Читать книгу Home sweet Julie - Susanne Sievert - Страница 7

Das Kleid

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Das Haar klebt in meinem Gesicht, als ich mit geschwollenen Augen erwache. Das Handtuch ist heruntergerutscht und ich liege nackt und frierend im Bett. Es ist niemand im Haus und doch fühle ich mich beobachtet.

In den wenigen Stunden, in denen ich hier bin, habe ich so viele Regeln gebrochen, dass ich das wütende Kratzen aus den Särgen meiner Eltern regelrecht hören kann. Dabei fühle ich mich absolut großartig. Ich bin mit staubigen Schuhen über den frisch gewischten Boden gelaufen, habe den Schrank meines Vaters eingeschlagen, seinen Alkohol gestohlen und nach einer ausgiebigen heißen Dusche eine Zigarette im Bad genossen. Das größte Vergehen war allerdings mein kleines Schläfchen im Bett meiner Eltern, zwischen weißen Kissen und Decken mit dem Duft der Vergangenheit in der Nase.

Ich habe auf jede Regel gespuckt, warum also nicht noch einen Schritt weitergehen? Heute ist ein besonderer Tag für mich. Es gibt etwas zu Feiern und das sollte Grund genug sein, mich aus dem Kleiderschrank meiner Mutter zu bedienen.

Ich setze mich langsam auf. Meine Schultern sind ganz verkrampft und als ich einen Fuß auf den Boden setze, spüre ich erneut einen Schmerz und erinnere mich an die Glasscherben auf den Boden.

Vielen Dank, Jules ...

Auf dem weißen Laken sehe ich überall Blut. Das Bett ist ruiniert, so viel steht fest. Aber ein gutes Gefühl sagt mir, dass ich keine Strafe zu erwarten habe.

Humpelnd gehe ich zum Kleiderschrank und schiebe langsam die Tür zur Seite. Ich bin auf der Suche nach einem ganz bestimmten Kleid und als ich all die teuren Designerstücke beiseiteschiebe, entdecke ich den Traum eines kleinen Mädchens auf einem Kleiderbügel.

Freudestrahlend nehme ich das blau-violett glänzende Paillettenkleid aus dem Schrank und starre es ehrfürchtig an. Ich kann nicht glauben, dass ich es tatsächlich in den Händen halte. Meine Mutter trug es nicht oft, aber wenn sie sich für dieses Kleid entschieden hatte, steckte ein ganz anderer Mensch darin. Als kleines Mädchen glaubte ich, dass ein Zauber auf diesem Kleid lag. Es musste von einer anderen Welt stammen, denn immer, wenn meine Mutter es trug, dann lachte sie laut, erlaubte Jules und mir, im Wohnzimmer fernzusehen, wir durften lange aufbleiben und sie kochte uns singend etwas zu essen. Mein Vater ließ sich von ihrer Laune anstecken und in diesen Momenten waren wir die Familie, die wir allen Menschen vorspielten. Ich muss dieses Kleid einfach anziehen.

Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich noch ausreichend Zeit habe. Ich suche mir passende Schuhe aus und die Wahl fällt mir nicht leicht.

Ich humpele ins Badezimmer, denn irgendwas muss ich mit den Schnittwunden an der Fußsohle anstellen. Die schönsten Schuhe nützen mir nichts, wenn ich nicht darin laufen kann. Zum Glück finde ich im Badezimmer einen Erste-Hilfe-Kasten und verbinde meine Wunde, so gut es geht. Ich streife mir das Kleid über den Kopf und bin erstaunt, wie gut es mir passt. Es ist viel zu tief ausgeschnitten und mein Hintern ist gerade so vom glatten, kalten Stoff bedeckt, aber ich fühle mich zum ersten Mal schön und bereit für eine Partynacht. Normalerweise mache ich alles, um nicht aufzufallen, aber in Cherryhill hält mich nach dieser Nacht nichts mehr und so werde ich den Bewohnern eine Gelegenheit bieten, sich das Maul über mich zu zerreißen.

Ich lege so lange Make-up auf, bis ich mit der Person im Spiegel nichts mehr gemeinsam habe und benutze zu guter Letzt Mutters teures Parfüm. Fertig.

„Happy Birthday to me“, murmle ich.

