würde, mit dem ich zusammensein will. Dass das nun eine Frau ist – nun gut, ich will mich in Angesicht des Weltuntergangs nicht beschweren. Ich fühle mich bei ihr wohl und das ist alles, was wichtig ist.
„Ich brauche eine Zigarette und einen Kaffee“, sagt sie trocken und blinzelt auf mein Dekolleté. Ihre braunen Augen werden von dichten schwarzen Wimpern umrahmt und betonen ihr schönes, weiches Gesicht und ihre vollen roten Lippen. Ihren runden Kopf trägt sie kahlrasiert und auf ihrem Hinterkopf schlängelt sich eine grüne Schlange ihren Nacken hinab. Judith ist ein Mensch, der das Leben so nimmt, wie es ist, und das gefällt mir.
Seufzend und mit rollenden Augen ziehe ich aus meinem Büstenhalter meine letzten beiden Zigaretten hervor und reiche ihr eine davon.
„Mit Kaffee kann ich nicht dienen, Lady Lockenlicht“, antworte ich grinsend und sehne mich selbst nach einer heißen Tasse.
„Wenn die herausfinden, dass wir hier oben entspannt eine Zigarette rauchen, sind wir so gut wie tot.“
Das sind wir ohnehin, denke ich, aber ich spreche es nicht aus.
Judith holt aus ihrer Weste ein Zippofeuerzeug und zündet erst mir, dann sich selbst die Zigarette an. Ich zucke gleichgültig mit den nackten Schultern und gönne mir demonstrativ einen langen Zug.
Mit die meint Judith unsere Gesellschaft im Verkaufsraum. Auf unserer Flucht haben wir noch drei weitere Menschen eingesammelt, die sich nun schon seit fünf Tagen heulend, schreiend und streitend unter uns befinden. Das ist der Grund, warum ich die meiste Zeit auf dem Dach sitze und die Zombies bei ihrem Treiben beobachte. Ja, die lebenden Toten sind das nackte Grauen – keine Frage – aber die Lebenden sind der Grund, warum ich mir Sorgen mache. Sie reden zu viel, sind rücksichtslos und stehen sich selbst am nächsten.
Unter Menschen fühle ich mich wie in einem vollen Bus, in dem mir unangenehme Gerüche entgegenschlagen und unabsichtliche Berührungen mich quälen. Die Alten stehen und schaukeln in jeder Kurve verdächtig hin und her. Die jungen Leute sitzen hingegen auf ihrem Arsch, vergraben ihre Gesichter hinter Smartphones und lesen Nachrichten, die kein Schwein interessieren. Ganz nah aneinander gequetscht, geben sie mir das Gefühl, dass ich ihnen den Lebensraum raube. Körperkontakt ist einfach ein Albtraum!
Ihre Stimmen machen mich wahnsinnig und hier auf dem Dach finde ich Gelegenheit, um nachzudenken.
Als hätte Judith meine Gedanken erraten, fragt sie: „Du hast einen Plan, nicht wahr? Früher oder später müssen wir aus unserer Deckung raus. Die Vorräte von deinem Boss sind fast aufgebraucht. Irgendetwas müssen wir uns einfallen lassen.“
Die Vorräte von Mr. Jefferson bestehen aus Schokolade, Chips und Cola, die wir in seinem Büro gefunden haben. Außerdem noch Kekse, ein alter, trockener Kuchen von seiner letzten Geburtstagsfeier und Trockenfleisch, das er zu jeder Gelegenheit wie Tabak kaute. Das Zeug stinkt erbärmlich und schmeckt genauso grausig, aber es stillt den Hunger. Alle haben den gleichen Anteil erhalten. Möglicherweise können wir noch drei oder vier Tage ausharren, aber was passiert dann?
„Wir müssen weg von hier.“ Bedächtig ruht ihre Hand auf meinem Unterarm. Jeden anderen hätte ich zum Teufel gejagt, aber nicht Judith. Sie ist so ehrlich zu mir, wie ich es verdiene.
„Was veranlasst dich, zu glauben, dass ich einen Plan hätte? Unter uns bin ich die Einzige, die im Leben noch nie einen Plan gehabt hat.“
„Schätzchen, ich sehe doch, wie es hinter deiner Stirn arbeitet.“ Mit ihrem schwarz lackierten Nagel tippt Judith sich gegen die eigene Stirn und bläst den Zigarettenrauch aus. „Du hast einen Plan. Seit fünf Tagen finde ich dich hier auf dem Dach, während du in aller Ruhe den Toten beim Fressen zuschaust. Wer solch eine Ruhe besitzt, hat im Leben schon Schlimmeres ertragen. Schau mich nicht mit so großen Augen an. Glaubst du, in meiner Zeit als Barkeeperin habe ich gar nichts über Menschen gelernt? Du sagst, du hast keinen Plan? Dass ich nicht lache. Du hattest bereits einen, als wir vor fünf Tagen schreiend aus der Bar gerannt sind. Menschen wie du haben immer einen Einfall, denn wie sollen sie sonst mit ihren Dämonen leben?“
Menschen wie ich ... Was zum Teufel redet sie für einen Unsinn? Es stimmt, ein paar Abschnitte in meinem Leben waren der Horror, aber machen mich die Erfahrungen jetzt zu einer wandelnden Toten? Zu einer von denen dort unten?
„Ich kann Cherryhill nicht ausstehen“, antworte ich und mit Judiths Lachen verraucht meine Wut auf ihre Ehrlichkeit. Jedes Wort von ihr trifft mich wie eine heiße Nadel und ich streiche unbewusst über meine Arme, auf denen meine Mutter ihre Spuren hinterlassen hat.
„Erzähl mir, wie du den Weg nach Cherryhill gefunden hast.“
„Das habe ich dir doch schon erzählt.“
Auf einmal fühle ich mich sehr unwohl, was in Anbetracht der Geschehnisse kein Wunder ist. Ich rutsche ein Stück von Judith weg, ihre Nähe fühlt sich nicht länger gut an. Meine Kehle schnürt sich zu und als Judith ihren Arm um mich legt und „Nun komm schon“ sagt, sehe ich nur, wie sich ihre roten Lippen öffnen und schließen.
Judith bemerkt meine Starre und weicht zurück. Sie sagt kein Wort. In ihren Augen kann ich es sehen: Sie versteht mich und das bringt mich wieder ein Stück näher zu ihr.
„Dafür haben wir keine Zeit.“ Meine Ausrede klingt hohl.
„Schätzchen, ich weiß ja nicht, ob es an dir vorübergegangen ist, aber die Zeit, wie wir sie kennen, ist abgelaufen.“