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Doris

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Für April ist es erstaunlich warm, aber ich lege die Jacke trotzdem über meine Schultern. Ich lasse die Tür ins Schloss fallen, setze die Sonnenbrille auf und verstaue Ausweis, Geld und Zigaretten im BH. Diese drei Dinge trage ich gerne direkt am Körper. Danach greife ich nach meinem Handy, um ein Taxi zu rufen.

In jeder neuen Stadt ändere ich zunächst meine Telefonnummer. Es ist mit der Zeit zu einer lästigen Angewohnheit geworden und ich verwische Spuren, wo gar keine zu finden sind. Abgesehen davon besitzt niemand meine Nummer und es interessiert sich auch niemand dafür. Selbst Jules kennt sie nicht, so wie ich seine nicht kenne, und dennoch erhalte ich in jeder neuen Stadt einen kurzen Anruf von ihm. Wie er das anstellt, ist für mich unbegreiflich, aber ich bin glücklich, dass ich ihm in den fünf Jahren, die wir getrennt sind, noch so wichtig bin. In Cherryhill blieb sein Anruf bis jetzt aus. Womöglich aus gutem Grund. Er hat die Nummer mit Sicherheit bereits vor sich liegen, daran zweifele ich keinen Augenblick. Der Tod unserer Eltern steht zwischen uns und wir wissen beide nicht, was wir damit anfangen sollen. Was wir mit uns anfangen sollen.

Mit langsamen, wackligen Schritten stolziere ich die Stufen hinunter und halte mich am Geländer fest. Wie lächerlich ich aussehen muss, aber auch wie umwerfend in diesen Schuhen. Die Schnittwunden machen sich mit einem leichten Stechen bemerkbar, aber der Alkohol hat den Schmerz bereits gut betäubt. So lässt sich Cherryhill ertragen.

Als ich am Tor angekommen bin, halte ich kurz inne. Mir wird kalt und ein Schauder schüttelt meinen Körper. Es ist nicht der Wind, der mir Sorgen bereitet, sondern eine dunkle Vorahnung, dass etwas Furchtbares passieren wird. Es ist dasselbe Gefühl wie damals im Schrank unter der Treppe. Ich möchte mich nicht erinnern, doch es ist zwecklos. Eine längst verschlossene Tür wird wieder geöffnet ...

Er stieg mit schweren Stiefeln die Stufen hinab. Ich spürte, wie die Dunkelheit sich dick und klebrig in meinem Mund ausbreitete und den Schrei in der Kehle erstickte. Dann sah ich das stumme Lächeln aus dem Schatten hervortreten, hinter dem er sich mit glänzender Schnalle verbarg.

Es ist kein gutes Gefühl.

Ich blicke mich um und achte auf jedes Geräusch. Aber alles, was ich hören kann, sind der vertraute Klang der Bäume und die Stille, die dieses Haus umgibt. Erdrückende Stille.

Seufzend schüttle ich den Kopf und wähle die Nummer des Taxiunternehmens. Diese Stadt macht mich verrückt. Es war ein Fehler, zurückzukehren.

Ich halte das Handy an mein Ohr, höre ein oder zwei Freizeichen und bemerke im selben Moment einen Schatten an mir vorbeiziehen. Etwas Schweres trifft meinen Arm mit solcher Wucht, dass ich die Welt von unten sehe. Ich versuche, sofort aufzustehen, und nach meinem Handy zu greifen, doch etwas drückt meinen Kopf auf den Kies und vor Erstaunen kann ich nicht einmal schreien.

Was ist das? Was sind das für seltsam hohe Absätze? Woher kenne ich diese Schuhe? Sind das orthopädische Schuhe? Ist das dein Ernst, Arschloch?

Verzweifelt versuche ich, mich hochzustemmen, und zapple mit den Beinen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Der Kies kratzt und schabt auf meiner Haut, ich schmecke Blut. Das Wort Hilfe liegt in meinem Mund, doch ich kann nicht schreien, und hechle um mein Leben. Seltsam, dass es mir nach all der Zeit so wichtig ist.

Mein Gott, will mich der Teufel mit den Gesundheitsschuhen zu Brei stampfen?

In meinem Kopf explodieren tausend grelle Farben.

Von einem Moment auf den nächsten bin ich wieder frei und setze mich so schnell auf, dass mir schwindelig wird. Ich keuche und schwitze und endlich findet der Schrei den Weg aus meinem Mund. Ich schreie, so laut ich kann, in der Hoffnung, den Angreifer zu vertreiben. Wer auch immer mich angegriffen hat.

Als wäre meine Stimme eine Waffe, drehe ich mich kreischend herum und entdecke sie zusammengekauert zwischen zwei Büschen an unserem Gartentor. Ich verstumme sofort. Meine Kehle ist trocken und ich brauche drei Anläufe, um mit heiserer Stimme zu fragen. „Doris?“

Es ist Doris. Wie kann das sein? Solange ich mich erinnern kann, ist sie alt und gebrechlich gewesen. Doris besuchte uns einmal im Monat, blieb auf eine Tasse Kaffee und kaufte meiner Mutter eines ihrer langweiligen Bilder ab. Meine Mutter sagte damals, sie wäre eine alte Vettel und wüsste nichts mit ihrem geerbten Geld anzufangen. Aber Jules und ich wussten es besser. Doris brachte uns heimlich Schokolade, Kekse und Bonbons mit. Einmal schenkte sie uns sogar zwei Stück Kuchen, die sie liebevoll in einer Serviette mit Katzenmotiven eingewickelt hatte. Ihr freundliches Lächeln gab uns zu verstehen: Ich finde Blumen ganz in Ordnung, aber ich liebe Katzen.

Ich greife langsam nach dem Handy und lasse Doris keine Sekunde aus den Augen. Ihr Kopf schaukelt schlaff auf der Schulter. Sie hat die Knie eng an den Körper gezogen und mit ihren Armen hält sie die Beine umschlungen. Nichts deutet darauf hin, dass sie meine Angreiferin gewesen sein könnte, doch in ihren hellen blauen Augen erkenne ich die Stärke und spüre erneut diesen Schauer. Sie starrt aus ihrem runzeligen Gesicht zu mir herauf, bereit, es noch einmal zu versuchen. Aber warum? Woher nimmt sie bloß diese Kraft? Irgendetwas stimmt mit ihr ganz und gar nicht.

Ich mache das Erste, was mir einfällt. Ich rufe einen Krankenwagen.

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