Vorsichtig gehe ich die Stufen hinunter. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so hohe Schuhe getragen zu haben, und möchte mir in diesem Haus nicht die Beine brechen. Hier sterbe ich ganz sicher nicht! Ich habe all die Jahre überlebt, da werden Schuhe mich nicht umbringen. Doch es würde mich nicht wundern, wenn genau heute die Welt untergeht. Der Gedanke bringt mich zum Lachen und ich sammle Geld, Ausweis und das Handy aus meinem Rucksack. Außerdem nehme ich noch eine Sonnenbrille und Schlüssel mit und werfe mir eine Jacke über.

Es ist erst Nachmittag und zu früh für einen Besuch in der Kneipe. Im Zentrum von Cherryhill gibt es nur verschiedene Drugstores, ein Ärztehaus, einen Spielplatz für Kinder und eine kleine Shoppingmall, aber an eine moderne Bar mit Musik und Tanz haben die Menschen hier nicht gedacht. Die Bewohner von Cherryhill betrinken sich im eigenen Heim hinter Schloss und Riegel und nur Gott weiß, was dahinter geschieht.

Seit zwei Wochen arbeite ich für Mr. Jefferson, dem Besitzer des einzigen Musikgeschäftes in Cherryhill. Er ist ein angenehmer Mensch – wortkarg und unauffällig. Wir verstehen uns blendend und ganz ohne Worte. Es ist seit langer Zeit der erste gute Job und ich überrasche mich selbst, als ich den Gedanken fasse, Mr. Jefferson zu besuchen und einen Kaffee vorbeizubringen. An diesem besonderen Tag hat er mir frei gegeben, ohne dass ich darum gebeten habe. Er bezahlt nicht viel, aber von dem Geld kann ich das Hostel bezahlen, in dem ich außerhalb von Cherryhill übernachte und mich überwiegend aufhalte. Ich teile mir ein kleines Zimmer mit drei weiteren Menschen, deren Namen mich nicht interessieren.

Als ich vom Tod unserer Eltern erfuhr, packte ich sofort meine Sachen, kaufte mir ein Ticket und fuhr in Richtung meiner alten Heimat, um mich selbst von ihrem Tod zu überzeugen. Der Gedanke war einfach zu unglaublich. Ungefähr zwei Stunden vor der Ankunft trat der Schaffner in mein Abteil und fordertet das Ticket.

„Sie wollen nach Cherryhill? Ein wirklich sehr schönes Städtchen.“

Er stempelte mein Ticket ab und als er das Abteil wieder verließ, griff ich mit trockener Kehle und einem gefrorenen Lächeln im Gesicht nach meinem Rucksack und stieg Hals über Kopf an der nächsten Haltestelle aus. Dort suchte ich mir eine Bleibe und blieb drei Tage auf dem Zimmer, ohne es zu verlassen. Ich trank und weinte, fluchte und trank noch mehr. Verdammt, ich trank so viel, dass ich nachts in meine eigene Hose pisste, ohne es zu bemerken. Ab dem Moment hörte ich auf zu weinen.

Es ist kein Traum. Meine Eltern sind tot. Der Albraum ist zu Ende, aber die Angst ist noch immer da, wie ein Schatten an der Wand, und ich fühle die kalten Hände an meinem Körper zerren.

Der Notar bestätigte mir ein paar Tage später ihren Tod und überreichte mir das Erbe in Form eines Schlüssels. Ich war für diesen Termin nach Cherryhill gereist und traf bei der Gelegenheit Mr. Jefferson in einem Café. Völlig kopflos und mit einem Schlüssel in der Tasche, der wie eine Gefängniskette an mir hing, stieß ich auf meiner endlosen Flucht mit ihm zusammen und verschüttete den heißen Kaffee über sein weißes Hemd. Er kannte mich nicht und ich kannte ihn nicht, eine Seltenheit in Cherryhill und ein Glück für mich, dass er mir seine Visitenkarte überreichte und mich zu einem Vorstellungsgespräch einlud, statt mein Scheckbuch zu fordern. Denn zu diesem Zeitpunkt war ich, wie so oft, pleite.

Ja, ein Becher Kaffee ist eine sehr gute Idee.

Home sweet Julie

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